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„Ich will eine echte Autonomie"

Interview mit Dalai Lama

Tanja FELDER

Wird der Dalai Lama von führenden Politikern empfangen, hagelt es Proteste. Zuletzt löste sein Besuch bei Angela Merkel heftige Reaktionen der chinesischen Regierung aus. Doch das lässt den Religionsführer ungerührt.

Nur wenige Persönlichkeiten haben eine ähnliche internationale Stellung wie Sie. Und doch äußern die chinesischen Behörden, wohin auch immer Sie reisen, ihren Unmut. So erst kürzlich anlässlich Ihrer Unterredung mit Angela Merkel in Berlin. Wie denken Sie darüber?

Die Reaktionen der chinesischen Behörden sind immer dieselben. Das ist zur Gewohnheit geworden, für gewöhnlich folgen diesen Protesten keine weiteren Konsequenzen. Was soll ich dazu sagen? Ich bedauere, dass durch diese Besuche den Menschen, die mich einladen, Unannehmlichkeiten entstehen, dass sie in Verlegenheit gebracht werden.

Wissen Sie, ich habe bei Politikern ein interessantes Phänomen beobachtet: Bis auf einige wenige Ausnahmen treffen sie sich mit mir, solange sie noch keine Minister oder Präsidenten sind. Danach meiden sie mich, um Peking nicht zu verstimmen: Die wirtschaftlichen Beziehungen mit China gewinnen die Oberhand… Aber mit all dem habe ich nichts zu tun.

Die Verantwortlichen Chinas behaupten, dass Tibet ihnen gehört und dass allein die Tatsache, darüber zu sprechen oder mich zu empfangen, eine Einmischung in innere chinesische Angelegenheiten darstellt.

In Wirklichkeit sind es jedoch die Führer Chinas, die den anderen ihr Verhalten vorschreiben. Finden Sie diese Haltung nicht ein wenig eigenartig?

Man könnte meinen, die chinesische Regierung verfüge in bestimmten Ländern über besondere Rechte und würde bevorzugt behandelt, selbst wenn sie sich in Dinge einmischt, die sie nichts angehen!

Was wissen Sie über die aktuelle Situation in Tibet?

Die Situation ist schwer einzuschätzen. Soweit ich weiß – und die Neuankömmlinge bestätigen das (jährlich fliehen 2.000 bis 2.500 Tibeter nach Indien, Anm. von Save Tibet ) –, gibt es in den Städten immer mehr Chinesen: Unter dem Deckmantel der Modernität hat sich Lhasa in eine chinesische Stadt verwandelt. Da sie nun in der Mehrheit sind, drängen sie anderen ihre Art zu leben, ihren Geschmack, ihre Musik, ihre Gewohnheiten auf – zum Nachteil der tibetischen Traditionen. Und die Tibeter können nichts dagegen sagen, denn wenn sie die Stimme erheben, werden sie sofort unter dem geringsten Vorwand misshandelt und des „Separatismus" bezichtigt.

Ob es die chinesischen Behörden zugeben oder nicht: Derzeit ist eine Art kultureller Völkermord im Gange, auch wenn Tibet in der Volksrepublik derzeit sehr „in" ist. Sehen Sie sich die jungen Flüchtlinge an, die nach Indien kommen: Sie sprechen ihre eigene Sprache nur schlecht, reden stattdessen Chinesisch, eine Sprache, die sie ebenso wenig beherrschen. Frühere Exilanten erhielten eine tibetische Erziehung und Bildung, sodass sie für sich eine Identität herausbilden konnten, obwohl die spirituelle Identifikation beiderseits des Himalaya weiterhin stark ist.

Sind die Olympischen Spiele in Peking eine Gelegenheit, der Stimme Tibets Gehör zu verschaffen?

Ich habe meinen Standpunkt klargemacht, seit ich weiß, dass die Olympischen Spiele 2008 in Peking stattfinden werden. Niemand hat ein Interesse an einer Ausgrenzung Chinas. Vielmehr müssen wir es dabei unterstützen, seinen Platz in der internationalen Staatengemeinschaft zu finden. Jedoch unter der Voraussetzung, dass es sich an die Regeln hält und die Menschenrechte achtet, wozu seine Führer sich mit ihrer Bewerbung verpflichtet haben. Dies scheint nicht wirklich der Fall zu sein, vor allem im Hinblick auf Tibet. Die Situation dort ist weiterhin sehr besorgniserregend. Im Namen der Sicherheit häufen sich die Zwangsmaßnahmen, und die Tibeter sehen kein Licht am Ende des Tunnels. Daher rühren auch die vermehrten Zusammenstöße in den Städten. Die Olympischen Spiele sind eine gute Gelegenheit, erneut auf das Problem aufmerksam zu machen.

