Im Israelitischen Obdachlosenheim in Wien 2, Tempelgasse 3c
wohnten zwischen 1946 und 1953 Frau Adler aus Rumänien, aus Wien Familie Egon
und Selda Alten mit ihren Söhnen Heini (Jucies) und Peter, Herr Hans Berkowitz,
Herr Paul Braun, der Tischler Herr Breier, die Heimleiterin Frau Citron sowie
Olga und Ella, Frau Dorothea Gamliel (Braun) mit ihren Kindern Hans und Erika,
Frau Goldberger, Frau Klein mit ihren Töchtern Ruth und Liliane, Familie
Kupfermann mit ihrem Sohn Juscho, Frau Mark mit ihrem Sohn Alexandre, Familie
Müller mit ihren Söhnen Herbert und Erwin, Familie Mundstein mit ihren Söhnen
Walter und Heinz, Familie Nadel mit ihrem Sohn Walter, Familie Persak mit ihren
Kindern Lotte und Peter, Familie Rerucha mit ihrer Tochter Inge und ihrer
Enkelin Hanni, Familie Robitscheck, Familie Rosenkranz mit ihrer Tochter Vera,
Familie Rosenkranz (Schusterbetrieb) mit ihren Söhnen Walter und Kurt, die
extern wohnte, Familie Schärf mit ihren Söhnen Hans, Robert und Gerry, Frau
Schiller, Familie Sehr mit ihrer Tochter Hanni, Frau Seidel und ihr Sohn Heinz,
Familie Wachtel mit ihrem Sohn Burli, Frau Trude, ein Fräulein, jung und
wahnsinnig, der Altwiener Herr Dr. Erdös, die Familie Cincinati mit ihrem Sohn
Danusch aus Polen, Frau Pollermann sowie Frau Rosenberger mit ihrer Tochter
Hanni sowie zwei Söhnen, die auswärts wohnten, aus Ungarn, die Wienerin Frau
Weiß mit ihren Kindern Jean und Liliane sowie ihrem Lebensgefährten Tonino,
einem Italiener, und mit nicht bekannter Herkunft Herr Diamant sowie die
Familien Friess, Kahn oder Kahane, Krummholz, Familie Schneider mit ihren Söhnen
Erwin und Alexander, Herr Schmierer und sein Sohn Nathan, Herr Wendlinger, Herr
Tannenzapf, eine Familie mit ihrem Sohn Jitzhak, sowie eine Familie mit ihrer
Tochter Yvette.
E m i g r a n t e n
Es muss 1943 oder 1944 gewesen sein. Hans war drei Jahre alt
geworden. Nach seiner Geburt wurde er von seiner Mutter mit dem Namen Hans
bedacht, jedoch aus Sicherheitsgründen mit einem serbischen Namen gerufen. Sein
Erinnerungsvermögen begann sich um diese Zeit zu bilden, und vieles, was seither
geschah, setzte sich für immer in seinem Gedächtnis fest. Bei Serben hatten er
und seine Mutter, sie hieß Dorothea, Unterschlupf gefunden. Es war ein kleines
Bauernhäuschen auf dem Lande, wo sie ein winziges Zimmer benutzen durften. Auch
Erika, seine um zwei Jahre jüngere Schwester, ebenfalls mit einem serbischen
Namen gerufen, war mit ihnen, doch daran konnte Hans sich nicht erinnern. Alle
drei mussten sich in diesen Jahren versteckt halten, weil ein gewisser Mann
namens Hitler die „Endlösung" des so genannten Judenproblems in Europa anstrebte
und Dorothea und ihre Kinder Juden waren.
Hans und seine Mutter lagen, er fest von ihr umschlungen, auf einem Bett. Beide
lauschten, sie bestimmt angstvoller als er, dem markantem Geheul der gerade jene
Gegend überfliegenden Stukas zu. Auch, zwar nur vage, erinnert Hans sich an die
übermächtig stark strahlenden Scheinwerfer, die, sobald die Nacht hereinbrach,
das Himmelsgewölbe nach Flugzeugen absuchten. Viele Jahre später kam Hans exakt
diese Episode immer dann in den Sinn, wenn er eine Kinovorstellung besuchte.
Eine amerikanische Filmgesellschaft verwendet
nämlich im Vorspann als ihr Markenzeichen solche starken, in den nächtlichen
Himmel strahlenden Scheinwerfer. Lustig fand es Hans, wenn er mit seiner Mutter
auf dem Perron eines Vorortbahnhofes stand, um auf eine der spärlichen
Zugverbindungen zu warten. Selbstverständlich waren Dorothea und ihre Kinder
längstens mit von serbischen Freunden bestens gefälschten Papieren ausgestattet
worden, welche sie als jugoslawische Staatsbürger auswiesen. Derweil sie so
warteten kam es vor, dass aus einem kleinen, die Ortschaft überfliegenden
Doppeldecker
haufenweise Zettel abgeworfen wurden. Diese flatterten im weiten Umfeld, aber
auch in ihre unmittelbare Nähe nieder. Auf diesen waren Parolen aufgedruckt, die
zum Widerstand gegen Nazideutschland und die Landbesetzer oder zur Denunziation
von Partisanen und deren Sympathisanten aufriefen, je nachdem, welche Gruppe
gerade in der Lage war, derlei Material gefahrlos abwerfen zu können. So
jedenfalls erklärte es Dorothea ihrem Sohn, als er sie später einmal darüber
fragte, was er leider viel zu selten tat.
Hans war mitten in die schrecklichen Kriegsjahre hinein, am 25. Dezember 1940
geboren worden. Sein Geburtsort, ein winziges Nest, lag direkt an der
ungarischen-jugoslawischen Grenze. Der Ort heißt Subotica, wird von den Ungarn
aber Sobotka genannt. Das einprägsame Geburtsdatum ließ seine Mutter bei
Erzählungen darüber immer das gleiche sagen, nämlich, dass ihr Sohn für sie ein
viereinhalbe Kilo schweres Weihnachtsgeschenk gewesen sei.
Als Dorothea selbst noch Kind gewesen war, hielt sie sich oftmals mit ihren
Eltern, ihren drei Geschwistern, der Großmutter, die von allen Amama genannt
wurde und den beiden Schwestern ihres Vaters, die Dorothée und Fridica hießen,
in Jugoslawien auf. Vater Adlerico Gamliel war Kaufmann von Beruf und
Honorarkonsul. Er handelte mit Waren aller Art, am häufigsten jedoch mit
Rohseide und Rohkaffee. Mit seiner Arbeit und dem daraus
resultierenden guten Verdienst konnte er seine große Familie sehr gut ernähren
und den einigermaßen aufwendigen Lebensunterhalt bestreiten. Adlericos Vater,
Jacques Gamliel, war schon früher, als sie noch in Thessaloniki lebten, wo er
ein künstlerisches Fotoatelier betrieb, an Herzversagen verstorben. Aus
Thessaloniki stammte Jacques Gattin Lea, er selbst kam aus Varna in Bulgarien.
Nach Jacques Tod zog Lea mit ihren drei Kindern Adlerico, Dorothee und Fridica
von Griechenland nach Oesterrreich, wo sie sich in Wien niederließ.
In Wien lernte Adlerico eine junge Dame, die ausgebildete Konzertpianistin war
kennen. Sie hieß Elfriede Klein und war ebenso von ihm wie er von ihr angetan.
Adlerico, der fesche jüdische Kaufmann, machte der jungen hübschen Pianistin
lange den Hof, sie gestanden sich ihre gegenseitige Liebe und beschlossen zu
heiraten. Davor konvertierte Elfriede vom katholischen zum jüdischen Glauben.
Sie musste einiges Lernen in Kauf nehmen, um nach jüdischer Sitte im größten
Tempel Wiens, dem jüdisch-türkischen in der Tempelgasse, getraut werden zu
können.
