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Altneuland:
Theodor Herzls Städtebauvisionen für Erez Israel

Ines SONDER

Einer der bekanntesten europäischen Journalisten seiner Zeit, der Franzose Albert Londres (1884-1932), hatte, drei Jahre vor seinem Tod, in seinem Roman „Ahasver ist angekommen" über Herzls Stadtvisionen notiert:

Herzl, der Prophet der Boulevards [...] hatte in einem seiner Träume die erste jüdische Stadt gesehen, wie sie sanft von den Ufern des Mittelmeeres aufsteigt und den Blick trifft wie ein Hügel im Frühling. Tel Aviv, der Frühlingshügel [...].1

Tel Aviv: Lustig & Rosenthal Haus, 3 Ben Ami Street (1936) Architekt: Mordechai Rosengarten © aus: Nitza Metzger-Szmuk, Dwelling on the Dunes. Mit freundlicher Genehmigung AzW

Ein eindrucksvolles Bild, dennoch entspricht es nicht ganz den Tatsachen. Denn nicht die erste jüdische Stadt Tel Aviv (hebr. Frühlingshügel) – sie feiert im nächsten Jahr ihren 100. Geburtstag und wird derzeit im Architekturzentrum Wien wegen ihres einzigartigen architektonischen Ensembles des Internationalen Stils in der Wanderausstellung „The White City of Tel Aviv" (21.2.-19.5.2008) gewürdigt – hatte Theodor Herzl in seinen Träumen gesehen. Die Vorstellung, eine neue Stadt komplett auf Dünensand zu bauen, war vermutlich auch für den Visionär des „Judenstaates" eine nicht vorauszudenkende Utopie. Dennoch: Herzl hatte die Vision einer jüdischen Stadt, die „von den Ufern des Mittelmeeres aufsteigt", die viel eher dem Bild entspricht, das Londres beschreibt – Haifa. In seiner 1902 erschienen Romanutopie „Altneuland", in der er das erblühte Palästina des Jahres 1923 mit seinen modernen jüdischen Städten und Landwirtschaftssiedlungen immigriert, heißt es über die moderne Hafen- und Gartenstadt:

Tausende weißer Villen tauchten auf, leuchteten aus dem Grün üppiger Gärten heraus. Von Akka bis an den Karmel schien da ein großer Garten angelegt zu sein, und der Berg selbst war auch gekrönt mit schimmernden Bauten. [...] Eine herrliche Stadt war an das tiefblaue Meer gelagert. Großartige Steindämme ruhten im Wasser und ließen den weiten Hafen [...] sogleich als das erscheinen, was er wirklich war: der bequemste und sicherste Hafen des mittelländischen Meeres.2

Herzl selbst besuchte Haifa während seines ersten und einzigen Aufenthaltes in Palästina im Herbst 1898 nicht. Das ehemals verschlafene Fischerdorf am Fuße des Karmelgebirges hatte mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt gerade erst begonnen, aus dem Jahrhunderte langen Schatten des benachbarten Hafens von Akko zu treten. Modernisierungsimpulse gingen auch vom Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. aus, der sich gerade auf seiner Palästinareise befand und dem Herzl gemeinsam mit einer Gruppe zionistischer Funktionäre auf eigene Faust nach Jerusalem hinterher reiste.

Haifas spätere Entwicklung, die Herzl wegen seines frühen Todes (er starb bereits 1904) nicht mehr erleben durfte, hätte jedoch seinen Vorstellungen entsprochen. Jüdische Häuserbaugesellschaften gründeten Gartenvororte an den Hängen des Karmel: zuerst Herzlija (1909) - benannt nach dem Zionistenführer, in den 20er Jahren Hadar Ha-Karmel mit dem berühmten Gebäude des jüdischen Technikums, das zwischen 1912 und 1914 nach Plänen des Berliner Architekten Alex Baerwald (1877-1930) errichtet wurde, bis hinauf auf die Karmelspitze (Central Carmel), wo sich heute die Universität Haifa befindet. Zudem begann in diesen Jahren die britische Mandatsregierung mit dem Ausbau des Hafens von Haifa, der bis heute Israels größter und bedeutendster Hafen ist.

