|
Hundert Jahre
Czernowitzer "Jüdische Sprachkonferenz" 1908
Die Konferenz und ihre Wirkung
Armin EIDHERR
Vom 30. August bis zum 3.
September 1908 wurde in Czernowitz die mythenumrankte „Jüdische Sprachkonferenz"
abgehalten. Dabei ging es darum, welche Sprache DIE nationale Sprache des
jüdischen Volkes sein solle: Jiddisch oder Hebräisch standen obenan.
100 Jahre danach ist es an der
Zeit, sie und ihre Wirkung zu würdigen. Wer sich mit der jiddischen Kultur
beschäftigt, wird sehr bald auch auf die Konferenz von Czernowitz stoßen.
Die Haupttagesordnungspunkte der
Czernowitzer Sprachkonferenz von 1908
Egal, was man über die
Czernowitzer Sprachkonferenz und ihre Wirkung sagen möchte, man sollte zuerst
zur Konferenz selbst zurückgehen und sich besonders ihre Inhalte ansehen. Man
mag sie, was das Organisatorische, die Ergebnisse, die Resolutionen und
ähnliches betrifft, als gescheitert sehen Und man kann sie für überschätzt
halten, wie das nicht nur von vielen Zeitgenossen der Konferenz, sondern auch
gegenwärtig bisweilen gesehen wird: In seiner umfangreichen, 445 Seiten
umfassenden Monographie über den großen, in Czernowitz geborenen jiddischen
Dichter Itzik Manger (1901-1961) erwähnt Alexander Spiegelblatt (geb. 1927) die
Czernowitzer „Jüdische Sprachkonferenz" nur zwei Mal nebenbei, wo es heißt:
„Die Debatten im Zusammenhang mit der jüdischen
nationalen Sprache, wie sie während der Czernowitzer Konferenz von 1908
geführt wurden, waren im Wesentlichen ein Resultat der ‚bundistischen’
Ideologie."
Das entspricht nicht ganz den
Tatsachen, denn die Debatten resultierten aus der Konfrontation verschiedener
Ideen – etwa aus diaspora-nationalen und arbeiterzionistischen.
Nun lässt sich vor allem anführen,
dass – neben anderen Schwachpunkten wie dem Nicht-Zustandekommen einer sich um
die Realisierung der Ideen von „Czernowitz" kümmernden Organisation – vor allem
die nach fünf Tagen zustande gekommene Resolution nicht außerordentlich war:
„Die erste Konferenz für die jüdische Sprache erkennt
Jiddisch als eine nationale Sprache des jüdischen Volkes an und fordert ihre
politische, kulturelle und gesellschaftliche Gleichberechtigung."
Heute aber besteht kaum mehr
Uneinigkeit über ihre starke, lang anhaltende Wirkung. Immerhin ist der Status
des Jiddischen, ohne politische Anerkennung zu haben, als hervorragende
Kultursprache weitgehend unbestritten, obwohl auch schon 1908 im Einladungsbrief
zur Sprachkonferenz bemerkt wurde:
„Tatsächlich, die alte Scham bezüglich des Jiddischen hat
angefangen schwächer zu werden. [...] Immer mehr versteht man, dass sich in
ihr die jüdische Seele widerspiegelt, und man beginnt ihren Wert für den
Fortbestand unseres Volkes zu begreifen."
Das primäre Motiv, die Konferenz
zu veranstalten könnte man, als diaspora-nationalistisch definieren, wenngleich
man es mit verschiedenen Konzepten zu tun hat – wie etwa jenen von Khayim
Zhitlovski (1865-1943) und Nathan Birnbaum (1864-1937), die zusammen den Plan
zur Konferenz gefasst und ihn realisiert hatten:
„Anfang des 20. Jahrhunderts agitierte eine ganze Reihe
angesehener jüdischer Schriftsteller, wie Dr. Khayim Zhitlovski, Nathan
Birnbaum, Abraham Reisen und andere für die jiddische Sprache, in welcher
sie eines der Hauptfundamente der nationalen jüdischen Kultur sahen. 1908
wurde in Czernowitz eine ‚Jüdische Sprachkonferenz’ einberufen, um Fragen zu
behandeln, die mit der jiddischen Grammatik, Orthographie und mit jiddischer
Lexikographie verbunden sind."1
Betrachtet man die kompletten
Tagungspunkte der Konferenz, dann ist die Bedeutung für die konkrete Sprach- und
Kulturentwicklung des Jiddischen evident:
„1. die jiddische Orthographie, 2. Grammatik, 3. fremde
und neue Wörter, 4. Wörterbuch, - zwischen 4. und 5. ist nachträglich
eingefügt: Übersetzung der Bibel auf Jiddisch -, 5. Jugend und Sprache, 6.