Die Gamliels hatten in der Liniengasse 40, im sechsten Bezirk, eine
größereWohnung angemietet. In diesem Hause kamen die Kinder Dorothea und Gaston
auf die Welt. Die Zwillinge Yvonne und Albert kamen während eines Aufenthalts in
Jugoslawien zur Welt. Daheim wurde Griechisch, Türkisch, Spanisch,
Serbokroatisch, Französisch und natürlich auch Wienerisch gesprochen. Häufig
wurden Feste gegeben und dabei viele Freunde und Bekannte empfangen und
grosszügigst bewirtet. Den Namen GAMLIEL (GAMALIEL) hatten mehrere Patriarchen
aus dem Hause Hillel. Gamliel II., Tannaite (1.-2.
Jahrhundert), war nach der Zerstörung Jerusalems der erste Patriarch (Nassi) und
Vorsitzende des Synhedrions zu Jawne.
Adlerico verabsäumte nicht, seiner geliebten Gattin einen prachtvollen schwarzen
Konzertflügel zu kaufen und diesen in einem der vielen Zimmer aufzustellen. So
musste Elfriede häufig auf Bitten von Gästen etwas auf dem Flügel zum Besten
geben. Adlerico spekulierte nicht ungern an der Börse. Machte er Gewinne, was
oft der Fall war, dann
wurde fast übermäßig gelebt. Er überhäufte seine geliebte Gattin mit viel
Schmuck und wertvollen Teppichen.
Einmal, als wieder eine größere Gesellschaft zugegen war und zu
fortgeschrittener Zeit Elfriede wieder und wieder gebeten wurde, doch etwas auf
dem Klavier zu spielen, sie aber nicht besonders erpicht war, meinte sie, um dem
andauernden Bitten Einhalt zu gebieten, dass sie nur auf einem weißen Flügel
spielen könne. Natürlich sagte sie dies im Spaß, jedoch mit
ernster Miene. Adlerico ließ am folgenden Tag, den schwarzen Flügel gegen einen
weißen austauschen. Es ging ihnen ausgezeichnet, denn Adlerico war nicht nur
stiller Teilhaber einer Wiener Klavierfabrik, sondern auch einer
Versicherungsgesellschaft mit einem beträchtlichen Aktienpaket.
Als sprachgewandter Kaufmann bevorzugte es Adlerico, sich mit der ganzen großen
Familie stets da niederzulassen, wo sich auf längere Zeit gute Geschäfte machen
ließen. Es war daher nicht ungewöhnlich, wenn sie für Monate Wien verließen, die
Wohnung wohl behielten, ihre Zelte aber in Skopje, Belgrad oder in Thessaloniki
aufschlugen. Die Kinder besuchten die
Schulen stets dort, wo sie sich niederzulassen gedachten, wuchsen dadurch
mehrsprachig auf.
Dann kam das Jahr 1938. Sie waren wieder in Wien ansässig, doch plötzlich für
viele ihrer Freunde und Bekannten «die Juden» geworden. Vom Hofe des Hauses in
der Liniengasse aus wurden sie mit antisemitischen Parolen bedacht und
angepöbelt. Um den Mob ruhig zu halten, warf Elfriede so manches lieb gewonnene
Schmuckstück hinunter. Jetzt schien es Adlerico und Elfriede angebracht, sich
mit allen Angehörigen raschest nach Jugoslawien abzusetzen. In Österreich nahmen
Judenverfolgung und „Arisierung" immer größere Ausmaße an, und mit der
«Reichskristallnacht» war für Adlerico ihre Abreise endgültig beschlossen.
Jugoslawien kannten sie durch ihre oftmaligen Aufenthalte ausgezeichnet. Das
Land war ihnen schon zur zweiten Heimat geworden, schien ihnen auch die nötige
Sicherheit vor Hitler und dessen unzähligen Schergen zu bieten. Es schien aber
nur so, denn bald marschierten die Deutschen auch in Jugoslawien ein. Nun
mussten sich die Gamliels selbst hier verstecken, was aber mit so vielen
Familienangehörigen mehr als schwierig war. Eine Zeitlang gelang es ihnen, dann
jedoch überschlugen sich die Ereignisse. Gaston, Dorotheas jüngerer Bruder,
trank verseuchtes Wasser und erkrankte an Typhus. Sich verborgen zu halten und
für den schwer erkrankten Sohn ärztliche Hilfe zu bekommen wurde immer
schwieriger und zuletzt unmöglich. Da die Deutschen immer näher kamen, mussten
die Gamliels immer öfter ihr Versteck wechseln. Gaston, der hochintelligente
Sohn, der ausgezeichnet malen konnte und sich auch in der Poetik verstand,
dessen stechend scharfer Blick eine große Ähnlichkeit mit jenem von Franz Kafka
hatte, starb im Alter von nur achtzehn Jahren.
Gastons Tod war ausschlaggebend für den Zusammenbruch seiner Eltern,besonders
für den seiner Mutter. Sein Tod sollte auch das Todesurteil für einen Grossteil
der weiteren Familienangehörigen werden. Die Eltern wollten und konnten nicht
mehr gegen ihre Verfolger ankämpfen und andauernd flüchten. So wurden - bis auf
Dorothée, Adlericos Schwester, die sich mit ihrer kleinen Tochter Editha nach
Israel durchschlagen konnte, und Dorothea, die Tochter Adlericos und Elfriedes -
alle, von der greisen Amama Lea angefangen, bis hin zum zweijährigen Mischa, dem
Sohn Fridicas, der jüngeren, hochschwangeren Schwester Adlericos von den
Deutschen gefasst, ins Konzentrationslager Treblinka nach Polen deportiert und
vergast.
Dorotheas Mutter Elfriede hatte in Wien eine Schwester, die Andrea hieß und mit
Karl Haas, einem Zeugen Jehovas, verheiratet war. Andrea war übrigens eine der
ersten Frauen in der Stadt, die den LKW-Führerschein machte. Karl verweigerte
beim Militär den Dienst mit der Waffe, wurde verhaftet, nach Moabit gebracht und
enthauptet. Andrea hielt Karl ihr
weiteres Leben hindurch die einmal versprochene Treue, selbst über den Tod
hinaus und hat nie mehr geheiratet.
Nun war Dorothea auf sich alleine gestellt. Sie schlug sich zu Freunden in der
Nähe von Belgrad durch, immer auf der Hut, nicht als Österreicherin und schon
gar nicht als Jüdin entlarvt zu werden. Sie war sich vollkommen bewusst, dass
sie jeder Person, nicht nur Fremden, auf Leben und Tod ausgeliefert war. Es
waren Serben, bei denen sie Unterschlupf und Schutz fand. Sie konnte deren
Kinder beaufsichtigen und ihnen in schulischen Belangen behilflich sein. Diese
Familie hatte einen Sohn, der etwas älter als Dorothea war. Ob sie sich in einer
verzwickten Situation befand, ob sie erpresst wurde oder ob es Zuneigung war,
ist nicht bekannt. Jedenfalls hatten die beiden ein Verhältnis miteinander, denn
in dem Körper der Zweiundzwanzigjährigen begann ihr Sohn Hans zu entstehen.
Zwei Jahre danach, Dorothea lebte längst nicht mehr bei jener Familie, jedoch
nach wie vor als U-Boot getarnt in Belgrad, schenkte sie am 21. November 1942
einer Tochter das Leben. Der Vater des Mädchens Erika war nicht der Vater von
Hans. Es war ein Wiener Polizist, der nach Jugoslawien abkommandiert gewesen
war. Wie und wodurch sich Dorothea und der Polizist kennen lernten, ist nicht
bekannt. Weder Hans noch Erika fragten ihre Mutter, selbst als Erwachsene,
jemals danach. Es könnte aber die Wiener Sprache gewesen sein, die beide
zusammengeführt hatte, denn kurz vor ihrer Niederkunft wurde Dorothea, bei einer
der häufig erfolgten Razzien mitgenommen und in ein Belgrader Gefängnis
gesteckt. Zwischen Partisaninnen und Prostituierten brachte sie Erika zur Welt.
