Die Nachbarn
Vis-a-vis des Heimes in der
Tempelgasse, im Haus Nummer 4, wohnte Frau Treidel. Ihr Sohn Walter war zwei
Jahre älter als Hans. Frau Treidel war die allererste Frau, die sich damit
beschäftigte, im Tempelhof umherliegende, von der Tempelruine stammenden
Ziegelsteine mittels kleinem Beil zu säubern und den anhaftenden Mörtel
abzuklopfen. Die so gesäuberten Ziegelsteine schlichtete sie zuerst neben-, dann
aufeinander, sodass mit der Zeit ein ansehnlicher Ziegelquader entstand. Bald
gesellten sich weitere Frauen zu ihr, um dieselbe Arbeit zu verrichten und so
ein paar Groschen zu verdienen. Monate später kam Herr Treidel dazu. Er war erst
jetzt aus russischer Gefangenschaft entlassen worden und versuchte,
mitzuverdienen. Tatsächlich gab es kaum andere Verdienstmöglichkeiten, doch trug
diese Arbeit wesentlich zum ziemlich zügigen Wiederaufbau der arg zerstörten
Wienerstadt bei.
Nach wie vor gab es im Heim
Bewegung. Einige zog es ins „Gelobte Land", andere in die USA, nach Kanada oder
gar nach Australien. Die meisten Abreisenden suchten die Nähe von Verwandten, so
überhaupt noch welche am Leben waren. Dorothea aber beabsichtigte, keinesfalls,
was auch geschehen mochte, auszuwandern, sondern in Wien zu bleiben. Eines Tages
wurde wieder einmal ein eben erst frei gewordenes Zimmer von einer neu
angekommenen Familie bezogen: Ein Vater, dessen hochschwangere Gattin und zwei
Söhne. Die Familie Schärf wollte ihren Heimaufenthalt von vornherein kurz
halten, da sie nach Israel auswandern wollte, aber noch nicht alle notwendigen
Papiere beisammen hatte. Der ältere der Söhne hiess Hans, der jüngere wurde
Robby gerufen und dieser war, für die kurze Zeit seines Aufenthaltes im Heim,
der Spielgefährte von „Heim-Hans" geworden. Die Familie lebte gerade erste
einige Wochen im Heim, das Unvorstellbare geschah: Vater Schärf lief einer
bereits anfahrenden Strassenbahn nach, die damals noch offene Zutritte hatte. Er
versuchte, die aussen angebrachten Griffstangen zu fassen und auf das Trittbrett
aufzuspringen, rutschte ab, fiel unter die Strassenbahngarnitur, und wurde von
dieser überrollt. Er war sofort tot. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die
schreckliche Nachricht - das Unglück war direkt auf der noch immer beschädigten
Aspernbrücke geschehen. Bald sprach jemand davon, dass es sich bei der
verunglückten Person um einen Heimewohner handelte. Gross waren Aufruhr und
Ungewissheit. Als Hans davon hörte, eilte er zur nahe gelegenen Brücke. Dort
hatte sich inzwischen ein Stau mehrerer Strassenbahnen gebildet, und einige
Gruppen gestikulierender und diskutierender Passanten standen auf beiden Seiten
der Brücke. Die Blicke aller waren zur Mitte hin gerichtet, dorthin, wo dickes,
braunes Packpapier ausgebreitet war. Darunter lag die verstümmelte Leiche von
Herrn Schärf. Unterdessen informierten Polizisten Frau Schärf im Heim von dem
schrecklichen Unfall. Trotz dieses schweren Schicksalsschlages schenkte diese
kurz darauf einem dritten, gesunden Sohn, Gerry, das Leben. Wenige Wochen nach
dessen Geburt hatte sie die fehlenden Papiere beisammen, und die nun vaterlos
gewordene Familie reiste nach Israel ab, einer besseren Zukunft, wie sie meinte,
entgegen, und hatte damit hoffentlich recht.