Presse, 7. Theater, 8. ökonomische Lage der jiddischen Schriftsteller, 9.
ökonomische Lage der jiddischen Schauspieler, 10. die Anerkennung der
jiddischen Sprache."
Man erkennt neben der
Wertschätzung der Sprache und der Sorge um die Gewährleistung der Stabilität der
sie festigenden Kulturinstanzen auch die Notwendigkeit der Verbesserungen nicht
nur in sprachlicher und kultureller, sondern auch in politischer Hinsicht.
Birnbaum wollte gerade in Österreich die in der Resolution geforderte
„politische, kulturelle und gesellschaftliche Gleichberechtigung":
„In Österreich-Ungarn war es verboten bei der
Durchführung von Volkszählungen Jiddisch in der Rubrik der Sprache
anzugeben. Aber 1910 gab es bereits in Galizien und der Bukowina eine große
Volksbewegung für die Anerkennung der jiddischen Sprache." 2
Mit den politischen Änderungen
infolge des Ersten Weltkrieges war an eine Verwirklichung der diasporanationalen
Pläne in realpolitischer Hinsicht in Österreich nicht mehr zu denken.
Reaktionen 1908 und in den Jahren
danach
Ein typisches Beispiel für einen
Artikel mit positiver Darstellung ist jener, den Gerschom Bader (1868-1953)
Vorfeld der Konferenz in der hebräischen Zeitschrift Ha-Mitspeh [Der
Wachturm] im August 1908 veröffentlichte. Bader drückt dort seine Hochschätzung
der Konferenz aus. U.a. heißt es dort:
„Das Jiddische selbst ist nicht mehr als eine
Diasporasprache. [...] Jedoch ist sie tief in der jüdischen Seele verwurzelt
und schon seit fünfhundert Jahren die geistige Heimat der jüdischen Massen."
Und ein wenig später heißt es
(fast prophetisch):
„Doch die Konferenz selbst ist eine bedeutende Leistung
für die Literatur unseres Volkes, auch wenn keine einzige ihrer Resolutionen
zu praktischen Resultaten führen wird."
Als Beispiel für die negativen
Darstellungen bietet sich ein Artikel eines Dr. A. Coralnik an, der auf typische
Weise ironische Haltung und Empörung:
„Man könnte die Sache von der heiteren Seite betrachten.
[...] Wirklich komisch! Menschen, die nie die Jargonsprache gesprochen
haben, wollen sie mit fanatischem Eifer zur Nationalsprache erheben [...].
Ich habe die heitere Seite zuerst berührt, [...] weil ich die eigentliche
Frage, den Streit zwischen Jargon und Hebräisch, für müßig halte.
Liegt denn wirklich der Schwerpunkt des Judentums in der
Einheit der Sprache? Die Juden waren doch seit jeher ein zweisprachiges
Volk. Und hatten die Juden in Babylon, die aramäisch und hebräisch, die von
Alexandrien, die griechisch, und die spanischen Juden, die arabisch und
spanisch sprachen, weniger Einheit, als die Völker ringsumher, die nur eine
Sprache hatten.[...]
Die hebräische Sprache [...] war wirklich die
Nationalsprache der Juden, die nationale Wirklichkeitssprache. Denn die
nationale Wirklichkeit ist eine andere als die Tageswirklichkeit. [...]
Er [= der „Jargon"] ist eine Übergangssprache, die dem
Untergang geweiht ist. Eine, zwei Generationen – und die Juden im Osten
Europas und in Amerika werden den Jargon gesprochen haben ... Es ist eine
Bahnhofsprache, keine Sprache des Heimes. Man kann ein sehr guter, wahrer,
produktiver Jude sein, ohne Jargon zu sprechen. [...]
