Die Waisenfürsorge spielte besonders nach dem Ersten
Weltkrieg für Waisenkinder - insbesondere für die Kriegswaisen - eine wichtige
Rolle. Die soziale Lage war unter anderem durch Wirtschaftskrisen und harte
Winter angespannt. Die Wohnverhältnisse in der Großstadt waren trist, die
Menschen lebten in überfüllten, feuchten und kalten Wohnungen, es gab oft nicht
genug zu essen.
Die Jüdische Jugendfürsorge kümmerte sich um jüdische Waisen
und verlassene Kinder. Die Kleinen erhielten Bekleidung und nach Bedarf
Lebertran, Malzextrakt und Medikamente. Sie wurden regelmäßigen ärztlichen
Kontrollen unterzogen, und auch für ihren Erholungsurlaub wurde gesorgt. Für
Waisenkinder, die in Heimen untergebracht waren, wurde vom Kriegswaisenkomitee
die volle Verpflegsgebühr bezahlt; demgegenüber wurde für 70 bis 80 verlassene
Kinder von der Jüdischen Jugendfürsorge ein Heimbeitrag von je 60 bis 70
Schilling geleistet. Für die Kriegswaisen, die sich bei ihren verwitweten
Müttern oder in Privatpflege befanden, wurde ein Pflegebeitrag von je 15 bis 30
Schilling monatlich vom Kriegswaisenkomitee zur Verfügung gestellt. Für
verlassene Kinder, die in einer Familie untergebracht waren, leistete die
jüdische Jugendfürsorge je 10 bis 15 Schilling Pflegebeitrag monatlich (Jüdische
Jugendfürsorge 1925, S. 15).
„Der Zweck der Waisenfürsorge ist die Erziehung des Kindes
zum vollwertigen Mitglied der menschlichen Gesellschaft" (Clostermann, Heller
1930, S. 847).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollten laut Israelitischer
Kultusgemeinde (IKG) jüdische Waisen oder bei verlassene Kinder in einem
jüdischen Waisenhaus oder einer jüdischen Pflegepartei erzogen werden, damit die
Zugehörigkeit zum jüdischen Kreise erhalten bliebe, und die Verbindung zum
Judentum - die durch Geburt bestünde - nicht durch neutrale oder antijüdische
Erziehung verloren ginge (Israelitische Kultusgemeinde 1930, S. 3).
Das Elisabeth-Heim für Kriegswaisen, Lehrmädchen und
Arbeiterinnen, Wien II, Malzgasse 7, war auch unter dem Namen Dr. Krüger-Heim
bekannt. Es wurde 1897 gegründet und bot 150 Waisenmädchen, die im Alter
zwischen acht und vierzehn Jahren aufgenommen wurden, die Möglichkeit, ein
selbständiges Gewerbe zu erlernen. Die Jüngeren besuchten zuerst die Volks- und
Bürgerschule und wechselten dann zur Ausbildung ins Lehrmädchenheim. Anfänglich
waren dort nur fünf Lehrmädchen untergebracht. Das Heim wurde allmählich
vergrößert, bis 1906 durch finanzielle Unterstützung von Privaten der Erwerb
eines eigenen Heims möglich und dem Lehrmädchenheim ein Arbeiterinnenheim
angegliedert wurde. Die Verwaltung wurde durch das „Jüdische Hilfswerk der
Agudas Jisroel" übernommen. Der Aufenthalt war solange gewährleistet, bis sich
die Mädchen selbständig erhalten konnten, jedoch maximal bis zum vollendeten 18.
Lebensjahr. Jedem Schützling wurden sogenannte Schutzdamen aus den Reihen des
Vorstandes zugeteilt, die über den Lernfortschritt der Mädchen wachen sollten.
Einige Räume wurden als Werkstätten adaptiert und eine Schule für gewerbliche
und kunstgewerbliche Frauenberufe gegründet. Vom zwei Jahre dauernden
Fachunterricht für „Weißnähen" und Kleidermachen, der 1923 eingerichtet wurde,
versprach man sich, zur moralischen Erziehung beizutragen. Auf die Hochhaltung
der Moral wurde sehr viel Wert gelegt, um die Mädchen vor der Gefahr der
Verwahrlosung und den Gefahren der Großstadt zu schützen. Die Mädchen blieben,
bevor sie mit der Berufsausbildung begannen, einige Monate im Heim, wo sie
wirtschaftliche Arbeiten verrichteten. In dieser Zeit wurden die Mädchen vom
Vorstand beobachtet, um die Fähigkeiten der Mädchen für die Berufswahl besser
einschätzen zu können und Fehlgriffe bei der Auswahl der Berufe zu vermeiden.
