Wer hat in unserer Gasse gewohnt? Was ist ab 1938 mit diesen
Bewohnern und Bewohnerinnen geschehen? Diese Fragen haben seit 2004 Menschen,
die heute in der Servitengasse leben, und Anrainer beschäftigt.
Sie haben sich zu einer Projektgruppe zusammengeschlossen, um
den Spuren der verschwundenen jüdischen Nachbarn aus der Servitengasse im 9.
Wiener Bezirk nachzugehen. Ein Basisprojekt entstand, das erstmals in Wien der
Aufarbeitung des Schicksals der Jüdinnen und Juden, die in der Gasse gelebt und
gearbeitet oder Häuser und Geschäfte besessen hatten, Beachtung schenkte.Die
Projektgruppe überwand mit viel Engagement und Zähigkeit alle Hürden, um ein in
die Tiefe gehendes und wissenschaftliches Bild vom Mikrokosmos der Ausgrenzung,
Vertreibung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden zu rekonstruieren und
aufzuzeigen.
Exemplarisch für viele andere Gassen im 9. Bezirk ist im
Projekt Servitengasse 1938 dokumentiert, was die Machtübernahme der
Nationalsozialisten für die jüdische Bevölkerung bedeutet hat. Über Nacht wurden
aus ehemaligen Nachbarn Feinde. Ausgrenzung und Beraubung gehörten ebenso zum
Alltag wie Delogierungen. Die Folge waren der verzweifelte Kampf ums Überleben,
die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, die Einweisungen in Sammelwohnungen, die
Deportation und die Vernichtung in Konzentrationslagern.
Mehr als die Hälfte der Bewohner der Gasse waren im März 1938
jüdischer Herkunft. Insgesamt wurden 462 Personen, die in der Servitengasse
gewohnt hatten oder ein Geschäft oder eine Liegenschaft besessen hatten, Opfer
der Verfolgung durch die Nationalsozialisten.
Die Ergebnisse dieser Recherchen sind nun in einem
Forschungsbericht dokumentiert, den die Wissenschafterinnen der Gruppe
erarbeitet haben. Die Publikation, „1938 Adresse Servitengasse, eine
Nachbarschaft auf Spurensuche" (Hg. Birgit Johler und Maria Fritsche; Mandelbaum
Verlag 2007) vereint die wissenschaftlichen Ergebnisse mit Artikeln der
Projektmitglieder zu einzelnen Schicksalen. Mit diesem Buch wurde eine Brücke
zwischen den Bewohnern der Gasse von gestern und heute geschlagen, und die
Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit auf lokaler Ebenen
dokumentiert.
„Schlüssel gegen das Vergessen" ist der preisgekrönte Entwurf
der Studentin Julia Schulz – ein Gedenksymbol, bestehend aus einer im Boden
eingelassenen Glasvitrine, in der 462 Schlüssel mit den Namensschildern jener
Menschen, die in der Servitengasse gelebt, gearbeitet und Häuser besessen haben,
gezeigt werden.
Am 8. April 2008 konnte dieses Gedenksymbol im Beisein von
ehemaligen, vertriebenen Bewohnern und Bewohnerinnen der Servitengasse feierlich
enthüllt werden.
Mit diesem Gedenksymbol sind die Namen jener 462 Jüdinnen und
Juden, die aus der Servitengasse „verschwunden" waren, wieder sichtbar gemacht
worden. Ihre Namen sind nicht mehr ausgelöscht. Sie wurden wieder gefunden, und
die Erinnerung an sie ist damit unauslöschlich.