Die Jargonsprache ist nicht lebensfähig, das will nicht
sagen, dass sie nicht lebensberechtigt sei. Aber was lebt, unterliegt keinem
Zweifel. [...] die Sprache hat keine Zukunft. Das ist auch klar. Wozu nun
auf den Sand bauen? Wozu Unmöglichkeiten konstruieren?" 3
Der Artikel, der als Pars pro Toto
für zahlreiche andere dieser Art stehen kann, ist auffallend widersprüchlich und
unterstellt Dinge, die bei der Konferenz so gar nicht abgehandelt wurden. Auch
der drastische zynisch-aggressive Ton ist typisch für die verschiedenen
antijiddischen Positionen der Zeit.
Aber „Czernowitz" wurde
wirkungsmächtiger, als es die Gegner und selbst positiv Gesonnene vorhersahen.
Der „Geist von Czernowitz" ist beispielsweise schon spürbar, wenn es im Jahr
1924 in der ersten Nummer der deutschsprachigen Zeitschrift „Das Zelt" heißt:
„VORBEMERKUNG ZU DIESER ZEITSCHRIFT
Wenn wir daran gehen, eine neue jüdische Zeitschrift ins
Leben zu rufen, sind wir uns all der Schwierigkeiten, die ein derartiges
Unternehmen bedrohen, wohl bewusst; wir sind uns auch der undankbaren und
zwitterhaften Rolle bewusst, die eine deutsch geschriebene jüdische
Zeitschrift in einer Zeit einnehmen muss, da sich jüdisches literarisches
Schaffen in immer fortschreitendem Maße der beiden nationalen Sprachen des
Judentums bedient. Dennoch setzen wir den Versuch, weil wir wissen, dass es
noch immer eine große Anzahl von jüdischen Menschen gibt, der nur auf diesem
Wege ein kleines Abbild von dem vermittelt werden kann, was Juden schaffen
und was das Judentum sich und mithin der Welt gibt und gab. […] Wichtig
erscheint es uns, die modernen hebräischen und jiddischen Dichter in
erstklassigen Übersetzungen zu Wort kommen zu lassen." 4
Das heißt, „Czernowitz" hatte
deutlich auch außerhalb der jiddischen Kulturwelt, zumindest „innerjüdisch",
bereits eine Akzeptanz. Aufschlussreich an der zitierten Stelle ist vor allem,
dass das wesentliche jüdische Schaffen im Hebräischen und Jiddischen gesehen
wird und eine deutschsprachige Publikation sich nicht als kulturell hegemonial,
sondern als notwendige Vermittlerin sieht.
Dass das Thema aber noch immer
extrem ideologisch aufgeladen war, zeigt ein Bericht aus demselben Jahr über bei
ähnlichem Anlass stattgefundene Auseinandersetzungen in Eretz Israel:
„Die Krawalle in Tel-Aviv wegen der Sprachenfrage.
Am 5. Oktober veranstaltete der Poale Zion-Klub in Tel-Aviv eine Feier des
20. Jahrestages der ersten Konferenz der Jiddischisten in Czernowitz.
Während der Feier blockierten Mitglieder des Vereines zum Schutze der
hebräischen Sprache (Chewrath magine hasafah) das Klubhaus und griffen
Besucher an. Es kam zu einem schweren Zusammenstoß, wobei es auf beiden
Seiten mehrere Verwundete gab. Unter den Verletzten befindet sich der Führer
der Poale Zion, Stadtradsmitglied Wescher. Drei Poale-Zionisten wurden
verhaftet.
Unter der Arbeiterschaft herrscht wegen des Angriffes auf
den Poale-Zion-Klub starke Erregung. Der Stadtrat von Tel-Aviv sandte an den
Poale-Zion-Klub ein Schreiben, in welchem ihm aus Anlass der Überfälle das
Mitgefühl ausgesprochen wird."5
1928 zog auch Zhitlovski sein
bekanntes Resümee, wo er mehrfach vom Wirken der „Seele" bzw. des „Geistes" von
Czernowitz spricht. Damit meinte er im Grunde die Stärkung des Jiddischismus und
des jiddisch-kulturellen Selbstbewusstseins, das klar in der Kulturentwicklung
ab etwa 1908 in Galizien und der Bukowina zu bemerken ist.
