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Pionierin der israelischen Architektur
Zum 25. Todesjahr der Architektin Lotte Cohn (1893 – 1983)

Ines SONDER

Vor 25 Jahren, am 7. April 1983, starb die aus Deutschland gebürtige Architektin Lotte Cohn in ihrem 90. Lebensjahr in Tel Aviv. In den Tageszeitungen Ha’aretz und Jerusalem Post erschienen Todesanzeigen, in denen sie als "One of the Builders of Israel" gewürdigt wurde.

Auch ihre ehemaligen Kollegen, die Architekten Jehuda Lavie (eigtl. Ernst Loevisohn) und Josef Bruck veröffentlichten einen Nachruf unter dem Titel „Die erste Architektin Israels" im Verbandsblatt der Association of Engineers and Architects in Israel, jener Vereinigung, die Lotte Cohn 1923 als einzige Frau im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina mitbegründet hatte.
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Lotte Cohn (1924)

Lotte Cohns Leben gehört zu den außergewöhnlichen Frauenbiographien des 20. Jahrhunderts und musste dennoch erst wiederentdeckt werden. Anders als beispielsweise bei der „Doyenne der österreichischen Architektur" Margarete Schütte-Lihotzky (1897-2000)2, die nur vier Jahre jünger war als Lotte Cohn und ebenfalls in der Zeit des Ersten Weltkrieges als eine der ersten Frauen Architektur studiert hatte, war der „Doyenne der israelischen Architektur" eine späte Anerkennung durch eine jüngere Generation von Architekturstudenten, Fachkollegen und Historikern zu Lebzeiten nicht vergönnt. Ihr biographischer und architektonischer Nachlass ist heute verstreut, viele Originalpläne und Dokumente sind verloren gegangen, einige Bauten bereits abgerissen oder bisweilen stark verändert. Erst als sich eine Forschergemeinde, allen voran die in diesem Jahr verstorbene Architektin Myra Warhaftig, mit den deutsch-jüdischen Wurzeln der israelischen Baugeschichte befasste, stieß man wieder auf Lotte Cohn.3 Und auch die weibliche Architekturgeschichtsschreibung hat seit einigen Jahren ihre Protagonistinnen entdeckt und ist um Aufarbeitung ihrer Werke bemüht.4

Im Kreise der Pionierinnen der Architektur am Beginn des 20. Jahrhunderts nimmt Lotte Cohn eine besondere Stellung ein. Die zionistische Erziehung in ihrem Berliner Elternhaus – ihr Vater Dr. Bernhard Cohn (1841-1901) war Verfasser der Mahnschrift Vor dem Sturm (1896) und Mitbegründer der ersten zionistischen Ortsgruppe Berlins, ein Bruder war der bekannte zionistische Rabbiner und Dramatiker Emil Bernhard Cohn (1881-1948) – beförderte schon in der Jugendzeit den Wunsch, aktiv am Aufbau des „Judenlandes" mitzuwirken. Im Sommersemester 1912 schrieb sich die Achtzehnjährige als vierte „ordentliche"5 Studentin an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg ein und erwarb im Dezember 1916 als dritte Frau ihren Diplom-Ingenieur im Architekturfach – nach Elisabeth von Knobelsdorff (1877-1959) und ihrer jüdischen Kommilitonin Marie Frommer (1890-1976). Erste Berufserfahrungen sammelte sie während des Ersten Weltkrieges in Ostpreußen beim Wiederaufbau kriegszerstörter Städte und Dörfer. 1921, im Alter von 28 Jahren, wanderte sie schließlich als eine der ersten deutsch-jüdischen Immigrantinnen der Dritten Alijah6 in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina ein – als notabene erste Frau ihrer Profession im Land.


Haus Dr. Theodor Zlocisti, Mount Karmel (1936)

Wie kaum eine zweite Vertreterin ihrer Generation der ersten Architektinnen am Beginn des 20. Jahrhunderts hat Lotte Cohn über einen Zeitraum von beinahe 50 Jahren die Baugeschichte ihres Landes aktiv mitgeschrieben. Dabei war sie an einem überaus breiten Spektrum von Bauaufgaben und Projekten beteiligt.