Wie steht es um die Kontakte zwischen Ihren Gesandten und den Vertretern der chinesischen Behörden?

Diese Kontakte werden unter den bestehenden Regeln fortgeführt. Im Moment gibt es keine wirklichen Fortschritte, und selbst wenn diese Unterredungen in offener Atmosphäre stattfinden, nähern sich die Positionen einander doch kaum an. Unsere Bemühungen, für Tibet einen Autonomiestatus zu erreichen, stoßen aufgrund der Unnachgiebigkeit einiger hoher Funktionäre auf eine Mauer der Ablehnung. Die chinesischen Gesprächspartner sind – zu Unrecht – davon überzeugt, dass mein Ziel die Unabhängigkeit ist. Ich wiederhole: Ich verlange nichts weiter als eine echte Autonomie, so wie sie in der chinesischen Verfassung vorgesehen ist. Wenn die chinesische Regierung uns eine echte Autonomie zugesteht, welche die Rettung unserer Kultur, unserer Sprache, der Spiritualität und der Umwelt Tibets garantiert, spricht nichts gegen die aktuellen Grenzen. Es ist aber natürlich einfacher, in einem demokratischen Land Autonomie zu erlangen, in dem die Menschen ihre Meinung frei äußern und klare und präzise Forderungen formulieren können, ohne bedrängt oder verhaftet zu werden und Konsequenzen befürchten zu müssen.

Und doch gibt es immer mehr Tibeter, die beunruhigt sind, dass nichts vorangeht.

Manche, vor allem junge Menschen, kritisieren die Langsamkeit dieser Vorgehensweise, und ich verstehe ihre Frustration. Ich kann nicht verlangen, dass sie mir blind folgen, denn jedes Volk hat ein Recht auf Selbstbestimmung und ich kann nicht von ihnen verlangen, darauf zu verzichten. Ich versuche durch das, was ich den „Weg der Mitte" nenne, eine gütliche Lösung zu finden, bei der sich alle berücksichtigt sehen. Nun, da die Exil-Tibeter ihre zivilen Behörden wählen, liegt es an ihnen, ihren politischen Willen zu bestimmen und sich Gehör zu verschaffen. Ich bin nur mehr ein Berater.

Für die Tibeter im Land sieht das anders aus: Sie befinden sich in einer ungleich heikleren Situation. Nach dem, was mir Neuankömmlinge berichten, kommen immer mehr Chinesen auf der Suche nach dem schnellen Geld nach Tibet – zum Nachteil der lokalen Bevölkerung. Die Bauern werden gezwungen, Platz zu machen. Unter dem Vorwand der Modernisierung werden sie genötigt, ihre traditionellen Ansiedlungen zu verlassen und in „Modelldörfer" umzuziehen. Sie finden sich dann ohne Lebensunterhalt, am Rande neuer Städte in einer Umgebung wieder, die ihnen unbekannt ist. Um ihre Häuser bezahlen zu können, sind sie gezwungen, ihre Tiere zu verkaufen. In den Klöstern tritt an die Stelle des Studierens immer häufiger die Indoktrinierung. Die Folge davon ist, dass viele Tibeter ihr Land zur religiösen Erziehung verlassen.

Glauben Sie, dass Ihr „Weg der Mitte" auch nur die geringsten Chancen hat, zu konkreten Ergebnissen zu führen?

Auf politischer Ebene darf man in näherer Zukunft auf nichts Konkretes hoffen, da wirtschaftliche und finanzielle Interessen vor allem anderen stehen und keine Regierung es wagt, China die Stirn zu bieten. Das ist traurig, aber das ist die Realität.

Es müssen daher andere Wege gefunden werden: der Schutz der tibetischen Umwelt zum Beispiel. Es handelt sich dabei um ein sehr empfindliches Ökosystem, dessen Zerstörung schwerwiegende Folgen für den gesamten asiatischen Kontinent hätte. Ein Handeln ist hier dringend erforderlich, nicht zuletzt seit der Inbetriebnahme der Eisenbahnstrecke, durch die die Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe beschleunigt wird. Man darf nicht vergessen, dass die größten Flüsse Asiens ihren Ursprung in den tibetischen Hochebenen haben und dass die Bewohner aller Nachbarländer unter einer Verschmutzung ihres Wassers durch den Menschen leiden würden. Wie es scheint, schwinden die Gletscher, und der Schnee schmilzt immer schneller. Die alten Tibeter sagen, dass dies Unheil verkündet. Davon verstehe ich nichts, aber ich stelle selbst fest, dass es im Himalaya weniger Schnee gibt als in meiner Kindheit. Alles hängt irgendwie zusammen: Und während man darauf wartet, das Übel an seiner Wurzel zu packen, kann man doch zumindest die Symptome behandeln.

