Uri Zvi Grinberg:
Mephisto.
Aus dem Jiddischen und mit einer Einleitung von Karin Neuburger.
München: Wilhelm Fink Verlag 2007.
171 Seiten. Euro 24,90.-
ISBN 978-3-7705-4322-9
Nachdem er zuvor einige Bücher mit neoromantischer Poesie
herausgegeben hatte, vollzog Uri Zvi Grinberg mit dem 1921 in Lemberg in erster
Fassung und im Jahr darauf in Warschau in wesentlich erweiterter zweiter Auflage
erschienenen Gedichtzyklus Mephisto radikal die Wendung zur literarischen
Moderne. Es ist keineswegs übertrieben, den Mephisto als einen der
zentralen Schlüsseltexte dieser Moderne zu bezeichnen – und zwar nicht nur
innerhalb der jüdischen und jiddischen Kultur, in der er auch als eines der
Dokumente der Loslösung aus den Traditionsgefügen betrachtet werden kann,
sondern in einem generellen Zusammenhang: Als Beschreibung und Ausdeutung der
Konstituenten modernen Lebens, dessen Vertreter, Personifizierung und Triebkraft
Mephisto ist. Er ist das alles desillusionierende Wesen, das mit Parolen wie
„Per aspera ad astra" anstachelt, der Spötter, der alte Werte und Traditionen
hinwegwischt und, ein entwurzelnder Entwurzelter, täuscht, verführt, Ablenkung
und rücksichtslose Begierde predigt, Rausch und Verwirrung verbreitet,
Zwietracht und zermürbende, ziellose Grübelei. Sein Streben scheint
hauptsächlich auf Fragmentierung von allem und allen aus zu sein, wobei er sich
bei seinem Tun auch der (künstlerischen) Mittel des Futurismus, Kubismus und
Dadaismus bedient. Gott, „der Geist", der ihm noch entgegensteht, ist
kein zu fürchtender Opponent mehr, sondern veraltet, zaghaft und unglücklich,
„einer dünnen Stille Stimme" (gemäß 1. Kön 19,12), die von niemandem mehr gehört
wird.
Dass dieses, einer tiefen, ausgedehnten Beschäftigung früher wie heutzutage
unvermindert würdige Werk lange in der außerjiddischen Welt unbekannt bleiben
musste, lag „natürlich" daran, dass es nie übersetzt worden ist; und dass es nie
übersetzt worden ist, lag wohl an den enormen Schwierigkeiten, die der Text
bietet: Den einen zur Abschreckung, den anderen als lohnende Herausforderung.
Diese Schwierigkeiten beruhen nicht nur auf den üblichen „poetisch-bedingten",
sondern auch auf der Notwendigkeit der Kenntnis etwa von biblischen,
talmudischen oder kabbalistischen, ostjüdischen und
europäisch-literaturhistorischen Wissenshintergründen, die im Werk präsent und
für sein Verständnis nötig sind. Gerade auf all diese diversen Dimensionen
müsste in einer aktuellen Ausgabe, mehr als 85 Jahre nach dem ersten Erscheinen,
in Kommentaren ausreichend eingegangen werden. Und – von einer Übersetzung
müsste höchstmögliche Verlässlichkeit zu erwarten sein.
Nun ist 2007 im Münchner Fink-Verlag eine neue Ausgabe des
Mephisto erschienen, die neben dem jiddischen Originaltext der zweiten,
Warschauer Fassung auch eine kommentierte Übersetzung und eine Einleitung
enthält. Prinzipiell ein Grund zur Freude, welche jedoch bei näherer Betrachtung
getrübt wird. Das liegt erst einmal an den zahlreichen Übersetzungsfehlern auf
lexikalischer Ebene und durch grammatikalische Missverständnisse. Man liest etwa
von „Augen grün wie Syphilis" (S. 67), wo es „stachelbeergrüne Augen" („agress-grine
ojgn") heißen müsste. Die Frage, „welche Frau vergibt gern ihren Schoß, /
ihr höchstes Gut" (S. 73), meint mit „Schoß" ihr vertrautes Zuhause und gefragt
wird danach, „welche Frau den Schoß verlassen würde, / der ihr gut ist" („welche
froj wolt den farlost di schojss / woss is ir gut"). „Das kopfscheu machende
Begierde-Tier" ist eher „das schlummernde Begierde-Tierchen" („doss
drimlendike thajwe-chaje’le"). Voll seltsamer „Poetizität" liest sich der
Vers: „Man bläst Watterosen-Rauch auf weibische Figuren" (S. 117), wo das
Original einfach so zu verstehen ist: „Man bläst Zigarettenrauch auf die
Frisuren von Frauen" („blost men papirossn-rojch af wajbersche frisurn").
