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Antisemitismus:
Ein Blick in die Ukraine
Silvia PERFLER
Die Ukraine galt seit ihrer Unabhängigkeit 1991 lange Zeit
als ein Staat mit einer toleranten multi-ethnischen Gesellschaft. Auch die
Regierung hob das bei verschiedenen Gelegenheiten nicht ohne Stolz hervor. Im
Gegensatz zu anderen postkommunistischen Staaten schien das Zusammenleben der
verschiedenen Volksgruppen zu funktionieren. Allerdings trügt der Schein, denn
es brodelte unter der scheinbar so friedlichen gesellschaftlichen Oberfläche.
Seit den 90er Jahren machen sich Fremdenfeindlichkeit und Rassismus immer
deutlicher bemerkbar. Besonders in den letzten beiden Jahren häuften sich
bedenkliche Berichte - auch in internationalen Zeitungen - über antisemitisch
und rassistisch motivierte Straftaten. Diese erreichten 2006 ihren bisherigen
Höhepunkt. Die Gewalt richtet sich vor allem gegen Roma und Juden, immer
häufiger kommt es auch zu Übergriffen gegen Flüchtlinge sowie Migranten aus
Afrika und Asien. Judenfeindliche Vorfälle reichen von Gewalt gegen jüdische
Personen bis hin zu Vandalismus von Holocaustdenkmälern, Synagogen, Friedhöfen
und kulturellen Zentren. Die Polizei tut diese Vorfälle in vielen Fällen als Tat
von Hooligans oder als simplen Vandalismusakt ohne erkennbaren politischen
Hintergrund ab. Nur seltenen werden die Täter ausgeforscht, und noch seltener
von einem Gericht verurteilt.
Brodsky Shul, Kiev, © Wikipedia
Schon mehrmals bekannte sich die Regierung demonstrativ zu
einer multikulturellen Gesellschaft. Sie versucht mit Gesetzen gegen derartige
Vorfälle vorzugehen. Im April 2007 reagierte der ukrainische Präsident Viktor
Juschtschenko auf den Anstieg von Vandalismus in den letzten Jahren. Er forderte
Staatsanwaltschaft, Polizei und Innenministerinnen auf, Maßnahmen zu ergreifen,
um die Täter wirkungsvoller zu verfolgen.
Doch das Land sieht sich im Moment mit einer Fülle von
Problemen konfrontiert. Vor allem politische Krisen, instabile
Regierungskoalitionen und das Stocken des wirtschaftlichen Booms der letzten
Jahre stellen die Ukraine vor große Herausforderungen. Die Bekämpfung der
Korruption ist ebenso notwendig wie der Aufbau einer unabhängigen Justiz und
freier Medien. Auch der niedrige allgemeine Lebensstandard trägt zur
Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung bei und ist ein Nährboden für
extremistische Gruppierungen im Land.
Antijüdische Wahlkampfparolen und Appelle an eine
multikulturelle Gesellschaft
Im März 2006 wurde Eduard Gurvitz abermals zum Bürgermeister
der Stadt Odessa gewählt – er ist einer von vier jüdischen Kandidaten, die sich
bei den letzten Kommunalwahlen durchsetzen konnten.
Geboren in der ukrainischen Stadt Mogilyov-Podolskiy ging
Eduard Gurvitz nach Leningrad, um dort Maschinenbau zu studieren. Im Alter von
29 Jahren kam er nach Odessa und wurde einer der ersten freien Unternehmer
während der wirtschaftlichen Öffnung der Gorbatschow-Ära in den späten 80ern.
Sein Weg führte ihn 1990 in die Politik, und es begann eine Kariere mit Höhen
und Tiefen. Bei den Wahlen 1994 erlangte Eduard Gurvitz einen Sitz im
ukrainischen Parlament und gewann im selben Jahr die Bürgermeisterwahl in
Odessa. Vier Jahre später wurde ein politischer Herausforderer zum Bürgermeister
erklärt, obwohl Gurvitz mehr Stimmen erreicht hatte. Das gleiche passierte auch
bei den Wahlen 2002. Erst durch ein Gerichtsurteil wurde das Ergebnis revidiert.