Ähnlich wie die „White City of Tel Aviv", die seit Sommer 2003 auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes steht, war auch Haifa in den 30er Jahren ein Zentrum des Neuen Bauens und des Internationalen Stils (der in Israel häufig fälschlich als „Bauhaus-Stil" bezeichnet wird). Zahlreiche Bauten legen bis heute Zeugnis davon ab, die jedoch weitaus weniger Beachtung finden als jene in Tel Aviv.3 Auch Herzl hatte einst mit seiner Vision von Haifa, der „Stadt der Zukunft", wie er sie nannte, eine modern gebaute Stadt vor Augen gehabt, wenngleich diese in architektonischer Hinsicht vielmehr dem zeitgenössischen Wiener Ringstraßen-Historismus des fin de siècle mit mediterranen Adaptionen entsprach: In „Altneuland" befand sich im Zentrum der Stadt eine weite, großartige Platzanlage mit einem eingehegten Palmengarten. Diesen so genannten Völkerplatz säumten arkadengeschwungene, palastartige Gebäude, die die Bürohäuser verschiedener europäischer Seehandelsgesellschaften und Kolonialbanken repräsentierten. Die an allen Seiten auf den Platz mündenden Straßen waren breite, palmenbestandene Avenuen, die für den Autoverkehr offen standen. Überall im Stadtgebiet gab es gepflegte Parkanlagen und Grünflächen. Auch infrastrukturell war die moderne Karmel-Stadt auf höchstem technischem Niveau erschlossen: es gab eine elektrische Straßenbeleuchtung, ebenso ein Telefonnetz, eine elektrische Schwebebahn und ein elektrisches Eisenbahnnetz, das die Stadt wie das gesamte Land über die „Berlin-Bagdad-Linie" mit Europa und über die „Kap-Jerusalem-Bahn" mit Afrika verband. Zahlreiche Versorgungseinrichtungen und moderne Warenhäuser waren im gesamten Stadtgebiet verteilt, ebenso Verwaltungsgebäude und Ämter, darunter auch das Bauamt von Architekt Steineck.

Architekt Steineck, alias Oskar Marmorek (1863-1909), war der begabte Erbauer, dem „Altneuland" seine modernen Städte zu verdanken hatte. Wie bei vielen anderen Hauptfiguren in seinem Roman gab Herzl hier ein kaum verschleiertes Porträt eines seiner engsten Mitarbeiter in der zionistischen Bewegung. Der Architekt Oskar Marmorek (u.a. „Venedig in Wien", 1895)4 gehörte zu den Mitbegründern der zionistischen Wochenzeitung „Die Welt" und war schon frühzeitig von Herzl aufgefordert worden, eine Artikelserie zu künftigen Bauten und Bauplänen für Palästina zu verfassen. In Herzls Augen war Marmorek der „erste Baumeister der jüdischen Renaissance" und in dieser Eigenschaft verewigte er ihn in seinem Roman.

Neben dem Stadtplan von Haifa zeichnete Architekt Steineck in „Altneuland" auch für die Planung der Neustadt Jerusalems verantwortlich. Herzl hatte seine Vorstellungen über ein künftiges Neu-Jerusalem bereits während seines Aufenthaltes in der Stadt in seinem Tagebuch notiert. Seine Notizen sprechen zugleich eine deutliche Sprache über die vorgefundenen Missstände in der Heiligen Stadt:

Wenn ich künftig deiner gedenke, Jerusalem, wird es nicht mit Vergnügen sein. Die dumpfen Niederschläge zweier Jahrtausende voll Unmenschlichkeit, Unduldsamkeit u. Unreinlichkeit sitzen in den übelriechenden Gassen. [...] Bekommen wir jemals Jerusalem, u. kann ich zu der Zeit noch etwas bewirken, so würde ich es zunächst reinigen. Alles, was nicht Heiligthum ist, liesse ich räumen, würde Arbeiterwohnungen außerhalb der Stadt errichten, die Schmutznester leeren, niederreissen, die nicht heiligen Trümmer verbrennen u die Bazare anderswohin verlegen. Dann unter möglicher Beibehaltung des alten Baustyls eine comfortable, ventilirte, canalisirte neue Stadt um die Heiligthümer herum errichten.5