Bis Dorotheas falsche Papiere als echt befunden wurden, musste sie in Haft
bleiben. Während dieser Zeit halfen ihre Mitgefangenen eifrig dabei, ihr Baby zu
versorgen. Die feuchten Windeln trockneten sie, indem sie diese fest an ihre
wärmenden Körper pressten. Vielleicht war der Wiener Polizist Dorothea und ihrer
Tochter irgendwie behilflich, rascher aus der Haft entlassen zu werden?
Sicher trugen die ausgezeichnet gefälschten Papiere wie auch der Umstand, dass
sie die Landessprache derart perfekt beherrschte und zu keiner Zeit auch nur ein
Wort Deutsch sprach, dazu bei. Sobald sie entlassen wurde, tauchte sie unter, um
sich von der überstandenen Geburt und den ausgestandenen Ängsten etwas zu
erholen. Hans war diese Zeit über bei serbischen Freunden untergebracht.
Viel zu lange dauerte die Hitlerzeit und viel zu langsam ging sie dem Ende
entgegen. Schon schrieb man das Jahr 1945. Bei Dorothea begann sich an einer
Halsseite eine Geschwulst, ein Ödem zu bilden, welches zuletzt die Größe eines
Kinderkopfes erreichte. Ein operativer Eingriff wurde unumgänglich. Man brachte
Dorothea, natürlich mit ihren gefälschten Papieren, in ein nahe gelegenes
deutsches Lazarett. Während rundum die Kämpfe gegen die anrückende Sowjetarmee
immer heftiger wurden, begann Dorotheas Operation. So angstvoll sie sich unter
das von einem Deutschen geführte Skalpell begab, so überglücklich und äußerst
erstaunt erwachte sie nach der Narkose, jetzt aber von russisch und serbisch
sprechenden Medizinern umgeben. Von übergroßem Glücksgefühl erfasst und in der
Gewissheit, dass sie in jeder Hinsicht endlich gerettet war, weinte sie
unaufhörlich.
Der fürchterliche Krieg, die Verfolgung, das Frieren und das Hungern waren
endlich vorbei. Sie musste nicht mehr um ihr und das Leben ihrer Kinder zittern.
Die deutschen Besatzer wurden immer weiter zurück getrieben und letztlich
geschlagen und alsbald der Krieg in Jugoslawien offiziell als beendet erklärt.
Für Dorothea war es nur vorrangig, mit den Kindern in die Heimat, nach Wien, zu
gelangen. Wo sich ihre anderen Familienmitglieder aufhielten, darüber hatte sie
nicht die geringste Ahnung. Die schreckliche Wahrheit sollte sie erst später
erfahren. Jetzt musste sie versuchen, mit den gefälschten Papieren die schwer
gesicherten Grenzen zu passieren.
Heimkehr mit vielen Hindernissen
Nachdem sie sich und die Kinder an der Grenze zu Österreich als Wienerin und
Jüdin ohne jedwede authentische Dokumente deklarierte, aber nur jugoslawische
Papiere in ihren Händen hatte, wurde sie prompt vom englischen Militär für sechs
Tage in Leibnitz im Bezirksgericht inhaftiert. Die gefälschten Papiere waren
selbstverständlich konfisziert worden. Von nun an hieß es für sie, ohne
jedwelche Papiere von einer militärischen Besatzungszone in die andere durch
Österreich zu gelangen. Dies mit zwei Kleinkindern im Schlepptau und den
Erinnerungen der erst kurz zu Ende gegangenen, schrecklichen Vergangenheit im
Kopfe. Es gelang Dorothea allemal, denn sie war eine Meisterin der
Improvisation.
Die erste Station war Schloss Neuhaus. Hier waren bereits andere Kinder,
vermutlich Waisen, untergebracht. Zum Schloss, das auf einer Anhöhe lag, führte
ein steiler Weg hoch. Manchmal durften Kinder mit dem Gutsknecht, der ein
Pferdegespann führte, diesen steilen Weg hochfahren. Hans genoss dieses
Erlebnis, denn die beiden Apfelschimmel mussten sich mächtig ins Zeug legen, um
den Holzkarren und die aufgebürdete Last hochzuziehen. Der Aufenthalt war nur
von kurzer Dauer. Es drängte Dorothea nach Wien und danach, endlich über das
Schicksal ihrer weiteren Familienmitglieder zu erfahren.
Von Neuhaus gelangten sie in die Landeshauptstadt der Steiermark. In Graz
angekommen wurden sie im kleinen Hotel „Schimmel" einquartiert. Da sie völlig
mittellos waren, wurden sie von englischen und amerikanischen
Hilfsorganisationen, die amerikanische hieß Joint, unterstützt. Hans befand sich
im fünften, Erika im dritten Lebensjahr. Das Hotel, in welchem sie nun für
einige Monate eine Bleibe haben sollten, befand sich nicht unweit vom Grazer
Opernhaus. Einige der Mitbewohner waren Künstler, die am Opernhaus beschäftigt
waren. Die berühmtesten Namen waren Cebotari und Diessel, aber auch Gaster und
Tichov. Die Tichovs waren Bulgaren, und Mimi Tichovs Tochter, gleich alt wie
Hans, war dessen Spielgefährtin. Vater Tichov war Opernsänger. Ab und zu war
Hans in dessen Zimmer zugegen, wenn Herr Tichov gerade damit beschäftigt war,
die Tonleiter hinauf und hinunter zu singen. Ein anderes Paar, die Gasters,
waren beide Operettensänger. Auch sie waren
am Opernhaus engagiert gewesen. Mit ihnen ging Dorothea eine engere Freundschaft
ein. Sie sprachen viel über Gesang und Musik, war doch Dorothea vor
Kriegsausbruch bei dem bekannten Wiener Opernsänger Hans Duhan in
Gesangsausbildung gewesen.
Die Namen Cebotari und Diessel waren zu dieser Zeit vielen Menschen ein Begriff.
Die beiden waren miteinander verheiratet und ein reizendes Ehepaar. Die
Cebotari, eine begnadete, weltweit bekannte Opernsängerin, äußerst attraktiv
aussehend, stammte aus Bessarabien (Rumänien), Herr Diessel war Deutscher, sah
ebenfalls blendend gut aus und war Filmschauspieler von Beruf. Damals im Hotel
Schimmel war das Ehepaar noch kinderlos gewesen. Begegnete man einander in der
Hotelhalle oder auf dem Korridor, war besonders Herr Diessel von Erika sehr
angetan. Er unterließ es dann nie, die kleine Blondgelockte in seine Arme zu
nehmen, hoch zu heben und zu liebkosen. Ein paar Jahre später war dem Ehepaar
das Glück beschieden. Sie waren Eltern von zwei Knaben geworden. Leider wurden
die Buben noch im Kindesalter zu Vollwaisen.
Kurz hintereinander verstarben beide Elternteile viel zu jung und zu früh. Diese
erschütternde Begebenheit hatte noch ein trauriges Nachspiel. Nach dem Tod des
Künstlerehepaares wollte deren langjährige Haushälterin in England für die
beiden Kinder und deren Erziehung sorgen und sie auch adoptieren. Die örtlichen
Behörden entschieden jedoch gegen das Ansinnen der Haushälterin. Die
Waisenknaben wurden ihrer Obhut entzogen. Dies wiederum nahm sich die Frau
dermaßen zu Herzen, dass sie sich das Leben nahm.
Noch in Graz erhielt Dorothea öfters Freikarten zu Operettenaufführungen in
welchen die Gasters mitwirkten. Oft nahm sie Hans als Begleitung mit sich. Hans
verstand damals, auch wenn seine Mutter ihm dies und jenes zu erklären
versuchte, überhaupt nichts davon. Von den herrlichen Melodien blieb in ihm
jedoch sehr viel haften. Durch die häufige Mitnahme des Knaben übertrug Dorothea
ihre grenzenlose Liebe zu guter Musik auf Hans. Erika, die zum Mitnehmen noch zu
klein war, wurde bei Tichovs im Hotel zurückgelassen. Hans wurde nicht nur zu
Operettenaufführungen, sondern auch auf so genannte Hamstertouren mitgenommen.