Auf seine jüdischen Wurzeln angesprochen, meinte Eduard
Gurvitz in einem Interview für „Jewish & Israel News" 1,
dass er zwar stolz darauf sei, sich aber in erster Linie als Politiker fühle:
„Jude ist meine Nationalität, nicht mein Beruf. (..) Ich bin ethnischer Jude und
Atheist". Gurvitz klingt wie die meisten Ukrainer, die während des Kommunismus
in der Ukraine aufgewachsen sind. Er weist aber nicht ohne Stoz darauf hin, dass
er seinen jüdischen Hintergrund nie verleugnet habe, um seiner Kariere nicht zu
schaden. Im Gegenteil: „Mein ganzes Leben war ich Jude, und „Jude" stand auch in
meinem Pass!" – gemeint ist die berüchtigte fünfte Zeile des Ausweises, in der
die ethnische Identität einzutragen war.
Babij Jar: Kinderdenkmal, © Wikipedia
Es ist wie Eduard Gurvitz sagt, er ist ein Bürgermeister wie
jeder andere auch. Er wurde als Person gewählt, nicht, weil er Jude ist. Gurvitz
ist kein besonders religiöser Mensch und legt auch keinen Wert darauf, eine
aktive Rolle im jüdischen Gemeindeleben seiner Stadt zu spielen. Dennoch ist es
allein auf seinen Einsatz und seine Unterstützung zurückzuführen, dass ein
jüdisches Waisenhaus in Odessa errichtet werden konnte. Auch Avraham Wolff,
Chefrabbiner von Odessa, würdigt sein Engagement: „Er ist keine religiöse
Person, aber er tut was er kann, um der Gemeinde zu helfen"
Wenn man die judenfeindliche Stimmung innerhalb der
ukrainischen Bevölkerung bedenkt, die in Wahlkämpfen noch geschürt wird, ist es
nicht selbstverständlich, dass sich ein jüdischer Kandidat durchsetzen kann. Vor
allem durch nationalistische Parteien flossen bei den Wahlen der letzten Jahre
wiederholt judenfeindliche Parolen und Weltverschwörungstheorien ein. So wurden
vor den Bürgermeisterwahlen 1994 Flugblätter verteilt, in denen die Bürger in
Odessa aufgerufen wurden, gegen die „zionistische Übermacht" zu kämpfen. Bei den
Regionalwahlen 2004 wurden Plakate eines Kandidaten, der Eduard Gurvitz nahe
steht, mit Hakenkreuzen und Davidsternen verunstaltet. Der Hinweis auf die
„Herkunft" eines Kandidaten – Jude oder Ukrainer – ist ein weiteres oft
gebrauchtes Mittel. Nationalistische Parteien wie die Ukrainisch Konservative
Partei (UKRP) und die Ukrainisch Nationale Versammlung – Ukrainisch Nationale
Selbstverteidigung (UNA-UNSO) stellen „Russen" und „Zionisten" als Gefahr für
den Staat dar. Mitunter wird vor einer zionistischen Weltherrschaft gewarnt, in
der die Ukraine ein wichtiges Element sei. (Jüdische Oligarchen würden
systematisch die Wirtschaft und das ganze Land zerstören.) Um dieser Gefahr
entgegen zu treten sei es unerlässlich, „Ukrainer" in allen politischen
Strukturen vorzuziehen und Aktivitäten jüdischer Organisationen im Land zu
verbieten.
Der Ausgang der Wahlen in Odessa und anderen Städten zeigt,
dass der Großteil der Bevölkerung nicht bereit ist, offenen Antisemitismus und
extremen Nationalismus zu unterstützen. Politischer Antisemitismus ist in der
Ukraine eher eine Randerscheinung, dennoch können sich einzelne Politiker, die
judenfeindliche Ansichten vertreten durchsetzen und einen Parlamentssitz
gewinnen. Grund dafür ist unter anderem, dass rechte Parteien Teil von
Wahlblöcken sind – auch von Julia Timoschenko und Viktor Juschtschenko. Im
anhaltenden Wahlkampfdruck werden rechte bzw. nationalistische Kräfte integriert
und zur Mobilisierung genutzt.
Nationalistische Gruppierungen bauen auf der seit der
Unabhängigkeit des Landes immer stärker werdenden fremdenfeindlichen Einstellung
auf. Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen in einem Zusammenwirken von
Transformationsproblemen und der totalitären Vergangenheit des Landes. Die
politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen seit dem Ende
der Sowjetzeit verstärkten die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern und
führten zu Verunsicherung und generellem Misstrauen gegenüber dem Staat. Für
rechte und nationalistische Parteien ist es ein Leichtes, auf diesen Ängsten
aufzubauen und sie zu schüren.
