Zwei profilierte österreichische Zeithistoriker, Verena
Moritz und Hannes Leidinger, stießen bei ihren Recherchen zum Themenkomplex
Kriegsgefangene im 1. Weltkrieg immer wieder auf einen Namen: Maximilian (Max)
Ronge. Zusehends stieg das Interesse an diesem, wie sie es nennen,
„Fußnotengespenst". Und letztlich faßten sie einen Entschluss: „Das Buch musste
geschrieben werden". Unterstützt und begleitet wurden sie bei diesem Vorhaben
von unerwarteter Seite, nämlich von Universitätsprofessor Gerhard Jagschitz,
einem Doyen der österreichischen Zeitgeschichte, und Enkel von Maximilian Ronge.
In akribischer Weise zeichnen die Autoren die Stationen von
Ronge von seiner Geburt 1874 bis zu seinem Tode 1953 nach. Als roter Faden dient
hierbei das Tagebuch von Ronge, welches er 1868 kurz vor seiner Ausmusterung als
Leutnant zu führen begann, und in dem er stichwortartig und zugleich pedantisch
festhielt, was er tat, wohin er fuhr und wen er traf; eine Angewohnheit, die er
bis zu seinem Tod beibehielt. Weiters forschten die Autoren in österreichischen,
russischen, deutschen sowie ungarischen Archiven und führten Gespräche nicht nur
mit Ronges Enkel sondern auch mit Zeitzeugen bzw. mit deren Verwandten.
Im ersten Abschnitt („Erkundungen") erläutern die Autoren,
wie sie auf die Spuren von Ronge kamen und warum sie beschlossen, sich
eingehender mit ihm zu befassen. Sie geben hier auch ihre Zweifel und Bedenken
wieder, in wie weit es überhaupt gelingen kann, eine Biographie über jemanden zu
verfassen, dessen Leben sich vorwiegend im Geheimen abspielte.
Aufstieg und Karriere von Ronge werden im Hauptteil des
Buches „Ermittlungsergebnisse" nachgezeichnet. Nach Absolvierung der k.u.k.
Kriegsschule und der Generalstabsausbildung, trat Ronge 1907 in das Evidenzbüro
des Generalstabes, die Zentrale des k.u.k. Geheimdienstes, ein. Hier zog er
Fäden in der Zeit vor und während des 1. Weltkrieges und leistete Pionierarbeit
beim Ausbau des „Kundschafterwesens". Frühzeitig erkannte er, wie notwendig der
Aufbau eines funktionierenden Netzwerkes nicht nur zu anderen Geheimdiensten
sondern auch zu politischen Entscheidungsträgern war. Hier wurde er aber auch
Zeuge eines der größten Spionageskandale Österreichs, nämlich des Falls Alfred
Redl. Dieser Fall verstärkte sein ohnehin bereits vorhandenes Misstrauen
gegenüber jedermann. In der Zwischenkriegszeit nahm er den Kampf gegen den
„inneren Feind", vor allem gegen Sozialdemokraten, Bolschewiken, Kommunisten und
illegale Nationalsozialisten, auf. Moritz und Leidinger bezeichnen ihn als
„Bürgerkriegsstrategen". Und er entwickelte auch Strategien gegen den „äußeren
Feind", gegen „abtrünnige" Nationalitäten des ehemaligen Vielvölkerstaates sowie
gegen das immer aggressiver gegen Österreich agierende Deutschland. 1932 wurde
er von Dollfus pensioniert, zog aber nach wie vor als „Hausgespenst im
Bundeskanzleramt" seine Fäden. Im Februar 1934 kehrte er als Leiter des neu
gegründeten staatspolizeilichen Evidenzbüros des Bundeskanzleramts zurück. Im
April 1938 wurde er verhaftet und mit einem der ersten „Promiententransporte"
nach Dachau und später nach München deportiert. Im August 1938 wieder entlassen,
arbeitete er im Wiener Kriegsarchiv und unterhielt bis Kriegsende Kontakte zu
Mitarbeitern des Leiters der deutschen Abwehr Vizeadmiral Wilhelm Canaris. Nach
Kriegsende leistete Ronge „Hilfe" bei der so genannten Entnazifizierung und
beteiligt sich unter dem Decknamen „Keppler" an geheimen Vorbereitungen zur
Aufstellung eines neuen österreichischen Bundesheeres sowie am Aufbau einer
österreichischen Geheimdienstorganisation. Hierbei arbeitet er eng mit
US-amerikanischen Geheimdiensten zusammen. Diese Arbeit konnte er nicht mehr
vollenden. Ronge verstarb nach kurzem Spitalsaufenthalt am 10. September 1953.
Der dritte und letzte Abschnitt des Buches
(„Datenauswertung") beinhaltet einen Abschlussbericht und sowie einen Beitrag
von Jagschitz („Irrgarten der Erinnerung"), in dem er ein sehr persönliches Bild
seines Großvaters, zu dem er ein durchaus ambivalentes Verhältnis hatte,
nachzeichnet. Die Erinnerungen an seinen Großvater seien für ihn, so Jagschitz,
ein Eintauchen in eine verwirrende Welt von Bekanntem und völlig Unbekanntem.
„Es gab nur einen Großvater, aber viele Schichten der Persönlichkeit des
Maximilian Ronge.
Das Buch von Verena Moritz und Hannes Leidinger ist,
geschrieben aus der Distanz der Wissenschaft, eine spannende Biographie eines
„Altmeisters des Kundschaftswesen", der wesentlich dazu beigetragen hat, den
künftigen österreichischen Nachrichtendienst zu konzipieren. Es ist die
Biographie des Prototyps des überkorrekten Soldaten und pingeligen Bürokraten,
der auch im Privaten den Offizier nicht ablegen konnte, der sich den höchsten
Auftraggebern immer verpflichtet fühlte und bis zuletzt emotionale Bindungen zur
Habsburgermonarchie, „dem allerhöchsten Haus", hegte. Es ist die
Lebensgeschichte eines „hervorragender Vertreters" einer untergegangenen Welt.
Es ist die Biographie einer ganzen Generation hoher militärischer und ziviler
Beamter, die ihre Sozialisation in der Monarchie erfahren hatte, deren Ende sie
nie ganz überwand. Und es ist letztlich auch ein Teil der Geschichte
Österreichs.
Das Buch gibt zudem einen guten Einblick in das Geschäft der
Nachrichtendienste. Viele im Buch getroffenen Beobachtungen und Aussagen sind
auch heute noch immer wieder diskutierte Grundsatzfragen: Wie viel Geheimhaltung
verträgt eine offene Gesellschaft? Wie viel Geheimhaltung ist für das effiziente
Agieren eines Geheimdienstes tatsächlich notwendig? Wer übt die Kontrolle über
Geheimdienste aus, und wie? Wieviel Einfluss kann eine Person im Zentrum der
Macht auf politische und gesellschaftliche Prozesse haben? Letztlich stellt sich
auch die Frage der Legitimität von Geheimdiensten an sich.
Die Autoren zeigen aber auch eine große Lücke auf, denn im
Gegensatz zum anglo-amerikanischem Raum, wo die Disziplin „Intelligence-Studies"
längst etabliert ist, sind im deutschsprachigen Raum nur erste Ansätze dazu zu
bemerken. Das Buch von Verena Moritz, Hannes Leidinger und Gerhard Jagschitz ist
ein wichtiger Beitrag, auch hier die wissenschaftliche Befassung mit dem Thema „Intelligence"
zu fördern.