Ein Team beim Beginn des Rückschnitts im Südosten des
Friedhofes (alter Zustand). Foto: W. Sulzgruber
Die Verantwortlichen der IKG Wiener Neustadt verloren nun
keine Zeit, sodass 1889 nach der Vorlage des Bauplans rasch mit der Errichtung
einzelner Gebäude begonnen wurde. Die Parzelle, die an der Reichsstraße lag, war
Ende des 19. Jahrhunderts von Verkehrswegen eingeschlossen. Zuerst fasste man
das Areal mit einer rund zwei Meter hohen Einfriedungsmauer ein, deren Verlauf
an die vorhandenen Wege und Straßen angepasst wurde. Dann errichtete man im
östlichen Zugangsbereich zwei Gebäude: ein „Gärtnerhaus" und ein „Leichenhaus".
Das Konzept für eine prunkvolle „Zeremonienhalle" wurde nicht realisiert, sei es
aus zeitlichen oder finanziellen Gründen.
Noch vor der endgültigen Bewilligung des Begräbnisplans
erfolgte das erste Begräbnis am „neuen" jüdischen Friedhof am 20. November 1889.
Es handelte sich um Regine Rosenberger, die Gattin des Uhrmachers Adolf
Rosenberger.
Bis 1938 wurden an diesem Ort über 250 Personen bestattet.
Obgleich 1938 zahlreiche jüdische Friedhöfe in Österreich geschändet, demoliert
und zerstört wurden, blieb der jüdische Friedhof in Wiener Neustadt unangetastet
und wurde von den Nationalsozialisten nicht zerstört. 1940 erwarb die
Stadtgemeinde den Friedhof. Trotz der massiven Bombardierung der Rüstungsstadt
im Zweiten Weltkrieg blieb das Areal, das im Industriegebiet der Stadtgemeinde
lag, fast unbeschädigt.
Nach dem Krieg kam es zu keiner Neukonstituierung der IKG,
wenige jüdische Einwohner hatten überlebt und nur vereinzelt kehrten sie in die
Stadt zurück. 1952, als die Synagoge am Baumkirchnerring abgetragen wurde,
erfolgte die Rückstellung des jüdischen Friedhofs.
In den späten 80er Jahren entbrannte eine politische
Diskussion über die Begräbnisstätte. Der Zustand des Areals wurde als
„bedenklich" eingestuft. In den „Wiener Neustädter Nachrichten" hieß es damals
zum Beispiel: „Leider sind heute viele der Grabsteine umgestürzt, Steinfraß und
Umweltverschmutzung tragen das Ihre dazu bei, die Inschriften der Grabtafeln für
immer verschwinden zu lassen. Manche der Grabsteine sind unter Gestrüpp und
hohem Unkraut überhaupt nicht mehr auszumachen." In den Zeitungen war vom
„vergessenen Friedhof" und „total vernachlässigten Judenfriedhof" die Rede.
Zur Situation des jüdischen Friedhofs
Die Stadtgemeinde Wiener Neustadt ist heute keineswegs
untätig, sondern bemüht sich durchaus um eine Mindestpflege des Friedhofs. So
wird beispielsweise in regelmäßigen Abständen die Wiesenfläche gemäht und Laub
weggeführt.
Doch Begehungen im Winter 2006 und im Frühjahr 2007 zeigten,
dass Handlungsbedarf besteht: Die gesamten Randzonen des Areals (konkret die
Süd-, West- und Nordseite) waren von massiven Verwüchsen und Wildwuchs
gekennzeichnet. Größere Mengen Plastik, Glasflaschen und anderer Müll befanden
sich auf dem Gelände. Unter anderem wurden (und werden) bedenkenlos und
kontinuierlich Abfälle über die Mauer des Friedhofs geworfen und die Fenster des
Gärtnerhauses von Vandalen beschädigt. Die alte Einfriedungsmauer zeigt an
einigen Stellen massive Auflösungserscheinungen, ganze Befestigungselemente
fallen heraus.
Zweifellos würden für eine umfassende Sanierung, die den
Baumbestand, die Grabstellen, alle Gebäude und die Einfriedung mit einschließen
müsste und in größerem Maßstab notwendig ist, enorme Geldsummen benötigt werden,
die von der Stadtgemeinde allein nicht aufgebracht werden können.
Die Idee einer ersten Aktion und ihre Umsetzung
In Anbetracht der Sachlage und im Bestreben, eine Veränderung
des Ist-Zustandes herbeizuführen, wurde vom Autor die „Aktion Kulturdenkmal
Jüdischer Friedhof" (AKJF Wiener Neustadt) initiiert: Auf Basis eines
Schulprojektes sollten sich Schüler aktiv für dieses wichtige Kulturdenkmal
engagieren. Es galt vor allem eine Freimachung und Reinigung des Areals und der
Grabstellen durchzuführen.