Die jeweilige ukrainische Regierung versuchte diesen
Tendenzen entgegenzuwirken und betonte, dass die Ukraine das Heimatland all
seiner Völker sei, ungeachtet ethnischer Wurzeln, Rasse oder Religion. Doch die
offizielle Linie eines toleranten multiethnischen Staates trägt dazu bei, vor
der Tragweite des Problems die Augen zu verschießen. Die führenden Politiker des
Landes sprachen sich wiederholt gegen Judenfeindschaft aus. Weiters wurden
Gesetze erlassen, die Minderheiten einen gewissen Schutz bieten sollen, wie auch
gegen Rassismus und Formen der Diskriminierung. Die Gesetze allein sind aber
nicht ausreichend. Ein wesentliches Problem ist, dass nur wenige rassistisch
motivierte Straftaten überhaupt als solche angezeigt bzw. als solche verfolgt
werden.
MAUP: Die private Hochschule warnt vor den Juden
Im großen und ganzen waren Ende der 90er Jahre antisemitische
Artikel keine überdurchschnittlich häufige Erscheinung in ukrainischen
Massenmedien. Es tauchten vereinzelt Artikel mit Vorurteilen und antijüdischen
Inhalten in kleineren, auflageschwächeren Zeitungen auf. Ab dem Jahr 2002 war
allerdings ein merklicher Anstieg judenfeindlicher Berichte zu verzeichnen. In
den Jahren 2005 und 2006 wurden laut jährlichem Antisemitismusbericht des
Stephan Roth Instituts über 600 judenfeindliche Artikel in Zeitungen gezählt
(2006 auch in Zusammenhang mit den Parlamentswahlen) 2.
Verantwortlich dafür zeigte sich vor allem die Interregionale Akademie für
Personalführung", besser bekannt unter ihrer ukrainischen Abkürzung „MAUP" –
eine private Hochschule mit Niederlassungen in mehreren Städten des Landes.
Gegenwärtig sind etwa 85% der antisemitischen Publikationen auf dieses Institut
zurückzuführen. MAUP bringt zwei auflagestarke Magazine namens „Personal" und
„Personal Plus" heraus, in denen seit einigen Jahren eine Reihe offen
antisemitischen Beiträgen veröffentlicht wurde. Besonders die Artikel des MAUP
Direktors Georgy Tschokin, der gleichzeitig an der Spitze der ultrarechten
Ukrainischen Konservativen Partei steht, sind inhaltlich so fragwürdig wie
provokant. In vielen Publikationen des Instituts wird zur Bekämpfung des
Zionismus aufgerufen, der eine dem Nationalsozialismus gleichwertige Bedrohung
darstelle. „Zionismus als größte Bedrohung der modernen Zivilisation" war der
Titel eines eintätigen Seminars. Als Gastredner wurde David Duke, ehemals
führendes Mitglied des Ku Klux Klan, geladen. David Duke leitet im MAUP auch
Kurse im Bereich Geschichte und internationale Beziehungen. Außerdem hat die
Hochschule Verbindungen zu Antisemiten aus Russland, dem Westen und dem
Mittleren Osten. Finanzielle Unterstützung erhält MAUP aus arabischen Ländern,
zu denen die Hochschule sehr enge Kontakte pflegt.
Im Jahr 2004 wurde im Magazin Personal Plus ein offener Brief
an Präsident Viktor Juschtschenko abgedruckt: Die Autoren appellierten für eine
parlamentarische Untersuchung „der kriminellen Aktivitäten des organisierten
Judentums in der Ukraine". Der Brief trug die Unterschrift von mehr als hundert
bekannten Persönlichkeiten aus den Bereichen Wissenschaft und Politik.
Die Aktivitäten von MAUP wurden von jüdischen Organisationen
rund um die Welt wie auch von Menschenrechtsorganisationen vehement kritisiert
und ein Vorgehen gefordert – bisher ohne großen Erfolg. Die ukrainische
Regierung, allen voran Präsident Viktor Juschtschenko, verurteilten
antisemitische Aussagen und Aktivitäten des Instituts wiederholt. Bei einer
Gedenkveranstaltung im September 2006 versprach Viktor Juschtschenko gegen
ethnischen und religiösen Hass in der Ukraine vorzugehen: „Wie alle Ukrainer
weigere ich mich, die kleinste Manifestation von Xenophobie und Antisemitismus
zu akzeptieren und zu tolerieren." 3
Als erste entschlossene Reaktion der ukrainischen Politik kann die Schließung
regionaler MAUP Zentren gesehen werden.