In einer späteren Eintragung bemerkte er zuversichtlich, dass sich außerhalb der Altstadtmauern ein „prachtvolles Neu-Jerusalem" errichten ließe. „Das alte Jerusalem wäre u. bliebe Lourdes u. Mekka u. Jeruscholajim. Eine sehr hübsche elegante Stadt wäre daneben ganz möglich."6

In seiner Romanutopie „Altneuland", die er in den Monaten nach seiner Rückkehr aus Palästina zu konzipieren begann, war das einst verfallene Jerusalem in „verjüngter Regsamkeit und Pracht" wieder zum Leben erweckt worden. Die Altstadt war baulich weitgehend erhalten, aber neu gepflastert, gepflegt und gesäubert. Neben den heiligen Stätten der anderen Religionen erstrahlte der weiß- und goldfarbene Prunkbau des wiedererrichteten Tempels mit unzähligen Marmorsäulen. Als säkulares Pendant war daneben auch ein „Friedenspalast" errichtet worden, in dem internationale Kongresse von „Friedensfreunden" und Gelehrten aller Wissenszweige abgehalten wurden. Außerhalb der Altstadt waren neue Stadtteile entstanden. Moderne Wohnhausbauten wechselten hier mit Grün- und Parkanlagen entlang breiter, baumbestandener Straßen und Boulevards. Es gab einen Englischen Garten, ein Nationaltheater (dem Burgtheater ebenbürtig), Lehranstalten verschiedener Stufen, eine „Zions-Universität", Luxuskaufhäuser Pariser Zuschnitts und „Belustigungsorte". Alle Stadtteile waren von elektrischen Bahnlinien durchzogen. „Es war eine Weltstadt nach den Begriffen des zwanzigsten Jahrhunderts."7

Herzl hatte sich schon vor dem Verfassen seiner Romanutopie „Altneuland" mit städtebaulichen Fragen ein künftiges jüdisches Gemeinwesen betreffend befasst. Bereits in den Vorarbeiten zu seiner Schrift „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage" (1896) hatte er sich außer zur allgemeinen Gesellschaftsprogrammatik auch zu städtebaulichen Fragen geäußert und sich in seinem Tagebuch für die Gründung von Gartenstädten ausgesprochen.8 Erste Streiflichter seiner Stadtvisionen finden sich schließlich im „Judenstaat", wenngleich sich der Autor hier noch nicht im Klaren darüber war, ob dieser in Palästina oder in Argentinien errichtet werden sollte. Die neu zu gründenden Städte und Arbeitersiedlungen jedoch sollten sowohl in hygienischer wie sozialer Hinsicht die modernsten Errungenschaften der westlichen Zivilisation widerspiegeln und beispielgebend für andere Völker werden. Rückgriffe auf frühere Entwicklungsstufen oder Bestrebungen, die die „Überwindung des Judennotstandes" ausschließlich in der Schaffung jüdischer Ackerbauern zum Ziel hätten, hielt Herzl für „künstliche Mittel" und einen „wunderlichen Irrtum":

Will man heute ein Land gründen, darf man es nicht in der Weise machen, die vor tausend Jahren die einzig mögliche gewesen wäre. Es ist töricht, auf alte Kulturstufen zurückzukehren, wie es manche Zionisten möchten.9

Für den Modernisten Herzl sollte der organisierte Exodus der Juden aus ihren bisherigen Wohnländern in ihre völkerrechtlich gesicherte Heimstätte „mitten in der Kultur" und mit allen Mitteln des technischen Fortschrittes vollzogen werden. Kontinuität in der Entwicklung – eine Grundprämisse seiner Judenstaatsidee – sollte auch für den Städte- und Wohnungsbau gelten.

