Dirk Ansorge (Hg.): Antisemitismus in Europa und in der
arabischen Welt. Ursachen und Wechselbeziehungen eines komplexen Phänomens
Paderborn: Bonifatius Verlag
Frankfurt/M.: Verlag Otto Lembeck 2006.
318 Seiten. Euro 20,50,-
ISBN 3-89710-363-X (Bonifatius)
ISBN 3-87476-518-0 (Lembeck)
Der vorliegende Sammelband enthält zwölf Beiträge, die auf
zwei Tagungen der Katholischen Akademie des Bistums Essen referiert und
diskutiert wurden. Sowohl die internationale Zusammensetzung, als auch die
Spannweite der professionellen Herkunft und Betrachtungsweisen der Autorenschaft
(Theologen, Historiker, Politologen, Islamwissenschaftler, Soziologen und
Journalisten) bieten eine Vielfalt differenzierter Ansätze, das Phänomen
Antisemitismus aufzuschlüsseln.
Die Bereitschaft zum Ressentiment, für Konflikte das anonyme
oder offene Walten jüdischer Mächte verantwortlich zu machen, ist nach wie vor
weit verbreitet. Freilich haben sich Terminologie und Perspektiven geändert,
will doch kaum jemand nach dem Holocaust als Antisemit gelten.
Karl Heinz Klein-Rusteberg wählt als Exempel Philip Roths
Roman „Verschwörung gegen Amerika", in dem anhand von Charles Lindbergh der Held
des isolationistischen Amerika der frühen 40er Jahre vorgeführt wird. Sein
Engagement gegen den Eintritt der USA in den Krieg gegen Nazideutschland
bündelte zugleich mit Erfolg alle antisemitischen Stimmungen gegen jüdische
„Kriegstreiber". Durch die Weite des Ozeans vom Schauplatz des Verbrechens
entfernt, ließ sich unter jenen Gemütern umso leichter glaubhaft machen, die
Juden und nicht die Nazis trügen die Verantwortung für den Krieg. Ähnliches
wiederholt sich heute in Europa. In einer Meinungsumfrage in 15 EU-Staaten wurde
Israel als größte Bedrohung für den Weltfrieden bewertet, noch gefährlicher als
Länder wie Iran oder Nordkorea. Daher fragt Klein-Rusteberg zurecht: „Tritt
nicht heute die fundamentale Ablehnung des Staates Israel auch als
Friedensbotschaft auf?"
Derlei Manifestationen sind schon längst nicht mehr nur eine
Domäne der extremen Rechten. Daher zählt es zu den großen Stärken des Buches, im
Gros der Beiträge die analytische Aufmerksamkeit auf die historischen
Traditionslinien des Antisemitismus zwischen Okzident und Orient zu lenken.
Neben einleitenden Artikeln zur Begriffsklärung, zum Phänomen des
Schuldabwehr-Antisemitismus („Nicht immer als Tätervolk dastehen") und zum
Verhältnis von Antisemitismus und Katholizismus am Beispiel Polens, widmen sich
die restlichen Beiträge den Wechselwirkungen zwischen Europa und der arabischen
Welt, wo der Antisemitismus ziemlich unverhüllt auftritt.
Der französische Historiker Bernard Heyberger
beschreibt die Rolle arabischer Christen bei der Vermittlung antisemitischer
Stereotypen im 19. Jahrhundert; da jene eher Kontakte zum Westen unterhielten,
transportierten sie die abendländischen Muster der Judenfeindschaft in den
Orient. Erster Höhepunkt war 1840 die spektakuläre Ritualmordbeschuldigung in
Damaskus, die vom Konsul Frankreichs vor Ort unterstützt wurde und dessen
Berichte eine antisemitische Kampagne in der französischen Presse auslösten.
Später waren auch die ersten Übersetzer der „Protokolle der Weisen von Zion"
orientalische Christen. Wegen deren minoritärer gesellschaftlicher Position fand
diese Schrift aber einige Zeit noch keine Massenverbreitung. Erst 1851 erfuhr
dieses zentrale Dokument des Judenhasses den breiten Durchbruch durch die
Übersetzung eines Moslems in Ägypten. Damit begann zu einem Zeitpunkt, als die
„Protokolle der Weisen von Zion" in Europa öffentlich geächtet waren, in der
arabischen Welt ein bis heute anhaltender Siegeszug dieses Traktates, das vom
ägyptischen Staatschef Nasser, vom saudischen König Fahd und dem syrischen
Verteidigungsminister Tlass als Lektüre empfohlen wurde. Die diesbezüglichen
Befunde des Islamwissenschaftlers Stefan Wild sind erschütternd.