Die Suche nach den Wurzeln der ukrainischen Nation
Seit die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte, blickte
man im Land auch intensiv auf die eigene wechselvolle Vergangenheit zurück. Es
gab Blütezeiten wie das Großreich „Kiewer Rus", das als Wiege des heutigen
ukrainischen Staates gilt. Über lange Zeit hinweg war das Gebiet der heutigen
Ukraine aber Teil eines größeren Territoriums (Königreich Polen-Litauen,
Sowjetunion) oder gar aufgeteilt auf verschiedene Reiche (Österreich, Polen,
Russland). Ein eigener Nationalstaat war die Ukraine vor der Loslösung von der
Sowjetunion nur für zwei relativ kurze Perioden im 17. Jahrhundert und nach der
Russischen Revolution. In beiden Fällen scheiterte die Unabhängigkeit des Landes
an den Interessen anderer Staaten wie Polen, Deutschland und vor allem Russland,
wie auch an mangelnder Geschlossenheit der Bevölkerung.
Das Schicksal der Minderheiten im Land war stets eng mit der
Geschichte des ukrainischen Volkes verbunden. Die im 9. Jahrhundert um Kiew
errichtete „Kiewer Rus", wie auch im 16. Jahrhundert die polnisch-litauische
Herrschaft, bedeuteten für die jüdische Bevölkerung Zeiten der Freiheit und der
kulturellen wie auch politischen Mitbestimmung. Aus jüdischer Sicht galt Kiew
lange als das „Jerusalem des Ostens". Im Königreich Polen-Litauen kam es in der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einer Welle jüdischer Emigration von
Polen in die Ukraine, nach Wolhynien und Podolien, sodass nicht ganz die Hälfte
der gesamten jüdischen Bevölkerung des Königreichs Polen in der Ukraine lebte.
In dieser Zeit genossen die Juden weitgehende Autonomie. Es war ihnen erlaubt,
Land zu besitzen wie auch Handel zu betreiben. Von Großgrundbesitzern wurden sie
als Pächter der Güter eingesetzt. Die jüdischen Bewohner hatte damit eine
wichtige Position innerhalb der Gesellschaft inne.
Von den „Ukrainern" war erstmals in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts die Rede, als die ukrainische Sprache, eigene Sagen, Mythen und
Lieder „entdeckt" wurden. Es war der Beginn vom Traum eines eigenen Staates. Die
Nationalbewegung, die sich nun entwickelte, konnte dieses Ziel allerdings nicht
erreichen. Es war ausgerechnet Josef Stalin, der die kulturell in eine Ost- und
Westukraine geteilte Bevölkerung erstmals vereinte. Das bedeutete aber auch das
Ende einer eigenen Kultur: Die ukrainische Sprache war verboten, das Gebiet nur
mehr eine der Provinzen der Sowjetunion. Als die Unterdrückung 1991 endete, trat
ein neues Nationalbewusstsein umso stärker hervor. Die seitdem stattfindende
Rückbesinnung auf Symbole und Identifikationsfiguren der nationalen
Vergangenheit tragen zu einer kollektiven Identität bei. Auf der neu
eingeführten Währung sind nationale Heldengestalten wie Bogdan Chmielnizki
abgedruckt. Er führte den Kosakenaufstand von 1648 an, der zur Gründung des
Kosaken-Hetmanats im Gebiet der heutigen Ukraine führte - eine Erinnerung, die
für die jüdische Bevölkerung des Landes sehr schmerzlich ist. Die Kämpfe der
Kosaken waren begleitet von Pogromen und der Zerstörung zahlreicher Synagogen,
Schulen und Bibliotheken.
Im Prozess der kollektiven Identitätsfindung spielt die
ethnische Herkunft für einen Großteil der Ukrainer eine wesentliche Rolle. Das
Land leidet unter bisher ungelösten sprachlichen, religiösen und ethnischen
Konflikten, die im Moment noch nicht als akut zu bezeichnen sind. Die
Kombination dieser Faktoren bildet aber eine gefährliche Grundlage für
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus.
In jedem Fall sind Minderheiten, die teilweise abweichende
historische Blickwinkel haben, ein störender gesellschaftlicher Faktor. Vor
allem verhindern ein verklärter Blick in die Vergangenheit und die Überhöhung
der eigenen Nation eine kritische Auseinandersetzung mit vergangenen
Ereignissen. In der Ukraine findet Vergangenheitsbewältigung nur zaghaft statt.