Wie steht es um die tibetische Kultur vor Ort?

Das kulturelle Erbe Tibets ist ernsthaft bedroht. Im Exil werden keine Mittel gescheut, um es zu schützen und weiterzugeben, doch vor Ort sieht das anders aus. Es ist natürlich schön, den Potala-Palast zu restaurieren und zum Weltkulturerbe zu erheben. Doch der Potala ist nur ein Gebäude: Mauern, Bibliotheken, Fresken. Es ist schön, sich darum zu kümmern und ihn als Zeugnis zu bewahren, doch die Kultur beschränkt sich nicht nur auf Bauwerke.

Eine Kultur, das sind Menschen, ihr Wissen, ihre Kenntnisse, ihre Sprache und ihre Geschichte, ihre Legenden. Sie verleiht dem Leben einen Sinn und ist Teil der Schätze der Menschheit. Für uns ist der Beitrag zu ihrem Schutz, die internationale kulturelle – oder auch politische – Hilfe, unabdingbar. Ohne diese Hilfe verschwände die tibetische Kultur innerhalb von weniger als fünfzehn Jahren und würde auf eine Art Folklore für Touristen reduziert.

Es wird derzeit viel über die Beziehung zwischen Religion und Staat gesprochen. Wie denken Sie darüber?

Allgemein denke ich, dass die Zeiten, in denen Religion und Staat vermischt wurden, vorbei sind. Diese Erfahrung habe ich selbst gemacht. Der Dalai Lama ist gleichzeitig ein spiritueller und weltlicher Führer. Diese doppelte Aufgabe war in einer bestimmten Zeit unserer Geschichte wahrscheinlich notwendig. Doch heute haben sich die Umstände geändert. Die tibetische Exilgesellschaft funktioniert nach demokratischen Grundsätzen und nach dem Prinzip der Gewaltenteilung. Und das ist deutlich besser so. Durch die Trennung der religiösen von den politischen Institutionen kümmert sich jede um ihren Bereich. Sie können natürlich kooperieren, sich gegenseitig unterstützen, doch für ihr Handeln und ihre Entscheidungen sind sie jeweils selbst verantwortlich.

Heutzutage nimmt der Einfluss der Kirche oder der Religion in bestimmten Teilen der Welt immer mehr ab, und auch die Werte der Familie gehen immer mehr verloren. Die Rolle geht damit auf die laizistische Erziehung über, und es liegt in ihrer Verantwortung, die Entwicklung der intellektuellen und moralischen Fähigkeiten der jungen Generationen fortzuführen. Aber das spirituelle, oder, falls Sie das bevorzugen, das religiöse Leben, ist etwas anderes, Persönlicheres. Und schließlich darf man auch diejenigen nicht vernachlässigen, die nicht gläubig sind, die Atheisten. Sie werden immer zahlreicher und sind oftmals Menschen von sehr hoher Güte. Das ist alles ganz schön kompliziert.

Sind Sie persönlich von den neuen chinesischen Vorschriften über die Reinkarnation der Dalai Lamas, die am 1. September 2007 in Kraft getreten sind, betroffen? (Das Gesetz erlaubt Wiedergeburten nur auf dem Boden Chinas, also auch auf dem Tibets. Buddhisten, die außerhalb der Volksrepublik wiedergeboren werden, werden nicht vom Staat anerkannt. Davon betroffen ist auch die Wahl des nächsten Dalai Lama, der in Indien lebt; Anm. von Save Tibet.