In diesem Kontext muss klargestellt werden, dass es in
Österreich immer wieder Schulprojekte gibt, wo Schüler auf Friedhöfen Efeu und
Verwuchs zurückschneiden. In Wiener Neustadt hatte es ein solches Projekt
bislang noch nie gegeben. Für Wiener Neustadt hätte eine symbolische,
oberflächliche Behandlung allerdings nicht genügt, weshalb eine nachhaltigere,
intensive Vorgangsweise versucht werden musste, die jedoch nur mit Unterstützung
von Profis erfolgen konnte. Nach dem Einholen aller Bewilligungen, der Klärung
der rechtlichen Rahmenbedingungen, dem Informieren aller Verantwortlichen, der
Terminfestlegung und der Abstimmungen des zeitlichen Rahmens wurde mit der
Detailorganisation begonnen.
Zentral für das Gelingen eines Projekts dieser Dimension
waren zum einen die Bereitschaft von Personen, praktisch tätig zu werden, und
die Kooperation von Institutionen und Fachleuten, die den Planungs- und
Arbeitsprozess professionell unterstützen konnten, sowie zum anderen die
Einbindung von Sponsoren, die finanzielle Hilfe geben wollten.
Entsprechender Stellenwert wurde dem Grundsatz eingeräumt,
dass dieses Projekt, im Speziellen der „Aktionstag", nur von Schülern der
Oberstufe und nur von Freiwilligen durchgeführt werden sollte. Schließlich galt
es körperlich anstrengende Arbeit zu leisten und alle Teilnehmer sollten auch
selbst davon überzeugt sein, was sie tun. Freiwilligkeit und die innere
Bereitschaft für die Sache – das Bewusstsein, warum man es macht – waren äußerst
wichtig.
Im März 2007 meldeten sich dann fast 60 Schüler und
Schülerinnen des BRG Gröhrmühlgasse 27 (Klassen 6.A, 7.B, 7.C, 8.B und 8.C). Mit
dem 11. April 2007 wurde in jenen Klassen, wo Schüler an dem Projekt teilnehmen
wollten, ein projektorientierter Unterricht begonnen. Im Unterrichtsgegenstand
„Geschichte, Sozialkunde und politische Bildung" setzten sich die Schüler mit
der regionalen Zeitgeschichte auseinander. Hier wurden die Geschichte der
jüdischen Gemeinde von Wiener Neustadt, die Zeit des Nationalsozialismus und
damit der Zerstörung der jüdischen Gemeinde behandelt. In einzelnen Klassen war
dies auch der Auftakt für eine intensivere Beschäftigung mit jüdischer
Kulturgeschichte und Kultur im Religionsunterricht. Auf diese Art wurde der Weg
auf den jüdischen Friedhof in Wiener Neustadt inhaltlich vorbereitet.
Die Schüler und Schülerinnen sollten geschichtliche und
kulturgeschichtliche Hintergründe erfahren, Informationen über die jüdische
Bevölkerung und diesen historischen Ort kennen sowie wissen, dass der jüdische
Friedhof in der Wiener Straße 95 die letzte Stätte ist, die auf die Präsenz
einer großen jüdischen Gemeinde in der Stadt hinweist. Über 700 jüdische Männer,
Frauen und Kinder hatten einst bis 1938 in Wiener Neustadt gelebt.
Der sogenannte „Aktionstag" am 16. April 2007, der Tag der
Realisierung des Projekts, wurde bewusst zu einem Termin mit Symbolkraft
angesetzt (Jom haShoah). Er stand unter besonderen Zielsetzungen: Er war „ein
Tag des aktiven Engagements für ein Kulturdenkmal der Stadt", „ein Tag des
Sich-Erinnerns anlässlich des Shoa-Gedenktages" und „ein Tag für Toleranz und
ein friedliches Zusammenleben der Kulturen".
Die Schüler und Schülerinnen hatten die erforderlichen
Arbeitsgeräte von zuhause mitgenommen. Einzelne Schüler und Eltern übernahmen
sogar Transporte. Firmen und Privatpersonen waren bereit gewesen, den
„Aktionstag" zu unterstützen: Getränke und Essen für alle Helfer wurde zur
Verfügung gestellt (Firma Linauer, Fischapark/Interspar) und auf Basis von
Geldspenden (Bank Austria Creditanstalt, Re/Max Exclusiv) konnte Notwendiges
zugekauft werden. Zwei Männer der Freiwilligen Feuerwehr hatten wenige Tage
zuvor auf dem Gelände einzelne größere Verwüchse herausgeschnitten und damit
eine wichtige Vorarbeit für das Gelingen des „Aktionstags" geleistet.