Als Assistentin des aus Frankfurt (Main) gebürtigen Architekten und Stadtplaners Richard Kauffmann (1887-1858) arbeitete sie an der Grundlegung neuartiger Siedlungsstrukturen, wie sie in den ersten Konzeptionen für die landwirtschaftlichen Genossenschaftssiedlungen der Kibbuzim und Moschavim, sowie die ersten jüdischen Gartenvororte der 1920er Jahre ihren Ausdruck fanden, mit.7

In Zusammenarbeit mit dem aus Wien gebürtigen Bauingenieur Josef Mahrer (1901-1983) schuf sie für die deutsch-jüdischen Immigranten der Fünften Alijah nach Hitlers Machtergreifung die sogenannten Mittelstandssiedlungen der 1930er Jahre. Gemeinsam mit dem aus Berlin gebürtigen Jehuda Lavie (1910-1998) plante sie die sozialen Wohnsiedlungen (hebr. Schikunim) im Zuge der Masseneinwanderung nach der Staatsgründung Israels nötig wurden.

Entwurf für eine Volksschule in Tiberias (1922)

Des Weiteren wirkte Lotte Cohn an zahlreichen lokalen und internationalen Wettbewerben in Palästina/Israel mit, darunter für das Gebäude der Nationalen Institutionen (1928) in Jerusalem, erhielt Bauaufträge von den am Aufbau des Jischuv8 beteiligten jüdischen und zionistischen Organisationen, und plante Typenhäuser und Wohnungsgrundrisse im Kleinsiedlungsbau, Wohn- und öffentliche Bauten für Privatpersonen, Institutionen und Baugesellschaften. Auch auf dem Gebiet der Stadtbereichsplanung, Inneneinrichtung, Möbeldesign und Grabentwürfe war Lotte Cohn tätig.

Ihre architektonischen Einzelprojekte weisen dabei auf eine Bandbreite, die zugleich eine stilistische Vielfalt und Entwicklung beschreibt: So mit ihrem Entwurf für eine Volksschule in Tiberias, aber auch mit dem Wohnhaus inklusive Privatklinik für den Arzt und Mitglied des Tel Aviver Stadtrates Dr. Theodor Zlocisti (1874-1943) in der Idelson Straße 30 in Tel Aviv (beide 1922), die sich beide mit dem so genannten „erez-israelischen" Stil des Pionierarchitekten Alex Baerwald (1877-1930) auseinandersetzten und in denen sich die Suche nach einem jüdischen National- beziehungsweise „Heimatstil" widerspiegelt. Später folgten die moderaten und funktionsgerechten Wohnbauten der landwirtschaftlichen Mädchenschule im Moschav Nahalal (1923/24) und das erste Kinderhaus in dem von deutschen und tschechischen Pionieren gegründeten Kibbuz Chefzi-bah (1926) mit ihren Ziegeldächern nach europäischem Vorbild. Seit Beginn der 1930er Jahre und als Mitglied des 1934 gegründeten Tel Aviver Architektenringes „Chug"9 zählte sie schließlich zu den „bedingungslos Modernen", die für ein rationales und funktionelles Bauen und eine „palästinagerechte" Architektur eintraten, wie ihr Kollege Gideon Kaminka (1904-1985) in einer Würdigung schrieb.10 Hiervon zeugen ihr Entwurf für das Gewerkschaftshaus „Beit Hapoalim" in Jerusalem (1927), das in der Gliederung des Baukörpers Einflüsse der „De Stijl"-Gruppe aufweist; ebenso die funktionalistischen Siedlerhäuser in Pardess Hanna (1934), die der „weißen Moderne" huldigten; die modernistische Villa für besagten Dr. Zlocisti auf dem Berg Karmel bei Haifa (1936) mit ihren horizontal gestreckten Fenstern; oder das Geschäftshaus „Shimon Binyan" (1935) in der Allenby Straße 56 in Tel Aviv, das in Darstellungen zur Architektur des Internationalen Stils und des Bauhauses der „Weißen Stadt" Eingang fand. Interessant bleibt zu erwähnen, dass zu ihren Auftraggebern auch Araber gehörten, wie zwei Entwürfe aus dem Jahr 1932 für ein Wohnhaus in Quatamon, einem im Süden Jerusalems gelegenen Stadtteil, belegen. Ob diese realisiert wurden beziehungsweise aus welchem Umfeld die Auftraggeber kamen, ist unbekannt. Bis heute konnten an die einhundert Bauten und Projekte Lotte Cohns zusammengetragen werden. Ihre Katalogisierung und architekturhistorische Analyse stehen noch vor der Auswertung.