Vereinzelte Stimmen kritischer arabischer Intellektueller können die Popularität
der „Protokolle" nicht mindern. Im Gegenteil: Neuerdings sorgen Islamisten für
anhaltende Wirksamkeit – nicht nur durch Aufnahme in die Charta der Hamas,
sondern durch Verbreitung in Ländern wie der Türkei, dem Iran, Pakistan und
Indonesien über den arabischen Raum hinaus und bis hin zu muslimischen
Immigranten in Europa. Wild sieht diesen Antisemitismus eng mit dem
Nahostkonflikt verschränkt und nicht in einer originär islamischen Tradition
stehend. Zu einem etwas anderen Befund kommt der Historiker Omar Kamil.
Die Wurzeln von Antisemitismus und Holocaustleugnung in der arabischen Welt
reichen seiner Meinung nach bis zur Erfahrung des Kolonialismus zurück: Wurden
Juden bis dahin als „Schutzbefohlene" innerhalb des eigenen Kulturkreises
wahrgenommen, so erscheinen sie später als Teil der Kolonialmächte. Die
Fixierung auf die eigene Opferrolle führt zu einer Wahrnehmungsblockade
gegenüber dem Holocaust.
Einer der beeindruckendsten Beiträge stammt vom Pariser
KURIER-Korrespondenten Danny Leder „Eine gefährliche Nachbarschaft? Juden
und Muslime in Frankreich". Danny Leders authentische Wahrnehmungen und
Erlebnisse geben den Analysen der anderen Autoren auf beklemmende Weise reale
Gestalt. Frankreich erlebte in den letzten Jahren eine Welle antisemitischer
Gewalttaten, die in einer besonders bestialischen Ermordung eines jungen Juden
kulminierte. Die Täter waren mehrheitlich Jugendliche aus muslimischen
Einwandererfamilien aus Nord- und Schwarzafrika; ihre Motive siedelt Leder „in
einer Grauzone zwischen emotionaler Strahlwirkung des Nahost-Konflikts,
radikal-islamischer Propaganda, archaischer, aus dem Maghreb herrührender
Stigmatisierung der Juden, sozial-familiärer Verwahrlosung und Jugendgewalt in
sozialen Krisenzonen" an. (S.131) Die Opfer waren mehrheitlich jüdische
Zuwanderer und deren Nachkommen, die nach der Unabhängigkeit der Maghrebstaaten
nach Frankreich übersiedelten. Dort lebten sie mit den arabischen Immigranten
aus jenen Ländern in denselben Wohnvierteln oft Tür an Tür. Ab 2000 setzte ein
Mobbing ein, das sich in aggressiven Alltagsattacken, Brandanschlägen und
Überfällen auf jüdische Einrichtungen, Restaurants, Synagogen und Schulen
entlud. War man anfangs noch geneigt, das als soziales Problem deklassierter,
perspektiveloser Jugendlicher zu sehen, so ist die antisemitische Stoßrichtung
offenkundig. Im populären Komiker M’Bala M’bala fanden diese Stimmungen ein
charismatisches, mediales Sprachrohr. Trotz etlicher Bemühungen gegen
rassistische Diskriminierung, bei denen nicht zuletzt viele Franzosen jüdischer
Herkunft besonders engagiert waren, wurden die Emotionen mit der infamen
Behauptung angeheizt, Juden würden durch Monopolisierung ihrer Leidensgeschichte
den Franzosen mit arabischen und afrikanischen Wurzeln den Weg zu Anerkennung
und Gleichberechtigung versperren. Juden sind in den Migrantenvierteln meistens
in der Minderheit und fühlen sich von der Geschichte mit demütigenden
Erinnerungen an frühere Lebenssituationen in arabischen Ländern wieder
eingeholt.
Den Blick auf Entwicklungen zu schärfen, die ernst genommen
werden müssen, ist das große Verdienst dieses Sammelbandes. Kurzfristig ist wohl
keine Veränderung zum Besseren zu erwarten. Auch der Herausgeber Dirk Ansorge
meint in seinem Fazit, dass die aktuelle Lage leider kaum vermuten läßt, „dass
die in den verschiedenen Beiträgen angesprochenen Herausforderungen rasch
erkannt, entschieden angenommen oder gar gelöst werden." (S.15)