Die Konferenz bei Jiddischen
Schriftstellern aus Galizien und der Bukowina
Interessant ist, dass die
„Jüdische Sprachkonferenz" in der
Zwischenkriegszeit bei den Schriftstellern kaum eine Rolle für ihr
dichterisches Selbstverständnis zu spielen scheint: Zum Beispiel findet sich in
keiner einzigen Nummer der wichtigen Wiener jiddischen Kulturzeitschrift
„Kritik" (1920/21), in der durchwegs interessante jiddischistische Positionen
vertreten wurden (Mosche Silburg, Melech Rawitsch, Mosche Gross), auch nur eine
Erwähnung oder Anspielung auf die Czernowitzer Konferenz. – Erst nach dem
Zweiten Weltkrieg wurde „Czernowitz" im Zusammenhang mit dem „dichterischen
Selbstverständnis" intensiver zum Thema gemacht.
Im zweiten Band seiner 1964
erschienenen Autobiographie schildert Melech Rawitsch (1893-1976), wie seine
Entscheidung für das Jiddische als ausschließlicher Sprache seiner
schriftstellerischen Tätigkeit von „Czernowitz" mitbestimmt worden sei, obwohl
er als junger Mann – zum Zeitpunkt dieser Entscheidung – eigentlich Deutsch und
Polnisch im Vergleich zum Jiddischen viel besser beherrschte.
Durch Czernowitz, könnte man
sagen, wurde Jiddisch eine bewusste Wahl, wohingegen vorher zum einen
ökonomische Gründe, zum anderen Erreichbarkeit der Massen (in der Haskala) für
die Wahl ausschlaggebend waren: Die „Wahl des Jiddischen" könnte man
beispielsweise im Zusammenhang mit Uri Zvi Grinbergs Gedichtzyklus „Mefisto"
(1922) so deuten:
„[...] das Jiddische wendet sich hier [...] gegen die
durch das Deutsche und das Hebräische repräsentierten Kulturen [...], gegen
das anhand des jüdischen Gottes vorgestellte Prinzip der Unterscheidung in
der Begrenzung, welches Einheit (Identität), darüber hinaus aber keine
Vielheit erlaubt, und zugleich gegen das mit Mephisto vorgestellte Prinzip
der Gleichheit, welches unbegrenzte Verwandlung, d.h. Vielheit, aber keine
Einheit (Identität) zulässt. Das Jiddische soll eine Alternative zu diesen
beiden Kulturkategorien vorstellen."
Die „Idee des Jiddischen" erweise
sich „als Idee von Vielheit in der Einheit."6
Diese „Idee des Jiddischen" ist
wahrscheinlich der innerste Kern des Jiddischismus.
Nun erfolgte die Entscheidung für
Jiddische aus verschiedenen – von nationalistischen hin zu „a-nationalen"–
jiddischistisch-„ideologischen" Gründen, was sich mit Rawitsch, dessen rund 30
Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geschriebenen Zeilen von Ironie und Wehmut
durchtränkt sind, so zusammenfassen lässt:
„Der gesamte Osten Europas badet sich in Flammen des
Sonnenaufgangs. Die jiddische Literatur wird die Literatur des ganzen
jüdischen Volkes. Die jiddische Sprache – die Sprache aller jüdischen
Zeiten. Gar bald werde es in Polen nationale jüdische Kultur-Autonomie
geben, und [...] die Welt ein junger Garten Eden sein."
Ganz deutlich äußerte sich der in
Czernowitz sozialisierte Yekhiel (Ikhil) Shraybman (1913-2005), er fühle sich
durch „Czernowitz" sozusagen „geboren":
„Ich wurde fünf Jahre nach der Czernowitzer
Sprachkonferenz geboren. Mein Vater war eine einfacher heimatverbundener
Mann. Unser Haus war kein literarisches. Aber seit ich denken kann, erinnere
ich mich an die drei Wörter ‚Czernowitzer Sprach-Konferenz’. Ich hatte
ständig das Gefühl, im Jahr der Czernowitzer Sprachkonferenz geboren worden
zu sein. Mehr noch: Ich dachte später oft, die Czernowitzer Sprachkonferenz
habe mich geboren. [...] Die Czernowitzer Sprachkonferenz wurde in
Czernowitz gehalten, um [...]das Ansehen der ganzen jiddischen Literatur zu
heben, die schon damals in aller Welt zu schaffen begonnen wurde. Die
Czernowitzer Sprachkonferenz gebar Dutzende große jiddische Schriftsteller
in Russland und Amerika, die es verdienen auf der Leiter, die Weltliteratur
heißt, nicht bloß auf der untersten Sprosse zu stehen."