Verbrechen des Zweiten Weltkriegs – die Kooperation mit deutschen und
rumänischen Faschisten – sowie die stalinistischen Verbrechen sind kaum
aufgearbeitet. Letztlich wurde die Beschäftigung mit dem Holocaust im Lehrplan
von Schulen und Universitäten vom Bildungsministerium verpflichtend festgelegt.
Symbolisch für die Schrecken des Holocaust in der Ukraine
steht „Babij Jar". Die „Großmütterchenschlucht", wie der Name übersetzt heißt,
wurde im September 1941 zum Schauplatz eines der Verbrechen der
Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg: Die jüdische Bevölkerung von Kiew war
teilweise vor dem Einmarsch der Wehrmacht geflohen, etwa 50.000 waren
zurückgeblieben, vorwiegend ältere Männer, Frauen und Kinder. Unter der
Vorspiegelung, dass sie registriert bzw. zum Arbeitsdienst in andere Gebiete
gebracht werden sollten, wurden an die 30.000 jüdischen Personen am 29.
September 1941 in den Straßen Kiews versammelt. In Lastwägen wurden sie in die
Schlucht nahe Kiew, nach Babij Jar, gebracht und dort sofort ermordet. Der
Massenmord dauerte insgesamt fünf Tage und forderte nicht nur jüdische Opfer.
In der Sowjetzeit bemühte sich das kommunistische Regime, die
Erinnerung an die Tragödie von Babij Jahr loszuwerden. Zuerst sollte die
Schlucht mit Sand zugeschüttet werden, 1959 gab es Pläne für eine Sportstätte.
1961 verfasste Jewgeni Jewtuschenko sein Gedicht „Babij Jar", das genau aus
diesem Grund mit dem Vers: „Es steht kein Denkmal in Babij Jar" beginnt. Das
Gedicht hinterließ einen tiefen Eindruck: Dimitri Schostakowitsch verwendete die
Verse in den Chorsätzen seiner 13. Symphonie. Das Sowjetregime und Chruschtschow
waren vom Gedicht verständlicherweise weniger angetan. Mittlerweile erinnern
drei Denkmäler in Babij Jar an die Ereignisse im September 1941. Eines davon ist
das Kinderdenkmal: Drei Bronzefiguren sitzen auf einem Marmorsockel, symbolische
Nachbildungen der Spielsachen, die von den Kindern eingesammelt wurden. Der
herausgeschnittene Teil im Marmor steht dafür, dass durch den Tod der Kinder
etwas verloren ging, was niemals ersetzt werden kann.
Ein filmisches Denkmal setzte Artur Brauner den Ereignissen
in Babij Jar durch seinen gleichnamigen Film. Erzählt wird die Geschichte der
ukrainischen Familie Onufrienko und der jüdischen Familie Lerner, die seit über
20 Jahren befreundet sind und Tür an Tür am Stadtrand von Kiew wohnen. Der Film
zeigt in schonungsloser und gleichzeitig sensibler Weise das Schicksal der
betroffenen Menschen nach dem Einmarsch der deutschen Armee.
Jüdische Gemeinden im Aufbau
Golda Meir, 1969-74 Ministerpräsidentin des Staates Israel,
Simon Wiesenthal, der Schriftsteller Joseph Roth wie auch der Nobelpreisträger
und hebräische Schriftsteller Samuel Josef Agnon, diese bekannten
Persönlichkeiten wurden in der Ukraine geboren und sind für die jüdische
Geschichte des Landes unvergesslich.
Die heute in der Ukraine lebende jüdische Bevölkerung bildet
den Rest einer einst sehr großen Gemeinde. Das jüdische Leben blühte und viele
Städte beherbergten bedeutende religiöse Zentren. Unter dem kommunistischen
Regime wurden - wie in allen Teilen der Sowjetunion - das jüdische Leben und
seine Kultur unterdrückt. Die zahlenmäßig stark verkleinerte Gemeinde kämpft
heute vor allem mit zwei Problemen: einerseits mit dem hohen Alter der
Mitglieder und andererseits mit der Abwanderung von durchschnittlich 40.000
Personen jährlich. Grund für die Emigration ist in erster Linie die schlechte
ökonomische und soziale Situation im Land.