Im nächsten Frühjahr erscheint von der Autorin eine Biographie Lotte Cohns im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp. Ebenfalls 2009, im 100. Gründungsjahr der Stadt Tel Aviv, wird im Bauhaus Center Tel Aviv die Ausstellung „Lotte Cohn – Pioneer Woman Architect in Eretz Israel" zu sehen sein.

  • 1 Die Association of Architects in Palestine wurde im September 1923 von Richard Kauffmann (Vorsitzender), dem britischen Architekt Clifford Holliday (Vize), Lotte Cohn (Schriftführerin) und Fritz Kornberg (Schatzmeister) begründet.

  • 2 Schütte-Lihotzky, Margarete: Warum ich Architektin wurde, Salzburg 2004.

  • 3 Warhaftig, Myra: Sie legten den Grundstein. Leben und Wirken deutschsprachiger jüdischer Architekten in Palästina, 1918 – 1948, Tübingen 1996. Erstmals wurde Lotte Cohn im Rahmen der Ausstellung und im Katalog Schüler des Bauhauses, der Technischen Hochschule, der Akademie der Künste und ihre Einflüsse auf die Architektur und Stadtplanung in Israel, Berlin-Charlottenburg 1980 erwähnt.

  • 4 Dörhöfer, Kerstin: Pionierinnen in der Architektur. Eine Baugeschichte der Moderne. Tübingen/Berlin 2004; Maasberg, Ute/Prinz, Regina: Die Neuen kommen. Weibliche Avantgarde in der Architektur der zwanziger Jahre, Hamburg 2004 (leider sehr fehlerhaft in Bezug auf Lotte Cohn).

  • 5 Erst im April 1909 hatte Preußen als letztes deutsches Land die Technischen Hochschulen für die reguläre Immatrikulation von Frauen geöffnet (Bayern 1905 als erstes deutsches Land). Bis 1896 musste jede „studierwillige Dame" die spezielle Genehmigung des zuständigen Ministers erwirken, erhielt nach „Prüfung der Vorbildung" jedoch lediglich den Status einer Gasthörerin und durfte auch kein Diplom erwerben.

  • 6 Alija, Pl. Alijot (hebr. Aufstieg): Jüdische Einwanderungswelle nach Palästina/Israel; bis zur Staatsgründung werden fünf Alijot unterschieden: Erste Alijah (1882-1904), Zweite Alijah (1904-1919), Dritte Alijah (1919-1923), Vierte Alijah (1924-1931), Fünfte Alijah (1932-1939).

  • 7 Zu den jüdischen Gartenvororten, vgl. Sonder, Ines: Gartenstädte für Erez Israel. Zionistische Stadtplanungsvisionen von Theodor Herzl bis Richard Kauffmann, Hildesheim/Zürich/New York 2005.

  • 8 Jischuv (hebr. bewohntes Land): Bezeichnung für die Gesamtheit der jüdischen Einwohner und Siedlungen in Palästina bis zur Gründung des Staates Israel 1948.

  • 9 Der „Chug" (hebr. Kreis) war in der Tradition des Berliner „Rings" von 1926 gegründet worden. Zu seinen Begründern gehörten der Bauhaus-Absolvent Arieh Sharon, Joseph Neufeld, Zeev Rechter und wiederum als einzige Frau Lotte Cohn.

  • 10 Kaminka, Gideon: Architekten der Fünften Alijah verändern das Gesicht des Landes, in: Mitteilungsblatt 34/35 (7. September 1983), S. 11f.
 
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