Auch der Dichter Itzik Manger
stellt sich (biografisch) in den Kontext der Konferenz:
„1908, ich war gerade sieben Jahre alt und ein barfüßiger
Herumtreiber in den Straßen von Czernowitz, fand in meiner Geburtsstadt die
„Czernowitzer Sprachkonferenz" statt, auf der man die jiddische Volkssprache
zu einer der beiden Nationalsprachen des jüdischen Volkes kürte. Es war ein
erhabener Moment im Leben eines Volkes, seiner Sprache und seiner Literatur.
[...] Ein Volk, zwei Sprachen ... Zwei Sprachen, eine Literatur. Die
jiddische Sprache wurde ein wichtiger nationaler und sozialer Faktor. In
Jiddisch erwachte das nationale und soziale Gewissen. In diesem Sinne lässt
sich die Funktion des Jiddischen mit der Funktion des alttestamentarischen
Hebräisch vergleichen."7
Der heute noch in Czernowitz
lebende Schriftsteller Josef Burg (geb. 1912) erwähnt in Aufsätzen und
Erzählungen immer wieder die Czernowitzer „Jüdische Sprachkonferenz" von 1908
und gibt sie als eines der Motive für sein beharrliches literarisches Schaffen
in Jiddisch an, obgleich er – speziell in der Ukraine – nicht nur „der nunmehr
letzte jiddische Schriftsteller" ist, sondern dort auch kaum mehr Leser hat.
Dass er dabei die Konferenz stets auf die gleiche Weise unrichtig darstellt, hat
einerseits mit poetologischen Gründen, andererseits mit dem Wissen zu tun, dass
bei „Czernowitz" sowieso der „Mythos" mehr zählt als der historisch-faktische
Hintergrund.
So lässt er die Konferenz ständig
im Jüdischen Haus spielen und legt Perez (1852-1915) damals nicht ganz so
geäußerte Worte in den Mund:
„Jiddisch
Ich habe die Überschrift hingeschrieben, und als hätte
ich irgendeinen geheimnisvollen Spruch über die Lippen gebracht, tauchte,
wie aus dem Boden gewachsen, vor meinen Augen das große, vierstöckige Haus
mit den Resten altfränkischer Ornamente und Zierate auf, das Haus, wo sich
im Verlauf von Dutzenden Jahren alle Ströme des einstigen jüdischen Lebens
widergespiegelt haben und wo am Anfang unseres Jahrhunderts die berühmte
jiddische Sprachkonferenz stattgefunden hat.
Die Czernowitzer jiddische Sprachkonferenz.
Im Zentrum des Interesses, zwischen den Priestern der
jiddischen Literatur – J.-L. Perez; durch den festtäglich dekorierten Saal
schwebt eine farbige Wörterfülle, und es klingt feierlich und erhaben:
„Jiddisch ist die Sprache des jüdischen Volkes!"
Czernowitz [...]"8
„Czernowitz" und die Gegenwart
Das Sprechen vom „Geist", der
„Seele", dem „Mythos" oder der „Symbolik" von „Czernowitz" wird vom bekannten
Linguist und Jiddischforscher Joshua Fishman (geb. 1926) zurecht prinzipiell
kritisiert:
„Man spricht und schreibt bei uns schon Jahre lang fast
ohne Unterlass über die ‚Symbolik’ der Czernowitzer Konferenz. Es scheint,
als habe schon jeder Große im Jiddischland über diese ‚Symbolik’ wenigstens
einmal geschrieben – und wahrscheinlich schon mehr als ein Mal. [...] Doch
das Resultat davon, dass man sich so unproportional mit der Symbolik der
Czernowitzer Konferenz beschäftigt, ist, dass wir bis heute relativ wenig
über die Konferenz selbst wissen."
Oder:
„Von einem so modernen Denker wie Zhitlovski sollten wir
auf konkretere Begriffe wie bloß die romantische ‚Seele’ hoffen dürfen (‚die
Sprache ist die Seele des Volkes’ und andere solche verbreiteten mystischen
Formulierungen.")