In der Nähe des Fleischmarktes im 1. Bezirk fand Dorothea bei der Zensurstelle
eine zeitweilige Anstellung. Dank der vielen perfekten Sprachkenntnisse und
ihrer ausgezeichneten Kombinationsfähigkeit war ihr diese Stelle zuerkannt
worden. Nun verdiente sie etwas Geld. Es reichte gerade für Lebensmittel,
reduzierte aber das andauernde und erniedrigend Betteln- und Bittenmüssen bei
den diversen Ämtern oder Zuteilungsstellen auf ein Minimum. Trotzdem war es
unumgänglich, bei größeren Einkäufen, „bis zum nächsten Mal" anschreiben zu
lassen. Es kam vor, dass die Schulden nicht zum vereinbarten Termin beglichen
werden konnten. Dann erschien irgendwann ein Beamter mit der obligaten
Aktentasche, sah sich im mehr als dürftig ausgestatteten Zimmer vergeblich nach
pfändbaren Gegenständen um, entdeckte zuletzt doch den winzig kleinen schwarzen
Volksempfänger, schien erleichtert und klebte flugs auf dessen Rückseite eine
Marke, den so genannten Kuckuck. Zu Pfändungen kam es nie, hin und wieder aber
zu neuerlichen Besuchen des Beamten. Trotz all dieser Widerwärtigkeiten aber
hatten weder Hans noch Erika jemals das Gefühl, Hunger zu leiden oder etwas zu
missen. Dies war einzig ihrer großartigen Mutter mit ihrem phänomenalen
Improvisationstalent zuzuschreiben. Dorotheas vorrangiger Lebensinhalt und Ziel
war, ihren beiden innigst geliebten Kindern mit den bescheidenen, ihr zur
Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten die beste Erziehung und Ausbildung
zu bieten. Ab und zu erklärte sie den Kindern, dass ihr dies und jenes leider
aus diesem und jenen Grund zu machen oder zu kaufen nicht möglich sei. Die
Kinder verstanden sie immer.
Entstanden Bekanntschaften zwischen Heimbewohner, so war es selbstverständlich,
einander bei Engpässen mit Lebensmitteln auszuhelfen. Handelte es sich um
Zucker, Mehl, Milch und ähnliches, so wurde tassenweise ausgeholfen. Die gleiche
Menge erwartete man dann zurück. Ließ sich jemand mit der Rückerstattung zu
lange Zeit oder vergaß - absichtlich oder unabsichtlich, scheute sich niemand,
darauf hinzuweisen. Aus welchen Gründen auch immer, die meisten Heimbewohner
gingen einander aus dem Wege und waren, wenn sie überhaupt miteinander sprachen,
kurz angebunden. Manche mochten einander auch einfach nicht leiden. Besonders
wenn jeder dem anderen vorhielt, ihm etwas aus „Bestemm" (mit Absicht) zu Leide
zu tun. Man stachelte einander so lange auf, bis es zu handgreiflichen
Auseinandersetzungen kam. Sah sich die Heimleitung außerstande, den Streit zu
schlichten oder war sie nicht anwesend, so wurde jemand ins nahe gelegene
Wachzimmer in der Ferdinandgasse geschickt, um dort über den Vorfall zu
berichten. Dann machten sich ein oder zwei Polizisten sehr gemächlich auf,
bereits ahnend, was sie erwarten werde. Waren sie bei Heim angekommen,
amtshandelten sie, wobei es, schon des besonderen Status des Heimes wegen, immer
bei Abmahnungen blieb.