Gehamstert wurde zu Abendzeiten. Hamstern bedeutete damals, sich im Tauschhandel
oder gegen harte US-Dollars, so man welche besaß, bei Bauern auf dem Lande
Nahrungsmittel zu beschaffen. Diese Art Handel war verboten, kümmerte aber kaum
jemanden. Vermutlich wurde der Knabe nur zwecks Tarnung mitgenommen.
Immer noch in Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, lernte Dorothea einen
gleichaltrigen Mann kennen. Er, so jung und rotblond wie sie, war eben erst aus
der Sowjetunion, vom „Kampf" und aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Beide
achtundzwanzigjährig, meinten sie, gemeinsam ihr neues Leben in Angriff nehmen
zu wollen und zu können. Sie träumten und glaubten an das zukünftige Glück und
heirateten. Doch schon ein halbes Jahr nachdem sie den Bund fürs Leben
eingegangen waren, ging ihre Ehe in Brüche. Dass das Scheitern dieser Ehe seine
Mutter arg bedrückte und sie deshalb sehr viel weinte, blieb Hans lange in
Erinnerung. Blickte Hans in späteren Zeiten darauf zurück, so meinte er, dass
der fesche Grazer nicht der rechte Lebenspartner für seine Mutter gewesen war.
Zwischen den
Ehepartnern hatte ein zu großer geistiger Unterschied bestanden. Etwas Positives
hatte die Trennung, denn Dorothea machte sich nun umgehend daran, mit den
Kindern auf dem allerschnellsten Weg nach Wien zu reisen.
Während der ganzen Zeit, in der sie sich nun wieder in
Österreich aufhielten, erfasste Dorothea jede Möglichkeit, um an Nachricht über
ihre verschleppten Angehörigen zu gelangen. Bislang jedoch war alle Mühe
vergeblich. Endlich waren sie, unzählige Hindernisse umgehend und überwindend,
in Wien angekommen. Die ersten Tage fanden sie bei einigen Bekannten Dorotheas
oder ihrer Eltern Unterkunft, was auf Dauer keine Lösung war. Selbst bei
Dorotheas Tante Andrea, deren Mann in Moabit umgebracht worden war, konnten sie
nur kurze Zeit bleiben. Tante Andrea hatte nämlich, noch während des Krieges,
ein Mädchen als Ziehtochter bei sich aufgenommen und, obschon es sich um einen
Teil der großen, vor dem Krieg gemieteten Wohnung von Dorotheas Eltern handelte,
war diese für sie alle, um darin wohnen zu können zu klein, denn im übrigen Teil
der Wohnung waren, nachdem die Gamliels geflüchtet waren, sofort „arische"
Mieter eingezogen.
Mittlerweile hatte Dorothea von der wieder existierenden Israelitischen
Kultusgemeinde vernommen und war dort umgehend vorstellig geworden. Es hieß,
dass man Juden dort helfen würde und über vermisste Angehörige gezielte
Nachforschungen anstellen könne. Also fragte sie dort an, und einige Zeit danach
wurde ihr die schreckliche Mitteilung gemacht, dass nur
ihre Tante Dorothée noch von Jugoslawien mit ihrer Tochter Editha nach Israel
flüchten konnte. Alle weiteren Familienangehörigen waren vergast worden. Das war
der fürchterlichste Tiefschlag im noch so jungen, mit so viel schlimmen
Ereignissen gespickten Leben Dorotheas.
Gegenüber ihren innigst geliebten Kindern verstand sie es meisterlich, ihren
Gemütszustand zu verbergen, der sie aber fortan gesundheitlich, besonders ihr
Herz betreffend, zeichnen sollte. Welche Kräfte und Größe hatte diese junge,
dermaßen leidgeprüfte Mutter? Später erzählte sie, nicht nur ihren Kindern, dass
eben diese beiden ihr größtes Glück waren und nur sie ihr die Kraft und vor
allem den Willen zum Weiterleben aufrecht erhalten hätten. Ohne die Kinder hätte
sie weder dies noch jenes wollen und können.
Unmittelbar nach der ersten Vorsprache bei der Kultusgemeinde wurde Dorothea und
den Kindern eine Bleibe im Jüdischen Obdachlosenheim zugewiesen. Das Heim befand
sich in der Leopoldstadt, im zweiten Wiener Gemeindebezirk, in der Tempelgasse,
im Haus Nummer 3. Dorothea war müde aber sehr froh, endlich eine Unterkunft zu
bekommen, von welcher sie nicht nach wenigen Tagen wieder weg mussten.
Das Heimleben
Das Heim, ein dreistöckiges Backsteingebäude, es steht noch
heute und ist inzwischen renoviert, grenzte damals, durch einen langen Hof
getrennt, an die Ruine des von den Nazihorden zerstörten jüdisch-türkischen
Tempels, in welchem einst Dorotheas Eltern getraut worden waren. Als sie im Heim
von Frau Citron, der Heimleiterin empfangen und mit ihren Kindern aufgenommen
wurde, wies Frau Citron dem sechsjährigen Hans das letzte freie Bett in einem
Männerzimmer zu. In diesem waren ausschließlich alte und kranke Männer
untergebracht. Inmitten dieser Verbitterten bezog der Knabe seine Bettstatt.
Alle Betten waren aus Eisenrohren gefertigt, weiß lackiert und von einander
durch Nachtkästchen, aus ebensolchem Material bestehend, getrennt.
Manche der Männer sah Hans nur am Abend, wenn sie zum Schlafen kamen, andere
wiederum verließen ihr Bett fast nie. Gesprochen wurde kaum ein Wort, zu sehr
war jeder mit seinen Problemen und der erst kürzlich zu Ende gegangenen
Vergangenheit beschäftigt. So lebte man eine Zeitlang auf allerengstem Raum wohl
gemeinsam, jedoch aneinander vorbei. Ab und zu stritten Männer miteinander, wenn
dem einen die Zimmerluft zu stickig war und er ein Fenster öffnete, dem anderen
aber die Zugluft unerträglich
schien. An einer Wandseite des Zimmers stand ein länglicher Kasten, ebenfalls
weiß, der zur Benutzung für alle den Raum Bewohnenden bestimmt war, da aber
niemand etwas zum Hineinhängen oder -legen besaß, blieb er unbenutzt. Der
Einfachheit halber hing man die Kleider, die man tagsüber trug, abends über das
Bettende oder legte sie direkt neben sich auf
das Nachtkästchen. Hans hatte auch bemerkt, dass sich einer der Männer gar mit
seinen Kleidern zu Bett legte. Ein anderer der Alten im Zimmer, dessen Gesicht
ein dicker, schwarzer Schnurrbart zierte, lag fast immer in seinem, an die Wand
anstoßendem Bett. Dieser hatte zudem die Angewohnheit - vielleicht konnte er
sich nicht mehr anders verhalten – seinen wahrscheinlich tuberkulösen Schleim
lautstark hervor zu husten und auf ein unter seinem Bett ausgebreitetes Papier
auszuspucken.
