Bernward Dörner: Die Deutschen und der Holocaust.
Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte.
Berlin: Propyläen-Verlag 2007
890 Seiten, Euro 30,80.-
ISBN
979-3-549-07315-5
Die Behauptung, man hätte von der Vernichtung der
europäischen Juden und Jüdinnen nichts gewusst, war und ist zentraler Topos
individueller und kollektiver bewusster Verdrängung der NS-Verbrechen zum Zweck
der Aufrechterhaltung der eigenen Lebenslüge.
Zahlreiche Quellen und Berichte aus dem Dritten Reich zeigen jedoch, dass
Verfolgung, Deportation und Vernichtung keineswegs unter völliger Geheimhaltung
„am deutschen Volk vorbei" durchgeführt wurden. Bernward Dörner, Historiker und
wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der
TU Berlin, untersucht in seinem Buch „Die Deutschen und der Holocaust. Was
niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte" mittels systematischer Analyse
zeitgenössischer Dokumente in „welchem Maß der deutschen Bevölkerung die
Ermordung der europäischen Juden von 1945 bekannt wurde und wie sie diese
Informationen aufnahm."
Am Beginn der Untersuchung steht zuerst die Frage nach möglichen
„Hindernissen der Wahrnehmung" der Vernichtung. So hätten anfängliche
Geheimhaltung, Tarnbegriffe, Desinformation sowie die Beschränkung des
Täterkreises und Tempo der Tatausführung den Wahrnehmungsprozess behindert. Sehr
rasch haben sich allerdings, so Dörner, die Informationen so weit verdichtet,
dass spätestens ab Sommer 1942 die Massenmorde ein offenes Geheimnis in der
deutschen Bevölkerung waren. Anhand der Analyse der „Möglichkeiten der
Wahrnehmung" und der verschiedenen Informationsquellen zeigt Dörner, dass
Informationen über die Vernichtung sehr rasch und umfassend bekannt wurden. So
haben ebenso die Berichte von Wehrmachtssoldaten und Angehörigen der
Polizeieinheiten sowie von Zivilisten und „Fremdarbeitern" die Vernichtung „im
Osten" thematisiert und Gerüchte verifziert. Gleichzeitig wurden in der
deutschen Öffentlichkeit, in den NS-Medien, in Reden und in der Presse permanent
Vernichtungsdrohung ausgesprochen und wobei teilweise offen von „Ausmerzung" und
„Ausrottung" die Rede war. Als weitere Informationsquelle können die alliierten
Rundfunksender und über Deutschland abgeworfene Flugblätter betrachtet werden,
die die Vernichtung thematisieren. Am Beispiel geheimer NS-Lage- und
Stimmungsberichte sowie zahlreicher dokumentierter Äußerungen von Einzelpersonen
und autobiographischer Quellen zeigt Dörner schließlich auf, in welchem Ausmaß
die Massenmorde an der „Heimatfront" bekannt waren.
Auf Basis dieser Ergebnisse versucht Dörner den
„gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Reaktionsprozess" von den Vorzeichen zu
Beginn der NS-Herrschaft über die Gewissheit bis hin zur Verdrängung angesichts
der drohenden militärischen Niederlage zu skizzieren. Diese Verdrängung, das „Nicht-gewusst-haben-Wollen",
setzt sich auch und vor allem, wie der Autor eindrucksvoll zeigt, in zahllosen
Stellungnahmen nach 1945 fort.
Bernward Dörners Conclusio ist schon bekannt: der Judenmord war
kein Geheimnis. Die Bedeutung des Buches liegt vor allem in der systematischen
Analyse und Darstellung der Möglichkeiten der Information und der Bekanntheit
der Vernichtung der Juden und Jüdinnen. Dennoch bleiben manche Kritikpunkte.
Dörner tendiert dazu, die deutsche Bevölkerung als passive Masse im Zusammenhang
mit dem Holocaust zu betrachten, etwa wenn er behauptet, dass vor allem der
Terror der Nazis in den letzten Kriegsjahren jeglichen Widerstand unmöglich
gemacht hätte. Zahlreiche Verbrechen aus Eigeninitiative gegen Kriegsende werfen
ein anderes Licht auf diese Frage. Auch manche verstörenden bzw. verunglückten
sprachlichen Formulierungen des Autors beeinträchtigen die Lektüre, die jedoch
trotz allem einen wichtigen Beitrag in diesem zentralen Teilbereich der
NS-Forschung darstellt.