Das Elisabeth-Heim „hat in nahezu drei Dezennien seines Bestandes viele hunderte
Waisenkinder zu ehrenhaften Gewerblerinnen, Müttern und Hausfrauen
herangebildet, die ohne seine Wohlfahrtsarbeit vermutlich moralisch und
körperlich zugrunde gegangen wären" (Jüdische Fürsorge 1925, S. 24). Mädchen,
die für gewerbliche Berufe weniger begabt waren, wurden in der Haushaltung zu
Köchinnen, Stubenmädchen oder in ähnlichen Berufen ausgebildet. Schwerpunkte des
Heimlebens waren körperliche Ausbildung wie regelmäßiges Turnen aber auch
hygienische Maßnahmen und die Förderung der geistigen Entwicklung durch
lehrreiche Vorträge und die Erhaltung einer Bibliothek. Die religiösen Feiertage
wurden feierlich begangen. „Die Wahrheit" berichtete von einer Chanukkafeier,
der sogar Oberrabbiner Dr. Chajes, Vertreter des Kultusvorstandes jener Zeit,
zahlreiche Industrielle, bekannte Philanthropen und die Delegierten vieler
Wohltätigkeitsvereine beiwohnten (Die Wahrheit 1922, 12. Jänner, 12). Die
Zöglinge hielten ernste und heitere Vorträge und führten Gesänge und Tänze vor.
Den Abschluss besagter Chanukkafeier bildete ein reichliches Abendessen. Die
Erhaltung dieses Heimes war jedoch eine finanzielle Herausforderung. So flossen
beispielsweise 1925 2.059,30 Schilling an Mitgliedsbeiträgen, 25.285,82 S an
Spenden, 300,- S an Beiträgen vom Bund, 21.700,- S von Gemeinde Wien, IKG und
JDC, 990,- S von Vereinen und 12.508,86 S an Einkünften der arbeitenden Mädchen
selbst an die Heimkassa. Die Gesamtsumme der Einnahmen betrug 72.074,18
Schilling (Jüdische Fürsorge 1925, 25).
Um 1930 wurden streng koschere Kochkurse, Diätkurse,
englische und französische Sprachkurse, moderne Turnkurse und kunstgewerbliche
Kurse angeboten (Die Stimme 1930, 18. September, S. 7).
Insgesamt ist zu sagen, dass es sich in bezug auf das
Elisabethheim um eine äußerst wichtige und notwendige Einrichtung handelte,
welche die Erfordernisse der damaligen Zeit erkannte. Der Einblick in das
Angebot dieses Waisenhauses zeigt das Bemühen um eine vielfältige Hilfestellung
und Unterstützung für seine Zöglinge.
„In Kindern liegt die Zukunft, die Zukunft des Judentums"
(Israelitische Kultusgemeinde 1930, S. 3).
Clostermann, L., Heller, T. (Hrsg.) (1930): Enzyklopädisches
Handbuch des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge. Akademische
Verlagsgesellschaft Leipzig
Zentralstelle für jüdisch soziale Fürsorge (Hrsg.) (1925):
Jüdische Jugendfürsorge. Ein Jahrbuch der Fürsorge für das jüdische Kind in
Wien. Selbstverlag: Wien
Die Stimme (1930, 13. März): 25 Proz. der Spendeneingänge des
Keren Kajemeth dieses Jahres haben 86 Selbstkontingentler aufgebracht. – Sind
Sie bereits darunter? In: Die Stimme, Jahrgang 3, Nr. 117, S. 14
Die Wahrheit (1922, 12. Jänner): Elisabethheim für
Kriegswaisen, Lehrmädchen- und Arbeiterinnen. In: Die Wahrheit, Jahrgang 38, Nr.
2, S. 12f
israelitische Kultusgemeinde Wien (Hrsg.) (1930, September):
Mitteilungen der israelitischen Kultusgemeinde. Unser Fürsorgewerk Nr.1.
Selbstverlag: Wien