Dorothea und Erika landeten in einem Zimmer, das mit Frauen belegt war. Dieses
Zimmer konnten sie nur erreichen, indem sie ein anderes Zimmer, ebenfalls
bewohnt, durchquerten. Auf Dauer war dies für alle Betroffenen untragbar, da
andauernd Reibereien entstanden. Dadurch, dass es nur am Stiegengang und in der
Gemeinschaftsküche fließendes Wasser gab und sich die beiden Etagenklosette
ebenfalls außerhalb der Zimmer befanden war es unvermeidlich, bei derart vielen
Menschen, dass einmal dieser, dann jener ein Bedürfnis zu erledigen hatte und
das Zimmer deshalb verlassen und auch wieder betreten musste. Ehe es daher zu
Exzessen kam wurde die Heimleitung gefordert, eine für alle befriedigende Lösung
auszuarbeiten. Nun wurde umquartiert. Dorothea, die mit der Unterbringung ihres
Sohnes ohnehin nicht einverstanden war, wurde ein winziges Einzelzimmer
zugewiesen, womit sie sich vorläufig zufrieden gab. Aber auch hier mussten sie,
um es zu erreichen, zuerst ein anderes Zimmer durchschreiten. Es störte aber die
Bewohnerinnen, Frau Adler, eine allein stehende Rumänin und Frau Rosenberger mit
ihrer Tochter Hanni, die Ungarinnen waren, nicht oder nur wenig, wenn die junge
Mutter oder deren kleine Kinder durch ihr Zimmer mussten. Hanni war auf den Tag
genau ein Jahr älter als Hans. Alle Heimzimmer waren von Ungeziefer,
hauptsächlich von Wanzen befallen. Daher besorgte sich Dorothea das zu dieser
Zeit hochgelobte und durch viele Plakate angepriesene Insektenvernichtungsmittel
DDT. Dieses Mittel wurde als Pulver in kleinen, runden und handlichen
Kartonschachteln in Drogerien verkauft. Hatte man es erworben, mußte man nur ein
nageldünnes Loch seitlich einstechen und durch leichtes Zusammendrücken der
Schachtel schoss aus dem Loch das Pulver dahin, wo man es benötigte. Hans machte
sich, wo immer er Ritzen oder Löcher im Zimmer entdeckte daran, jene mit dem
Pulver zu bestreuen. Er entdeckte an den Wänden viele schmale bräunliche
Streifen welche einstmals rot gewesen waren und von zerdrückten Wanzen stammten
denen Vorbewohner des Zimmers den Garaus gemacht hatten. Das Pulver half
tatsächlich sehr gut gegen das viele Ungeziefer.
Eine andere Familie, ebenfalls im Heim untergebracht, hieß Persak: Vater, Mutter
und die Kinder Lotte und Peter. Der Vater war im Innendienst bei der Polizei
beschäftigt, wodurch die Familie ein wenn auch geringes so doch regelmäßiges
Einkommen und somit auch Auskommen hatte. Lotte, die etwa im selben Alter wie
Hans war, spielte gerne mit ihm und Erika, da sie zeitweilig die einzigen Kinder
zwischen den vielen, hauptsächlich alten Bewohnern des Heimes waren. Lotte
spielte am liebsten „Vater, Mutter, Kind". Das spielte sie so oft und so lange
wie möglich. Hans, den dieses Spiel auf Dauer zu langweilen begann, sonderte
sich nach einer Weile regelmäßig ab und ließ so die restliche Familie „sitzen".
Außerdem war Persak`s das Glück wesentlich holder als Gamliels, denn sie konnten
bald schon in eine Gemeindewohnung am Schöpfwerk, in den zwölften Bezirk,
übersiedeln. Sobald Dorothea und die Kinder sich im Heim eingelebt hatten,
wählte Hans die Tempelruine als bevorzugten Aufenthalt. Dabei war ihm mit seinen
sechs Jahren keineswegs bewusst, wie lebensgefährlich das Spielen in und auf der
„Reichskristallnacht-Ruine" für ihn war. Er erzählte seiner Mutter nicht, wie
magisch ihn die schummrigen Abteile der Ruine anzogen. Über die eingestürzten
Balken und Schuttberge, aus welchen noch zerfetzte Gebetbücher und Gebettücher
hervor sahen, ließ es sich so toll herumklettern. Hin und wieder huschten Ratten
umher, die Hans aber keineswegs störten. Er konnte sogar noch zerborstene, arg
verkohlte Sitzbänke erkennen, die aus dem Schutt heraus ragten. Hätte seine
Mutter von dem Treiben gewusst, sie hätte es ihm augenblicklich und ein für alle
Mal untersagt. Manchmal wurde Hans von Passanten beim Umherklettern auf der
Ruine beobachtet, auch einmal von einem angesprochen und gebeten, eine junge
Taube aus einem Nest herunter zu holen. Hans, dem nie in den Sinn gekommen wäre,
dass der sicher hungrige Bittsteller diese Taube daheim verspeisen würde, kam
der Aufforderung gerne nach.
Dorothea erinnerte sich daran, dass ihr Vater Adlerico Teilhaber einer Wiener
Klavierfabrik gewesen war. So machte sie sich gewisse Hoffnungen und brach eines
Tages, mit Hans an der Hand, zu dieser Fabrik auf. Dort angekommen gelang es ihr
mit einem der jetzigen Geschäftsführer ins Gespräch zu kommen und ihre
Geschichte vorzubringen. Dessen Antwort, im Wiener Dialekt ausgesprochen:
„Hab‘ns was in da Hand?" fiel für Dorothea mehr als niederschmetternd aus.
Hans und Erika wuchsen ohne leiblichen Vater auf. Dieser Umstand schien ihnen
gegenüber anderen Kindern, die beide Elternteile hatten, keineswegs als
Nachteil. Ihre Mutter Dorothea verstand es perfekt, mittels ihrer übergroßen
Liebe, die sie gleichermaßen an beide Kinder verteilte, den Gedanken an ein
Vater-Manko niemals aufkommen zu lassen.
Um in das Heim zu gelangen, musste man in den mit Pflastersteinen ausgelegten
Hof eintreten. In der Anfangszeit war der Hof von der Gasse aus frei zugänglich
gewesen. Das rechte hintere Hofeck war einige Quadratmeter von einem Holzdach
überdeckt und wurde von Herrn Breier, dem Tischler, als Abstellplatz für einen
Holzkarren und Holzbretter benutzt. Dann, eines Tages, wurde der Hof mit einem
mehr als mannshohen Bretterzaun und
ebensolchem Tor von der Gassenseite her verbaut und das Tor musste abends
abgeschlossen werden. Zum Flur im Erdgeschoss führten drei, vier Stufen hoch,
die an einem hohen zweiflügeligen, massiven Holztor endeten. Trat man durch
dieses, befand sich unmittelbar zur linken Hand die leer stehende
Hausbesorgerwohnung. Diese war zwar klein, aber mit einer Kaltwasserleitung,
einer kleinen Küche, einem Kohlenofen und Innenklosett ausgestattet, was im Heim
absoluter Luxus war. Von da ging es entweder nach oben oder hinab in den Keller.