Man kehrt nicht auf eine niedrigere Stufe zurück, sondern ersteigt eine höhere. Man bezieht keine Lehmhütten, sondern schönere, modernere Häuser, die man sich neu baut und ungefährdet besitzen darf.10

Tel Aviv: Luftbildaufnahme des Dizengoff-Platzes (1935) Architekt: Genia Averbouch © aus: Nitza Metzger-Szmuk, Dwelling on the Dunes. Mit freundlicher Genehmigung AzW

Herzls Städtebauvisionen, die man in seinen Tagebüchern, insbesondere aber in „Altneuland" und in „Judenstaat" nachlesen kann, gehören zu den weniger bekannten Aspekten seiner Gesellschaftsprogrammatik. Dabei sind gerade sie es, die noch am ehesten seiner Idee: „vom Traum zur Tat" entsprachen. Während insbesondere „Altneuland" wegen seines säkularen und auf westlich-zivilisatorischem Denken fußenden Grundtenors zum Teil starke Kritik innerhalb der zionistischen Bewegung hervorrief und der Roman in politischer und kultureller Hinsicht nur wenig Einfluss auf den Aufbau Erez Israels hatte, lassen sich in Hinblick auf die städtebauliche Entwicklung des Landes vielfältige Parallelen nachweisen. Wenngleich Herzl auch die Gründung Tel Avivs nicht vorhersehen konnte, so lebt seine Vision in dieser Stadt vor allem namentlich weiter, denn „Tel Aviv" heißt auch die von Nachum Sokolov übersetzte hebräische Fassung von „Altneuland".

Das Herzstück der „Weißen Stadt": der Dizengoff-Platz mit seinen einheitlichen Bauten von Genia Averbouch (1935) © aus: Nitza Metzger-Szmuk, Dwelling on the Dunes. Mit freundlicher Genehmigung AzW

Aus Anlass des 60. Jahrestages der Gründung Israels wandert die Ausstellung „Herzls Utopie – Israels Gegenwart", organisiert vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam durch Israel und Deutschland (Start: 5. März 2008 in Beit Ariela in Tel Aviv).

  • 1 Londres, Albert: Ahasver ist angekommen. Eine Reise zu den Juden im Jahre 1929, München 1998 [Orig. Le Juif errant est arrivé, Paris 1929], S. 163f.

  • 2 Herzl, Theodor: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen". Altneuland/Judenstaat, Kronberg/Ts. 1978, S. 50.

  • 3 Herbert, Gilbert/Sosnovsky, Silvina: Bauhaus on the Carmel and the Crossroads of Empire, Jerusalem 1993.

  • 4 Zu Person und Wirken Marmoreks, vgl. Kristan, Markus: Oskar Marmorek. Architekt und Zionist, 1863-1909, Wien [u.a.] 1996.

  • 5 Herzl, Theodor: Zionistisches Tagebuch 1895-1899, Berlin [u.a.], 1983, S. 680f. Zeichensetzung wie im Original.

  • 6 Ebenda.

  • 7 Herzl: Altneuland [wie Anm. 2], S. 161.

  • 8 Sonder, Ines: Gartenstädte für Erez Israel. Zionistische Stadtplanungsvisionen von Theodor Herzl bis Richard Kauffmann, Hildesheim [u.a.] 2005.

  • 9 Herzl, Theodor: Der Judenstaat, Jerusalem 1970, S. 26.

  • 10 Ebenda, S. 16.

Im Juli 2003 wurde das Stadtzentrum von Tel Aviv zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt. Tel Aviv weist mit über 4.000 Bauten weltweit die höchste Dichte an Werken internationaler moderner Architekten auf - in keiner anderen Stadt finden sich so viele herausragende Beispiele des Neuen Bauens. Eine ausgezeichnet kuratierte Ausstellung wird anlässlich des 60-jährigen Bestehens des Staates Israel auch in Wien gezeigt: The White City of Tel Aviv. Tel Aviv’s Modern Movement. Architekturzentrum Wien, im MuseumsQuartier, 21. 2. – 19. 5. 2008, täglich 10.00 bis 19.00 Uhr. [tw]

 
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