Trotzdem, oder gerade deshalb,
wurden seit der Unabhängigkeit in der Ukraine mit viel Engagement neue
Strukturen aufgebaut. In den letzten Jahren etablierten sich viele jüdische
Organisationen, die seitdem eine Reihe von Aktivitäten organisieren und durch
soziale Leistungen wie beispielsweise die Einrichtung von Suppenküchen den
Ärmsten helfen. In 45 Städten der Ukraine gibt es jüdische Schulen und an der
Internationalen Solomon Universität in Kiew existiert wieder eine Abteilung für
jüdische Kultur und Geschichte. Das jüdische Leben wird außerdem durch
verschiedene jüdische Zeitschriften und Magazinen, das jiddische Fernsehprogramm
„Yahad" und zahlreiche kulturelle - und Bildungsangebote bereichert.
Nach der realsozialistischen Zeit
musste zunächst eine neue Infrastruktur geschaffen werden. Das ukrainische
Parlament beschloss 1992 ein Gesetz, wonach das unter dem sowjetischen Regime
konfiszierte Eigentum an religiöse Gemeinschaften zurückgegeben werden musste.
In den folgenden Jahren wurden aufgrund dieses Gesetzes größere und kleinere
Synagogen restituiert. Außerdem erhielten die jüdischen Gemeinden der Ukraine
einige Gebäude als Ersatz für zerstörte Synagogen. Dennoch gestalteten sich die
Verhandlungen um das ehemalige jüdische Eigenturm in vielen Fällen als schwierig
und langwierig, wie man am Beispiel der Großen Synagoge in Kiew sieht. Die
Brodsky Shul, wie die Synagoge nach ihrem Erbauer auch heißt, wurde 1926
konfisziert und diente anschließend als Klub für Künstler und als Puppentheater.
Während der NS-Besetzung nützte die Armee das ehemalige Gotteshaus als Stall für
ihre Pferde. Die Verhandlungen über die Rückgabe der Synagoge an die jüdische
Gemeinde der Stadt zogen sich über beinahe sechs Jahre hin, da sich die Besitzer
des Puppentheaters weigerten, das Gebäude freizugeben. 1997 konnte schließlich
mit der Renovierung des aufgrund der Zweckentfremdung stark beschädigten
Gebäudes begonnen werden. Dank finanzieller Unterstützer privater Großspender
wurde die Große Synagoge im Jahr 2000 in ihrer ursprünglichen Funktion wieder
eingeweiht und ist seitdem wieder ein bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens in
der Hauptstadt der Ukraine.
Im Alltag sehen sich viele Juden mit einer Fülle an
Vorurteilen konfrontiert. Ressentiments und Vorbehalte gehen vielfach auf die
Sowjetzeit zurück, vor allem der Vorwurf, Juden hätten mit dem kommunistischen
Regime kollaboriert und sich daran bereichert. Dennoch blickt vor allem die
junge jüdische Generation mit viel Optimismus in die Zukunft. Sie glaubten an
das Funktionieren der demokratischen Strukturen und hofften auf eine Annäherung
an Europa, von der sie sich auch allgemein mehr Toleranz und Offenheit erwartet.
Literaturhinweise:
Matthias Messmer: Sowjetischer und
postkommunistischer Antisemitismus. Entwicklungen in Russland, der Ukraine und
Litauen, Konstanz 1997
European Commission against Racism
and Intolerance (ECRI): Third Report on Ukraine (Juni 2007), CRI (2008)4
http://www.coe.int/t/e/human_rights/ecri/
Ukraine- Analysen 41/08
http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/2008/UkraineAnalysen41.pdf
Stephan Roth Institut: Country
Reports 1997-2006
http://www.tau.ac.il/Anti-Semitism/CR.htm
Dietrich Geyer:
Die Erfindung der Ukraine. Warum Kiew
und das Land am Dnjepr zu Europa gehören,
Die Zeit, 24/2000
http://www.zeit.de/2000/24/Die_Erfindung_der_Ukraine
1 Das gesamte Interview in englischer
Sprache: Vladimir Matveyev „Ukrain’s ,Jewish city’ has a Jewish Mayor", The
Federation of Jewish Communities of the CIS,
(http://www.fjc.ru/news/newsArticle.asp?AID=419872)
2 Stephan Roth Institute: Annual Reports.
Republic of Ukraine 2005/2006
(http://www.tau.ac.il/Anti-Semitism/asw2006/ukraine.htm)
3 zitiert nach: ADL (3. Nov 2006) „Ukraine
University of Hate. A backgrounder on MAUP"
(www.adl.org/main_Anti_Semitism_International/maup_ukraine.htm)
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