Wenige Stufen nach unten führten zum finsteren erdfeuchten Keller und dessen
vielen zu beiden Seiten befindlichen Abteilen. Seiner Feuchtigkeit und
ungenügender Beleuchtung wegen blieb er von den Heimbewohnern unbenutzt - was
hätten sie in ihm deponieren sollen? Viele Stufen führten in einem Halbkreis zum
ersten, zweiten und dritten Stock hoch. Ein gusseisernes, mit vielen
Verschnörkelungen versehenes Geländer, obenauf mit Holzhalterung abgeschlossen,
bot Halt, Stütze und zugleich Schutz. Auf dem Holzabschluss waren in
regelmäßigen Abständen Holznoppen eingearbeitet. Vermutlich dienten sie nicht
nur der Verschönerung, sondern auch dazu, das bei Knaben so beliebte, aber
äußerst gefährliche Hinunterrutschen zu unterbinden. Da altersbedingt schon
mehrere dieser Noppen herausgefallen oder abgebrochen waren, ließen sich
Teilstrecken dennoch hinabrutschen. Sowie Hans sich unbeobachtet wusste benutze
er jede Gelegenheit, um hinunter zu rutschen. Jedes Stockwerk hatte in der
Gangmitte eine Bassena. Das ist ein gusseisernes Wasserbecken, an dessen
Oberteil ein Wasserhahn heraus ragt. Nur von da, und aus einer kleinen
Gemeinschaftsküche, von der es ebenfalls in jedem Stockwerk eine gab, war es den
Heiminsassen möglich, kaltes Wasser zu beziehen. Von allen drei Stockwerken
gelangte man sowohl links wie auch rechts, durch breite und hohe, immer offen
stehende Flügeltüren zu den Zimmern der Bewohner. Diese großen Flügeltüren waren
einstmals die Eingangstüren zu Feudalwohnungen gewesen, so lange, bis dieses
Haus zu einem Obdachlosenheim für überlebende Juden umfunktioniert werden
musste. Vor dem Krieg waren es Wohnungen für jeweils eine Familie gewesen,
hernach mussten in jedem vorhandenen Zimmer so viele Menschen wie möglich
untergebracht werden. Aufgrund des großen nach Kriegsende einsetzenden Ansturmes
auf zu wenig vorhandenen Wohnraum konnte die Heimleitung anfangs auf vieles
keinerlei Rücksicht nehmen. Vielleicht aber war sie auch überfordert. So wurden
fremde Menschen in Zimmern, wohl geschlechtlich getrennt, zusammen
untergebracht, die miteinander weder verwandt noch bekannt waren und häufig auch
noch aus verschiedenen Ländern stammten. Alle aber waren Juden. Jene, die nicht
aus Österreich stammten, konnten das Heim oftmals schon nach kurzem Aufenthalt
wieder verlassen. Daher gab es im Heim immer Bewegung, denn Neuankömmlingen
wurden sofort die frei gewordenen Plätze zugewiesen. Gleich hinter den großen
Gangtüren befand sich jeweils eine Klosettanlage, zwei pro Stockwerk. Während
die Zimmertüren zu den Heiminsassen geschlossen waren, stand die Türe zur
Gemeinschaftsküche stets offen. Die Küchen befanden sich übereinander, und jede
hatte ein kleines, zum Innenhof mündendes Fenster. Schien draußen die Sonne noch
so hell, blieb es in der Küche düster. Da konnte die schwach von der Decke herab
leuchtende Glühbirne kaum Abhilfe schaffen. Zum Kochen standen in jeder Küche
zwei uralte Gasherde mit jeweils fünf Flammen zur Verfügung. An einer Wandseite
war ein längliches, aus Blech gefertigtes Becken angebracht, welches
multifunktionelle Verwendung fand. Mangels anderer Möglichkeiten wurde die Küche
von vielen Heimbewohnern nicht nur zum Kochen, sondern auch als Waschraum zur
Körperpflege benutzt. Dies aber führte nicht selten zu Konfliktsituationen, die
oft nur noch von der Heimleitung geschlichtet werden konnten. Glücklich waren
die wenigen, die ein Behältnis besaßen, in welchem sie Wasser holen und sich
sodann in ihrem Zimmer waschen konnten. Zwar hatten in Wien einige Tröpferlbäder
den Betrieb wieder aufgenommen, doch die Heimbewohner konnte sich die Auslagen
für einen Besuch dort noch lange Zeit nicht leisten. Die Räumlichkeiten der
beiden ersten Stockwerke wurden von der Heimleitung getrennt mit Männern, Frauen
und, so überhaupt noch welche vorhanden waren, mit Familien belegt. Ein
Eckzimmer im ersten Stock war zu einer Werkstatt zur Schuherzeugung
umfunktioniert worden, die von Herrn Rosenkranz, dessen jüngerem Sohn Kurt sowie
einigen Männern und einer einzigen jüngeren Frau, die alle keine Juden waren,
betrieben wurde. Die Rosenkranz’ wohnten in einem Patrizierhaus in der
Taborstrasse, wohin Hans und seine Mutter einmal von Frau Rosenkranz, die
karitativ tätig war, eingeladen waren. Ein Ehepaar, es hieß Cincinati, war aus
Polen kommend gleichfalls im Heim gelandet. Es hatte einen dreijährigen Sohn,
der Danusch gerufen wurde. Wie auch andere Holocaust- Überlebende hatten die
Cincinati einen Tick. Dieser machte sich besonders bei Herrn Cincinati
bemerkbar. Auch diese Familie bewohnte ein winziges, nur mit Stahlrohrbetten,
Nachtkästchen und einem niedrigen Kasten möbliertes Zimmer. Das Elternpaar hatte
panische Angst davor, sich zu erkälten. Daher sah man sie auch im Sommer in
Mäntel und Schals gehüllt einhergehen. Herrn Cincinatis Tick ging so weit, dass,
schien ihm die imaginäre Kälte unerträglich, er sich in den besagten kleinen
Kasten legte, um so seine Einbildung zu befriedigen und sich zu schützen. Hans
selbst sah ihn einmal so im Kasten liegen, als er das Zimmer betrat, um mit
Danusch zu spielen. Danusch war ein Spätling und schien den Erziehungsauftrag
seiner Eltern total zu überfordern. Seine Mutter war dem Dreikäsehoch beim
Durchsetzen ihres Willens eindeutig unterlegen und schien das auch zu wissen. Am
besten zeigte es sich, wenn Danusch essen sollte. Wollte sie Danusch mit einer
Breispeise - sie kochte ihm immer Breispeisen - füttern, wendete sich der
Dreijährige von ihr ab und begann davon zu schreiten. Anstatt Danusch zum
Bleiben zu zwingen, begann Frau Cincinati ihm ebenso gemächlich nachzutrotten.
Mit lockenden Worten gelang es ihr hin und wieder, einen Löffel voll Brei in
seinen Mund zu schieben. Dabei sah sie es gerne, wenn Hans dabei war. Danusch
wich dann nicht von Hans Seite, was ihr das Füttern einigermaßen erleichterte.
Mancher Mutter mag das Hinterherlaufen nicht ungewöhnlich scheinen, wenn es ums
Füttern des Kindes geht. Frau Cincinatis Fütterungsabläufe zogen sich aber nicht
selten fast die ganze Praterstrasse hin, und die erstreckt sich über einen
ganzen Kilometer. Natürlich begann das Essen regelmäßig zu erkalten. War dies
der Fall, scheute sich Danuschs Mutter überhaupt nicht davor, das nächstbeste
Haus zu betreten, an der ersten Türe zu läuten und bittend, dabei auf Danusch
zeigend, zu fragen, ob sie kurz den erkalteten Brei erwärmen dürfe. Dadurch,
dass sie ihr Anliegen in einem kaum verständlichen jiddisch-deutsch-polnischen
Kauderwelsch vorbrachte, sodass die so Angesprochenen nicht selten das Lachen
nur mit Mühe unterdrücken konnten, kamen die meisten ihrem Wunsche nach. Zudem
wussten viele von der Existenz des naheliegenden jüdischen Obdachlosenheimes und
amüsierten sich hinterher über das Vorgefallene. Familie Cincinati war es bald
vergönnt, vom Heim weg nach Kanada, wo Verwandte von ihnen lebten, auszuwandern.
Viele der Heimbewohner hatten wegen der von den Nazi begangenen Gräueltaten,
Schrecklichstes durchmachen müssen. Sie waren Gezeichnete, und bei manchem trat
dies sichtbar zu Tage. Einer, zum Krüppel geschlagen und gequält, konnte sich
nur mit größter Mühe fortbewegen, ein anderer wiederum schien keinen
ersichtlichen Schaden erlitten zu haben. Dafür war sein geistiger Zustand
gebrochen, und zwar dermaßen, so dass sich nie mehr ein normaler einstellen
konnte. Die Menschen mit solchen Eigenschaften, auf allerengsten Raum zusammen
lebend, kamen aus Österreich, Polen, Ungarn, Rumänien und der Tschechoslowakei.
Einmal wurde Hans Zeuge folgenden Vorfalls. Eine sehr junge, bildhübsche, aber
ausgemergelte, alleinstehende Heimbewohnerin, hatte als einzige ihrer Familie
die Jahre im Vernichtungslager überlebt. In unregelmäßigen Abständen erregte
sie, bedingt durch Erlebnisse im Lager, Aufsehen. Dies zeigte sich darin, dass
sie plötzlich den Gang hin- und herlaufend laut vor sich hinzureden, fast zu
schreien begann, wobei die Worte „SS", „Nazi" und „Gestapo" deutlich vernehmbar
waren. Mit der Zeit schenkten die Heimbewohner solchen Anfälle kaum mehr
Beachtung. Die Anfälle der armen Frau waren Normalität geworden. Begegnete man
einander, dann sah man zur Seite. Einmal sorgte ein neuerlicher, extremer Anfall
dafür, dass man die Ärmste aus dem Heim in eine geschlossene Anstalt einweisen
lassen musste. Ehe ihr die herbeigerufene Rettung eine Zwangsjacke anlegen und
sie wegbringen konnte, war sie den Gang laut schreiend, dabei ein Glas klaren
Wassers vor sich haltend, auf und ab gelaufen. Ihre Schreie waren diesmal noch
furchterregender, und sie forderte alle, denen sie auf dem Flur begegnete auf,
zu ihr herzusehen, denn die „SS" nötige sie dazu, ihr eigenes Blut zu trinken.