Die neuen Maßnahmen hinsichtlich der Reinkarnation? Sie scherzen! Zuerst einmal machen diese Vorschriften deutlich, dass im Gegensatz zu den Behauptungen der chinesischen Behörden die religiöse Freiheit in Tibet nicht respektiert wird. In der Praxis sind die Mönche verpflichtet, an sogenannten „Sitzungen zur patriotischen Erziehung" teilzunehmen und anschließend Prüfungen abzulegen, in denen sie mich verleugnen und der kommunistischen Partei die Treue schwören müssen. Dann beweist dieser bizarre Beschluss, dass seine Urheber, die sich in gewisser Weise bemühen, „Reinkarnationsgenehmigungen" zu erteilen, nichts von der Reinkarnation oder dem Buddhismus verstehen. Sie sollen sich informieren, studieren, lernen – dann sehen wir weiter! Sie denken, dass eine Anordnung oder eine Vorschrift ausreicht, um alles unter Kontrolle zu haben und ihre Macht über den Geist der Menschen ausweiten zu können. Aber so funktioniert das nicht. Wenn sie nur ein wenig aufmerksamer gegenüber der Realität wären, die sie umgibt, würden sie das merken. Ob diese Maßnahmen mich direkt betreffen? Wahrscheinlich. Sie wissen, wie ich denke: Die Institution des Dalai Lama ist eine menschliche Institution, die als solche dazu bestimmt ist, eines Tages zu verschwinden. Ihre unmittelbare Zukunft hängt von den Tibetern ab. Wenn sie es möchten, wird die Institution fortbestehen. Wenn sie der Ansicht sind, dass ihre Zeit gekommen ist, kein Problem. Nach der buddhistischen Tradition kehrt man auf die Erde zurück, um eine Aufgabe zu vollenden, die man während seines Daseins nicht zu Ende bringen konnte. Der Dalai Lama wird, wenn nötig, zurückkehren und befindet sich außerhalb der Reichweite einer autoritären Macht.

Für mich ist all das kaum von Bedeutung. Ich bin der vierzehnte einer langen Ahnenreihe – nicht der beste, aber auch nicht der schlechteste der Dalai Lamas. In jedem Fall aber haben die Chinesen aus mir den populärsten gemacht!

Beunruhigt Sie die in Gang gebrachte Annäherung zwischen Neu-Delhi und Peking?

Für die Zukunft Asiens ist es überlebenswichtig, dass Indien und China – zwei Länder, die gemeinsam über zwei Milliarden Einwohner zählen – eine auf gegenseitigem Vertrauen begründete, echte Beziehung der guten Nachbarschaft aufnehmen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist Tibet eine zentrale Herausforderung für beide Seiten. Solange die Tibeter nicht frei sind, besteht die Gefahr einer Krise. Und um sich vor unangenehmen Überraschungen zu schützen, wird die chinesische Regierung auf militärische Macht setzen. Indien seinerseits muss sich dieser Bedrohung entgegenstellen und seine Armee entlang seiner nördlichen Grenzen, die noch nicht einmal eindeutig festgelegt sind, stationieren. Unter diesen Umständen ist es schwierig, Bedingungen für eine solide Beziehung zu schaffen.

Eine Annäherung zwischen Indien und China liegt im Übrigen auch im Interesse der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten, und sei es nur im Hinblick auf eine positive Handelsentwicklung. Denn das alles hängt zusammen. Deshalb ist Tibet wichtig. China wird den Platz, den es für sich einfordert und der ihm in der Welt zukommt, nicht durch eine zügellose Kolonialpolitik sichern. Nehmen Sie zum Beispiel die europäischen Länder: Sie haben ihren ehemaligen Kolonien schließlich ihre Unabhängigkeit zurückgegeben. China kann diesen Weg nicht unbegrenzt weitergehen. Es kann nicht einerseits vorgeben, Zivilisation und Moderne nach Tibet zu bringen, und andererseits alles, was seine Besonderheit ausmacht, insgeheim verschwinden lassen. Es ist offensichtlich, dass Tibet aus einem ausgeglichenen Verhältnis zu China Nutzen ziehen kann – jedoch nicht unter den Bedingungen der Unterwerfung, die ihm derzeit auferlegt werden.

Zwischen Indien und Tibet bestehen jahrhundertealte Beziehungen, in gewisser Weise von Lehrer zu Schüler. Dort liegt der Ursprung unserer Traditionen, und in schwierigen Zeiten wendet sich Tibet Indien zu. Ein harmonisches Miteinander dieser heiklen „Ménage à trois" käme allen zugute. Allgemeiner betrachtet werden Sie mir zustimmen, dass Tibet eine Prüfung für alle Demokratien ist.

Übersetzung: Tanja Felder

Das Gespräch führte Claude B. Levenson für die Zeitschrift Politique Internationale, dem exklusiven Kooperationspartner von Cicero in Frankreich
Entnommen mit freundlicher Genehmigung der Save Tibet Info Nr. 47.

 
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