Onkel Paul
Erika war ein sehr herziges und einnehmendes Kind, und über sie wurde
Dorothea mit einem kürzlich im Heim eingezogenen Mann bekannt. Er war Wiener,
Musiker von Beruf, stammte aus der Brigittenau, und hieß Paul Braun. Eben erst
war er aus der Sowjetunion, wo er zehn Jahre in der Emigration verbracht hatte,
nach Wien zurückgekehrt. Sein um zehn Jahre älterer Bruder Otto hingegen, ein
praktischer Arzt, war noch vor 1938 mit seiner ersten Frau Anni in die USA
ausgewandert. Paul schlug sich über die Tschechoslowakei und Polen bis nach
Russland durch. Dort wurde er aufgegriffen und nach Sibirien deportiert. Die
ganzen Jahre hindurch verdankte er sein Überleben dem Umstand, dass er sowohl
Klavier als auch Akkordeon spielen konnte - und viel, viel Glück. Als Paul
zurückkehrte, sein ehemaliges Wohnhaus und das Textilgeschäft seiner Eltern
zerbombt vorfand und von seinem Bruder Otto nur wusste, dass er irgendwo in den
USA lebte, wandte er sich an die Kultusgemeinde. Diese verwies ihn ans
Obdachlosenheim. Pauls gesamter Besitz bestand aus einem kleinen, mit
Lederriemen zusammengehaltenen Pappköfferchen, in das einige wenige zerlumpte
Kleidungsstücke, außerdem Notenblätter, und eine Handvoll Familienfotos
hineingestopft waren. Darüber hinaus besaß Paul eine Klarinette mit Etui. Frau
Citron wies ihm eine Bettstatt im Männerzimmer im dritten Stock zu. Um sich die
langweilige Zeit zu verkürzen, begann Paul, als einziger täglich den bis dahin
unbenutzten Gemeinschaftsraum aufzusuchen und dort Klarinette zu üben. Das
Instrument schien er noch nicht lange zu besitzen, denn seine Übungen bestanden
allein aus Tonleitern.
Manchmal, wenn Hans und Erika das Instrument ertönen hörten, schlichen sie zum
Gemeinschaftsraum, öffneten leise einen Spaltbreit die Türe und sahen Paul zu.
Allzu gerne hätte Hans einmal in dieses Instrument geblasen, hätte es wohl auch
selbst versuchen können, getraute sich aber nicht. Was also lag näher, als seine
kleine Schwester zu diesem Unterfangen anzustiften? Als Paul wieder einmal den
Raum verlassen hatte, schickte Hans sie hinein. Erika ging zu dem am Tisch
abgelegte Instrument hin - ihr Kopf reichte gerade über die Tischkante -, und
blies hinein. Ein leiser Ton war vernehmbar. Laut hingegen war das Donnerwetter,
das es von Paul daraufhin setzte, sodass die Kinder schleunig in ihr Zimmer
liefen.
Paul muss Erikas Erschrockenheit mehr als die des Knaben beeindruckt und erbarmt
haben. Bei der nächsten Begegnung mit ihr lud er sie ein, mit ihm einen nahe
gelegenen Eissalon auf der Praterstrasse aufzusuchen. Dort angekommen fragte er
sie, ob sie gerne Eislutscher haben möge? Sie nickte heftig. Tatsächlich kaufte
er ihr gleich einige dieser beliebten Wassereislutscher und half ihr beim
Tragen. So schlenderten sie langsam wieder dem Heim entgegen, wo sie nach einer
Weile, bekleckert und mit verklebten Händen, anlangten. Dorothea, die
mittlerweile nach Erika Ausschau hielt, sie mit dem ihr fremden Mann daherkommen
sah, begann umgehend mit beiden zu schimpfen. Jene wiederum versuchten sich zu
verteidigen, wobei Paul von Erika kräftig unterstützt wurde. Nach einigem Hin-
und Her, bei dem einer den anderen kaum verstand oder zu Wort kommen ließ,
begannen mit einem Mal alle zu lachen. Paul und Dorothea heirateten 1952. Die
Ehe hielt bis zu Pauls viel zu früh eingetretenen Tod an einem
Nierenkrebsleiden. So musste er mit nur dreiundfünfzig Jahren und nach so viel
Durchgestandenem von dieser Welt gehen.
Paul Braun und sein Bruder Otto stammten aus einer gutbürgerlichen,
assimilierten jüdischen Kaufmannsfamilie. In der Wallensteinstrasse hatten sie
eine große Patrizierwohnung bewohnt. Nicht unweit davon hatte sich das
Textilgeschäft ihres Vaters Moritz Braun befunden, auf die Anfertigung von
Herren-Maßhemden spezialisiert. Von den Erträgen hatte die Familie ausgezeichnet
leben können. Es war so gut gelaufen, dass Vater Braun seinen Söhnen eine
ausgezeichnete Ausbildung bieten und sich die Familie sogar eine Haushälterin
leisten konnte. Der Mutter, Olga Braun, sie hiess mit ledigem Namen Sucharipa,
und ihrem Gatten Moritz war es vergönnt gewesen, altersbedingt sterben zu
dürfen. Moritz Braun starb 1936, seine Gattin 1940.