Gegen das Fortbringen wehrte sich die Bemitleidenswerte vehement -, wer kann
sagen, was der Armen, in ihrem verwirrten Geist, gerade beim Wegbringen durch
den Kopf ging?
Stieg man zum zweiten Stock hoch, war der ganze linke Teil
von der Heimleitung belegt. Die Heimleiterin, eine Frau in den Fünfzigern, hieß
Citron. Mit ihr bewohnten zwei weitere, wesentlich ältere Damen, die es
wünschten, mit ihren Vornamen Frau Ella und Frau Olga angesprochen zu werden die
riesige Wohnung. Alle drei Damen waren von kleiner, rundlicher Statur. Die
beiden älteren trugen Brillen, wobei Frau Olga, die Älteste, fast blind war.
Musste oder durfte man ihre Wohnung betreten, wurde man ausschließlich im lang
gezogenen, dunklen Vorraum empfangen. Die herabhängende schwache Lampe vermochte
den Raum kaum zu erhellen. Nur schemenhaft ließen sich die im Vorraum
befindlichen schweren Möbel ausmachen. Man durfte sein Anliegen vorbringen oder
wurde von Frau Citron belehrt oder ermahnt. Nur einmal begleitete Hans seine
Mutter. Er erinnerte sich aber, dass ihm bei derlei Zeremonie der intensive,
abgestandene, schwere Duft von Obst, welches auf die umherstehenden Kästen
gelegt worden war, in die Nase stieg. Solche Besprechungen wurden in den Zimmern
der Heimbewohner oder im anfänglich vorhandenen Gemeinschaftsraum, der kaum
benutzt wurde, abgehalten. Es war sicherlich nicht einfach, so vielen Menschen
wie auch Mentalitäten, zudem lauter Juden, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen,
sie gar unter einen Hut zu bringen. Die anfangs unsensible Zusammenlegung führte
regelmäßig zu Auseinandersetzungen, die manchmal sogar handgreiflich ausgetragen
wurden. Sonderbar, dass in solchen Situationen keinem der Beteiligten bewusst
war, was sie alles, von Demütigungen bis hin zum Schrecklichsten, in den
vergangenen Jahren ohne Murren und Mucksen hatten erdulden und erleiden müssen.
Dorothea wurde stets dann bei Frau Citron vorstellig, wenn sie in Erfahrung
bringen konnte, dass jemand, der ein größeres Zimmer bewohnte, auszuziehen
gedachte. Mit dem stichhaltigen Argument, dass sie nun die Familie seien, die am
längsten im Heim wohnte, gelang es ihr jeweils, das ins Auge gefasste Zimmer
zugesprochen zu bekommen.
Das Waschen musste mit kaltem Wasser vollzogen werden - im ganzen Haus war nur
Kaltwasser vorhanden. Hatte man das Bedürfnis, das ganz normale Bedürfnis, sich
waschen zu wollen, gab es drei Möglichkeiten. Man konnte dies auf dem
Stiegengang an der Bassena erledigen oder in der Gemeinschaftsküche im
Blechbecken, auch dann, wenn gerade jemand mit Kochen beschäftigt war. Die
dritte Variante war, es in seinem Zimmer zu tun, so man ein Behältnis sich darin
waschen zu können, besaß. Was man auch wählte, im seltensten Fall war man
sicher, ungestört und alleine sein zu können. Verständlich, dass auch da immer
wieder Unstimmigkeiten vorprogrammiert waren, die zu schlichten Frau Citron
aufgerufen wurde. Anhand eines von ihr erstellten Planes, der sowohl die
Reinigungs- als auch die Kochzeiten regelte, sollte Ruhe und Ordnung hergestellt
werden.
Aber kaum einer wollte sich, endlich wieder in Freiheit und
Frieden, noch vorschreiben lassen, was man wann zu tun und wann zu unterlassen
hätte. So hielt der aufgestellte Plan nie länger als zwei Wochen stand.
Anfangs gab es in der Küche keinerlei Probleme, hatte doch
kaum einer der Heimbewohner Geschirr oder Nahrungsmittel zum Kochen. Daher wurde
sie zu der Zeit hauptsächlich als Waschraum benutzt. Um die mittellosen
Heimbewohner zu verköstigen, richtete die Israelitische Kultusgemeinde in der
Leopoldsgasse, im zweiten Bezirk, eine Ausspeisung
ein. Das war eine Art Restaurant in welchem auch arme Juden, die nicht im Heim
wohnten, drei Mahlzeiten pro Tag gratis oder gegen einen geringen Beitrag
einnehmen konnten. Um Gratismahlzeiten zu erhalten, kam es darauf an, in welche
Bedürftigkeitskategorie man eingestuft war. Fast täglich gab es Gersten- oder
Hafersuppe, eingemachtes oder ausgelaugtes Fleisch mit Beilage, sowie einen
kleinen Nachtisch. Anfangs waren viele froh darüber, bald aber nutzten nur noch
wenige Heimbewohner das Angebot, weil ihnen der Weg von der Tempelgasse zur
Ausspeisung zu weit oder zu mühsam war. Hans und Erika aber waren dort häufig
anzutreffen.
Heimbewohner, die sich einen Tauchsieder oder gar einen
kleinen elektrischen Kocher besorgen konnten (beides war von der Heimleitung
strengstens untersagt), besaßen ein kostbares Gut, verschwiegen dies aber aus
gutem Grunde. Mit solchem Gerät war es möglich, warme Getränke oder Speisen
zuzubereiten und dem mit der Zeit doch vermehrten Gedränge in der Küche
auszuweichen. Die nicht genehmigten Geräte sorgten häufig dafür, dass ein ganzes
Stockwerk in Dunkelheit gestürzt wurde. Trat dies ein, ertönte augenblicklich
aus allen betroffenen Zimmern, auch aus jenem des Verursachers, lautes Gefluche.
Nach und nach trat einer nach dem anderen auf den Gang hinaus und die
verschiedensten Vermutungen über die Ursache des Stromausfalles und auch über
deren Behebung wurden angestellt. Auch am Gang war es dunkel, bis sich endlich
jemand mit einer Kerze in der Hand dazugesellte, der auch handwerklich begabt zu
sein schien und den Sicherungskasten und dort nach einer durchgebrannten
Sicherung zu suchen begann. Hatte er sie endlich geortet, wollte er sie, da
keine Ersatzsicherungen vorhanden waren, flicken. Dazu, so sagte er, benötige er
ein Stück Stanniolpapier. Sofort gingen alle in ihre Zimmer zurück um nach
Schokolade zu suchen, die in silbriges Papier verpackt war. Sowie jemand dieses
herbeigeschafft hatte, hantierte der Begabte mit dem Papier und an der Sicherung
herum, schraubte sie sodann vorsichtig hinein und alle staunten, denn das Licht
ging tatsächlich wieder an.
Für die oberflächliche Reinhaltung des Heimes, also für die
Stiegen, Gänge,
Gemeinschaftsküchen und Toiletten war ein älteres Ehepaar, Johann und
Johanna, zuständig. Bald wurden diese von einer aus Israel zurückkehrenden
Familie Sehr abgelöst. Die Sehr mit ihrer kleinen, rothaarigen Tochter Hanni,
wurden im Heim
aufgenommen, bewarben sich um die Anstellung als Hausbesorger, bekamen die
Stelle und durften deshalb die im Parterre gelegene Hausbesorgerwohnung
beziehen.