Will man versuchen, die Begriffe
„Seele" oder „Geist" jenseits von Mystizismen wie „Volksseele" u.ä. im
Zusammenhang mit „Czernowitz" zu erklären, dann kann das jedoch sehr gut in
Verbindung mit Zhitlovskis Jiddischismus-Begriff geschehen:
„Der Jiddischismus ist [...] nichts anderes und nichts
Geringeres als das Streben nach voller und ganzer nationaler Einheitlichkeit
und voller, ganzer geistiger Freiheit und Unabhängigkeit. [...] ‚Jiddisch –
unsere nationale Sprache, unsere einzige Einheit in Freiheit.’"
Der „Geist von Czernowitz" meint
somit, dass dort das Jiddische erstmals offiziell und in einem „würdigen" Rahmen
seine Wertschätzung als „sprachliche Verkörperung" von der gesamten jüdischen
Tradition (der religiös-klassischen, osteuropäisch-jüdischen etc.) und auch
gleichzeitig der europäischen, der nichtjüdischen und eines modernen jüdischen
diasporischen Selbstverständnisses erfuhr:
„Jiddisch war nie eine Ideologie. [...] Angefangen vom
Rheinfluss bis zur Weichsel sprachen Juden Jiddisch – nicht wegen einer
Philosophie, sondern die Sprache kam natürlich, als eine europäische Sprache
für eine europäische Kultur. [...] Nathan Birnbaum sah wohl, [...] dass mit
Jiddisch ein neues jüdisches Volk entsteht, dass, wenngleich zersät und
zerstreut, doch durch die jiddische Sprache und die jiddische Kultur
geeinigt wird."9
Eigentlich hat sich schon
Zhitlovski den Jiddischismus ohne bestimmte religiöse, philosophische,
politische Identität gedacht: jeder solle, vereinfacht gesagt, tun was er wolle
– das Jiddische stifte die Einheit. Rawitsch schrieb über Zhitlovski:
„Zhitlovskis ganze Erscheinung ist
eine Portion jüdischer Optimismus und Lebensfreude. [...] Denn er forderte das
ganze Leben – leben und leben lassen."
Was aber sagt uns das heute?
Stellt man den Status Quo fest, wo
sich als „nationale" Sprache des Judentums eindeutig Hebräisch durchgesetzt hat
und Jiddisch – scheinbar – marginalisiert ist, könnte man sagen, dass das
Jiddische gegenwärtig, wo es von seiner „Aufgabe", nationale Sprache (ob man das
jetzt im Sinne von diaspora-national, kulturautonom, arbeiterzionistisch oder
wie auch immer versteht) sein zu sollen oder zu müssen, befreit ist, erst in
seiner seit jeher ihm am meisten entsprechenden Eigenheit als a-nationale,
inter- bzw. transnationale Sprache aufgefasst werden kann! Die Idee von der
„Vielheit in der Einheit" bekäme einen neuen Sinn.
Auf jeden Fall wird „Czernowitz"
mit den vielen Thematiken, die es beinhaltet, sozusagen als Chiffre für die
jiddische Kultur (und ihrer Gegner) und verschiedener jiddischistischer
Haltungen, auch immer Gegenstand der jiddischen Studien und der jiddischen,
jüdischen und generellen Kulturgeschichte bleiben. Wir sollen also in unserem
Lehren und Lernen immer wieder nach „Czernowitz 1908" zurückkehren.
2 Borochov
3 A. Coralnik: Die Sprachgesetzgeber von
Czernowitz. In: Ost und West, Nr. 10, Berlin 1908.
4 Das Zelt Nr. 1. Wien, Januar 1924. Der
anonyme Artikel stammt vielleicht vom „Schriftleiter" Eugen Hoeflich
(1891-1965), der später unter dem Pseudonym Moshe Ben-Gavriël schrieb.
5 Palästina, Nr. 11, Wien-Leipzig 1928.
6 Neuburger, Karin: Einleitung. In: Uri
Zvi Grinberg: Mephisto. München 2007.
7 Itzik Manger: Mein Weg in der jiddischen
Literatur. In: Ders.: Ich, der Troubadour. Lieder, Balladen und Prosa. Hg. von
Andrej Jendrusch. Berlin 1999.
8 Burg, Josef: Jiddisch. In: Ders.: Sterne
altern nicht. Ausgewählte Erzählungen. Aus dem Jiddischen von Armin Eidherr.
Winsen 2004.
9 Mordekhay Tsanin
|
|
|
|