Mehrere Fehler beruhen offensichtlich darauf, dass Wörter der hebräischen
Komponente des Jiddischen in einer modern-hebräischen Bedeutung gelesen werden
und nicht in der jiddischen! So geht die Übersetzung „milchige Lichter" (S. 129)
auf ein Missverstehen des jiddischen „chejlev’ne lichtlach", was schlicht
„Talgkerzen" bedeutet, zurück, wobei „chejlev" (= „Talg") als „chaláv"
(hebr. „Milch") gelesen wurde. Der Vers „un los arajn rojch inem finztern
chejder ..." (S. 134) ist mit „Den Rauch blas’ ins finstere Zimmer hinein
..." zwar nicht ganz falsch übersetzt, müsste jedoch deutsch so wiedergegeben
werden: „Und lasse den Rauch in den finsteren Cheder ..." Dabei gehörte das Wort
„Cheder" erklärt, und außerdem kommentiert, was im zeitlichen Kontext des
Gedichts und der ostjüdischen Kultur mit der Aufforderung gemeint ist.
Mehrfach und wiederholt fällt die Übersetzerin auf „falsche Freunde" herein, was
in dieser Häufigkeit nicht mehr mit einer gelegentlichen Unachtsamkeit zu
entschuldigen ist. Das jiddische „nechtn" wird etwa mit „Nachts" (S.
111), „Nächte" (S. 135) oder „nächtig" (S. 165) übersetzt, obwohl es
ausschließlich „gestern" bedeutet! „klojsster" wird als ständig als
„Kloster" oder „Stift" (miss)verstanden, obwohl es „Kirche" meint! „tajch"
wird als „Teich" übersetzt, obwohl das Wort im Jiddischen immer ein „Fluss" ist.
Leider sind auch die Kommentare in den mehr als 50 Fußnoten zum Text nicht immer
von wirklichem Nutzen. So etwa wird die im Text auftauchende lateinische Floskel
„mundus vult decipi, ergo decipiatur" in Fußnote 40 folgendermaßen kommentiert:
„’Die Welt will täuschen und wird also getäuscht.’ Diese lateinische
Redewendung, die wohl auf Luther zurückgeht, war zu Anfang des 20. Jh. jedem
Gymnasiasten geläufig. (Ich danke Yossef Schwartz für diesen Hinweis.)"
Abgesehen davon, dass die deutsche Übersetzung nicht stimmt – sie müsste „Die
Welt will betrogen/getäuscht sein, daher sei/werde sie betrogen/getäuscht!"
lauten – und die Rückführung auf Luther überflüssig, da fraglich ist, war die
Wendung nicht nur am Anfang, sondern auch noch im letzten Drittel des
zwanzigsten Jahrhunderts fast jedem Gymnasiasten geläufig und man findet sie
auch in jeder Sprichwörtersammlung, so dass es nicht des (mit Dank erwähnten)
Informanten bedarf, um das „Geheimnis" des „mundus vult …" aufzuklären. Einige
wichtige Begriffe aus der jüdischen Tradition werden dagegen nur ungenügend
erklärt, obwohl man gerade für sie ein vertieftes Hintergrundwissen bei einer
breiteren Leserschicht nicht voraussetzen darf. Das Wort „pargod" (S. 96)
– ganz unzulänglich als „dort oben" übersetzt – müsste auch im deutschen Text
„der Pargod" lauten und seine vor allem im Talmud (z.B. im Traktat Baba Mezia
59a) konstituierte und konnotationsreiche Bedeutung erklärt werden.
Die Einleitung bietet manche aufschlussreichen Informationen zu Grinberg und zu
den für seine Dichtung relevanten Hintergründen, sowie zu möglichen
intertextuellen Bezügen zur deutschen expressionistischen Dichtung oder zur
„Wahl des Jiddischen" für den Mephisto (S. 50f.), ist aber streckenweise
redundant, durch einen manchmal unangenehmen „kulturwissenschaftlichen" Stil
gekennzeichnet und erweckt oft den Verdacht der Falsch- bzw. Überinterpretation.
Besonders bedauerlich ist das Fehlen eines kurzen Abrisses der Rezeption des
Mephisto seit seinem Erscheinen.
Einige Fehler haben sich eingeschlichen, die dem Lektorat hätten auffallen
müssen; etwa schon die falsche Nennung des Zeichners des Porträts am Umschlag:
Sein Name war nicht „Henrik Berlen" (S. 4), sondern Henryk Berlewi (1894-1967),
immerhin ein nicht unbedeutender Künstler – gerade auch im Bereich der modernen
Jiddisch-Kultur. Wo von „trochäischem Versmaß" (S. 24) gesprochen wird, handelt
es sich tatsächlich um ein daktylisches.
Dennoch ist diese neue Ausgabe des Mephisto zu begrüßen – weitgehend aber
nur deswegen, muss leider gesagt werden, weil sie den Originaltext wieder
einmal zugänglich macht. Und jenen Leserinnen und Lesern, für die er
unzugänglich ist, können die Übersetzung, so unzuverlässig sie auch teilweise
ist, und die Einleitung einen ersten Eindruck des Mephisto
vermitteln. Eine stark revidierte Neuausgabe dieser Neuausgabe wird vielleicht
künftig einmal dem gewaltigen Original gerechter werden.