Das Engagement der Helfer war großartig, sicherlich
überdurchschnittlich. Es gelang auf Grund des großen persönlichen Einsatzes der
Schüler und Schülerinnen einen weit besseren Zustand des Friedhofs zu erreichen,
als man es ursprünglich für möglich gehalten hatte. Der Freimachung und
Grobreinigung folgte sogar noch eine Feinreinigung. Die Freiwilligen mussten
viele Grabsteine erst einmal entdecken, sich also auf die Suche begeben und
„Zeugen aus Stein" sichtbar machen. Manches, was seit Langem verschollen gewesen
war, konnte wieder ans Tageslicht gebracht werden. Mit intensiver Arbeit und
großem Einsatz legten die Jugendlichen alte Grabstellen frei, schnitten massive
Überwucherungen und Verwüchse zurück und richteten Grab um Grab wieder her.
Die Stadtgemeinde entsorgte an diesem Tag unter anderem vier
volle LKW-Ladungen Astwerk, Schnitt und Laub. Sie richtete in Folge auch einige
Grabsteine auf, die in den vergangenen Jahren umgefallen waren. Ein Mitarbeiter
der Stadtgartenverwaltung betreute und half bei schwierigeren Tätigkeiten.
Mehr als 130 Grabsteine wurden vollständig freigemacht und
zirka 220 Grabstellen gereinigt. Das Ergebnis des „Aktionstags" kann sich
wirklich sehen lassen. Es ist großartig, was verändert werden kann, wenn sich so
viele Jugendliche freiwillig engagieren und aktiv werden. Mit ihrem Einsatz und
der primären Unterstützung von Magistrat, Feuerwehr und Lehrern konnte der
jüdische Friedhof vorbildlich hergerichtet werden.
Kehrarbeiten eines Teams im südlichen Mittelteil des
Friedhofes. Foto: Werner Sulzgruber
Der Ablauf und die Ergebnisse des „Aktionstags" wurden
dokumentiert und noch im Mai in Form einer Internet-Präsentation veröffentlicht.
Anhand von ausführlichen Beschreibungen des gesamten Projektablaufs und
zahlreicher Fotos kann sich jeder Interessent ein Bild von dieser Initiative
machen (http://www.brgg.at/index.php?id=514).
Am 25. Oktober 2007 fand für die Teilnehmer am Projekt ein
Workshop statt, der von Dr. Johannes Reiss, dem Direktor des Österreichischen
Jüdischen Museums in Eisenstadt, durchgeführt und von Kulturkontakt Austria
finanziell unterstützt wurde ( http://www.brgg.at/index.php?id=536 ).
Ideen für die Zukunft des jüdischen Friedhofs von Wiener
Neustadt
Dieses Projekt in Wiener Neustadt könnte der Auftakt zu einer
Reihe von Aktivitäten dieser Art in Wiener Neustadt sein. Die „Aktion
Kulturdenkmal Jüdischer Friedhof" (AKJF Wiener Neustadt) könnte
schulübergreifend erweitert werden. Ein neues Ziel ist es, in Zusammenarbeit mit
anderen Schulen ein Netzwerk zu knüpfen, mit dessen Hilfe in regelmäßigen
Abständen, mindestens einmal jährlich ein „Aktionstag" durchgeführt wird, wie er
erstmals im April 2007 verwirklicht wurde. Dies setzt aber voraus, dass solche
Aktivitäten dauerhaft seitens der IKG Wien als Eigentümerin des jüdischen
Friedhofs unterstützt werden und dass die Stadtgemeinde weiterhin ihre Mithilfe
zusichert.
Der jüdische Friedhof ist als Kulturdenkmal auch ein Ort, der
Zeitgeschichte erfahrbar macht und Erinnerung ermöglicht: Erinnerung an einen
Teil der Stadtgeschichte, an die Geschichte der jüdischen Gemeinde, an Namen und
persönliche Schicksale von Juden – an ihr Leben und ihren Tod. Der jüdische
Friedhof kann ein Ort des Erinnerns werden, eine Gedenkstätte, die jungen
Menschen ein Lernen vor Ort ermöglicht. Ist er doch der letzte sichtbare Rest
einer einst blühenden und bedeutenden jüdischen Gemeinde in Wiener Neustadt.
Selbst wenn diese Idee aber Wirklichkeit wird, also wenn sich
tatsächlich weitere Lehrer finden, die ihre Zeit investieren und die
organisatorische Arbeit tun, und wenn sich Schüler finden, die den Sinn solcher
Aktivitäten erkennen und sich persönlich einsetzen, so bleibt es dennoch nicht
mehr als eine symbolische Handlung, solange nicht konkret Gelder investiert
werden, um den Verfall des Friedhofs mit seinen Grabsteinen und Inschriften zu
stoppen, und nicht jene zusätzlich notwendige Arbeit geleistet wird, die
Jugendliche nicht mehr zu leisten vermögen. Idealismus allein genügt nicht. Es
braucht finanzielle Unterstützung und den Willen aller Verantwortlichen, hier
tatsächlich längerfristig den Erhalt dieses wertvollen Kulturgutes zu sichern.