Immer noch mussten Dorothea und ihre Kinder, wollten sie in
ihr Zimmer gelangen oder dieses verlassen, durch jenes der Damen Adler und
Rosenberger. Frau Rosenberger war durch Hitlers Machenschaften sehr jung zur
Witwe mit drei Kindern geworden. Sie war eine sehr fromme Jüdin, trug sogar
einen „Scheitel" (Perücke) und wohnte mit ihrer Tochter Hanni zusammen. Hanni
war trotz ihrer Jugend ein äußerst rassig aussehendes Mädchen und trug ihr
pechschwarzes Haar zu dicken Zöpfen geflochten. Sie hatte zwei Brüder, die in
einem orthodoxen Heim untergebracht waren. Frau Rosenberger konnte das Heim nach
wenigen Monaten Aufenthalt in Richtung Israel verlassen, und kurz darauf auch
Frau Adler.
Solange Dorotheas Kinder noch nicht im schulpflichtigen Alter waren und sie
Dorothea doch hin und wieder im Zimmer alleine zurück lassen musste, schloss sie
die Kinder im Zimmer ein. Die Zeit der Abwesenheit der Mutter war besonders für
Hans von Langeweile geprägt. Spielsachen waren weder für Erika noch für ihn
vorhanden. Daher begnügte sich Hans damit zum Fenster hinaus zu sehen und das
Treiben in der Gasse zu beobachten. Nicht selten beobachtete er, wie Männer die
ganze Gasse nach weggeworfenen Zigarettenresten absuchten. Sowie sie eine
bestimmte Menge gesammelt hatten, lösten sie die noch vorhandenen Tabakreste
heraus, füllten sie in dünnes Zigaretten- oder in zurecht geschnittenes
Zeitungspapier, rollten dieses geschickt zusammen und rauchten. Aber nicht nur
Männer, sondern auch Frauen beobachtete Hans vom Fenster aus. Jene aber waren
nicht hinter Zigarettenresten her, sondern mit Schaufel und Besen unterwegs, um
nach Pferdekot, den man damals noch täglich finden konnte zu suchen, um diesen
ihren Blumentöpfen oder Schrebergärten zuzuführen. Manchmal ertönten aus der
Gasse oder dem Hof Musikklänge nach oben, von einer auf zwei Rädern befestigten
kleinen Drehorgel, einem Akkordeon oder einer Gitarre, von Straßenmusikanten
gespielt. Nach drei, vier Melodien warteten sie darauf, dass die Zuhörer Münzen
hinabwarfen. Jeder der Musikanten zog, Dankesworte murmelnd, seine Schirmkappe
vom Kopfe und klaubte die umherliegenden Münzen auf. Dann zogen sie einige
Häuser weiter.
Wenn Hans langweilig wurde, begann er die Nachttischlampe aus der Fassung zu
schrauben und mit einer Häkelnadel, die zum Glück einen Holzgriff hatte, in der
Lampenfassung herum zu stochern. Je nachdem, worauf er mit der Nadel drückte
oder welchen Innenteil er berührte knallte oder rauchte es zwischendurch,
worüber er immer wieder erschrak, was ihn aber faszinierte. Hans hatte einen
Schutzengel!
Auf derselben Ganghälfte wohnten noch zwei Familien, die Müller und die Rerucha.
Die Müller hatten zwei erwachsene Söhne. Herbert, der ältere war wie sein Vater
von Beruf Musiker, Erwin, der jüngere ein ausgezeichneter Artist. Hans
beobachtete Erwin einmal beim täglichen Training. Erwin war im Gemeinschaftsraum
und wähnte sich alleine. Vor ihm auf dem Boden stand eine, wohl präparierte,
leere Flasche. In diese steckte er seinen Zeigefinger -, um sodann, nur auf
diesen gestützt, langsam, im Zeitlupentempo, einen Handstand zu vollführen. Hans
staunte und war von der Darbietung fasziniert. Jahrzehnte später, bei einem
Gespräch, das Hans in der Schweiz mit Zirkusfachleuten führte, sagten ihm diese,
dass sie den Namen des Artisten nicht mehr wüssten, es aber in Europa nur einen
gab, der diese artistische Leistung zu vollbringen imstande war. Herbert Müller,
der Musiker, war mit Elfi, der Tochter von Familie Rerucha, jung verheiratet.
Elfi war hochschwanger und wurde bald von einem Mädchen entbunden, das sie Hanni
nannte. Beide Familien, die Müller und die Rerucha, fanden bald andere
Wohnmöglichkeiten und verließen das Heim.
Herr und Frau Mundstein mit ihren Söhnen Walter und Heinz waren ebenfalls nur
kurz im Heim. Heinz, der jüngere Sohn, leitete in späteren Jahren eine bekannte
Wiener Tanzschule in der Mariahilferstrasse, wo er sich besonders für die
Integration blinder Mitbürger einsetzte.
Im letzten, dem dritten Stockwerk waren ausschließlich Männer untergebracht. Es
waren einsame, verbitterte und in sich gekehrte Männer, denen kaum einmal ein
Wort über die Lippen kam. Wenige Stufen führten weiter zum Dachboden hoch. Hans
hatte schon längst ausgekundschaftet, dass die schwere Eisentüre, durch welche
man auf den Dachboden gelangen konnte, nicht verschlossen war. Daher erkor er
auch diesen Bereich des Hauses zu seinem Spiel- und Aufenthaltsbereich. Arg
verstaubte dicke Holzbalken durchliefen kreuz und quer diesen riesigen Raum.
Über Kopfhöhe waren feste Schnüre gespannt, die zum Aufhängen und Trocknen von
Wäsche bestimmt waren, aber von keinem Bewohner benutzt wurden. Kaum einer hatte
mehr Wäsche zur Verfügung als jene, die er auf sich trug, und wo hätte man, noch
dazu nur mit kaltem Wasser, und worin überhaupt, waschen können? So sprang Hans
über die Balken oder balancierte auf ihnen. Schien die Sonne auf das Dach,
heizte sich die Luft darunter dermaßen auf, dass man kaum noch atmen konnte. All
dies störte Hans nicht. Er genoss auch den herrlichen weiten Ausblick aus den
vielen Dachluken. Von hier aus konnte er die ganze Tempelgasse entlang bis hin
zum Donaukanal, oder auch nur in den Hof hinunter sehen.
Hans Gamliel wurde am 25. Dezember 1940 in Subotica, nahe der
serbisch-ungarischen Grenze in der Vojvodina geboren. Seine Mutter Dorothea
(1918 - 1983) stammte väterlicherseits aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie.
1938 war sie vor den Nationalsozialisten mit Eltern, Geschwister und weiteren
Verwandten aus Wien nach Serbien geflüchtet. Dort lebten sie
auseinander gerissen bei verschiedenen serbischen Familien versteckt im
Untergrund. Ein Grossteil der Familienangehörigen wurde jedoch aufgestöbert,
deportiert und in Vernichtungslagern des Dritten Reiches ermordet. 1945 kehrte
Dorothea Gamliel mit Sohn Hans und der um zwei Jahre jüngeren Tochter Erika,
dabei vielerlei Hindernisse überwindend, über Umwege nach Wien zurück. Im
Obdachlosenheim der Israelitischen Kultusgemeinde im 2. Bezirk fanden sie für
die nächsten Jahre ein Zimmer. Ab Anfang der 1960er Jahre, arbeitete Hans
aufgrund besserer Berufs-Chancen im Gastgewerbe häufig in der Schweiz, wohin er
1984 nach Grub im Kanton Appenzell Ausserrhoden zu seiner Frau übersiedelt ist
und noch heute dort lebt. Im Gedenken an seine leidgeprüfte Mutter und seinen
ermordeten Vorfahren schrieb Hans Gamliel in den
letzten zehn Jahren seine Familiengeschichte und
Kindheitserinnerungen auf. Dabei erzählt er die Geschichte in der dritten
Person. Ein Jahr seiner Kindheit 1948/49 verbrachte er auf Vermittlung der
Wiener Israelitischen Kultusgemeinde bei einer jüdischen Familie in der Stadt
Basel.
Die Fortsetzung der Erinnerungen von Hans Gamliel folgt in der nächsten
Ausgabe.