Um den tristen Heimtagen zu
entfliehen, suchte Dorothea oft mit den Kindern den Stadtpark auf. Sie kleidete
sie dann so adrett wie möglich, wobei das Trägerröckchen Erikas und die
Trägerhose von Hans aus ausrangierten, weissen Leintüchern bestanden, die
Dorothea selbst angefertigt hatte. Erikas blondes Haar schmückte sie zudem mit
einer übergrossen farbigen Haarschleife, welche sie um ein lustig nach oben
stehendes Haarbüschel gebunden hatte, während Hans einen artig gekämmten
Scheitel, eine so genannte Lausallee, trug. Neben dem Pratergelände war der
Wiener Stadtpark ein bevorzugtes Ziel für Spaziergänge. Dort durften die Kinder
mit anderen Kindern spielen. Sie schlenderten meist bis zu Hübners Kursalon. Vor
diesem waren Parkstühle aufgestellt. Den Parkstühlen gegenüber befand sich ein
halboffener Pavillon, in welchem, bei schönem Wetter ein Orchester aufspielte.
Während der dargebrachten Operetten- und Schlagermelodien schwelgte Dorothea in
Erinnerung an frühere Zeiten. Sowohl beim Hin-, als auch beim Rückweg mussten
sie an unzähligen Schleichhändlern vorbeigehen. Bei diesen, es waren
ausschliesslich Männer, handelte es sich um Kriegsversehrte. Aus erlauschten
Gesprächen erhaschte Hans, dass man von diesen Männern, für viel Geld, am besten
für US-Dollar, amerikanische Zigaretten wie „Lucky Strike", „Chesterfield",
„Marlboro" oder „Camel", aber auch schon die in der Damenwelt so sehr begehrten
Nylonstrümpfe kaufen konnte. Die hier stehenden Männer bestritten ihren
Lebensunterhalt mit der Ausübung dieser streng verbotenen Tätigkeit, die aber
für sie die einzige Möglichkeit war, an Bargeld zu kommen. Fast alle
Umherstehenden waren ehemalige Kriegsteilnehmer. So fehlte dem einen ein Bein
bis hin zum Oberschenkel. Den noch vorhandenen Stumpf platzierte er gekonnt auf
eine seiner beiden Stützkrücken, um ihn so sichtbarer zu machen, dadurch mehr
Mitleid zu erregen und mehr verkaufen zu können oder auch nur, um Almosen zu
erbetteln. Ein Bedauernswerter hatte sichtbar einen Kopfschuss abbekommen und
dennoch überlebt. Solch einem Mann in sein durch mehrere Notoperationen
fürchterlich entstelltes Gesicht zu sehen erforderte Überwindung. Viele
Vorbeigehende wandten sich umgehend ab. Um die Nylonstrümpfe gab es ein
regelrechtes „G‘riss" (Gerangel), wobei sie sich, des allzu hohen Preises wegen,
die wenigsten kaufen konnten, viele aber von ihnen sprachen.
Das Verhältnis zwischen Dorothea,
Onkel Paul und den Kindern wurde immer enger. Man unternahm vieles gemeinsam,
wobei beider Liebe zur klassischen Musik ein ganz großer Anknüpfungspunkt und
oftmaliger Gesprächsstoff war. Eines Tages war es soweit, und Onkel Paul zog zu
ihnen in das ihnen zuletzt von Frau Citron zugewiesene, etwa dreißig
Quadratmeter große Zimmer. Manchmal ging Dorothea ins Kino. Meistens waren es
alte Revue- oder Kulturfilme, die an Nachmittagen zu sehr günstigen
Kartenpreisen angepriesen wurden. Dorothea nahm stets eines ihrer Kinder als
Begleitung mit. Einmal besuchte sie mit Hans eine Nachmittagsvorstellung im
Tabor-Kino. Es wurde die Oper „Boris Godunow" als russischer Film gezeigt. Im
Kinosaal waren höchstens zwanzig Besucher auszumachen, die sich in dem großen
Saal verloren. In der Reihe genau vor Dorothea und Hans saß eine Dame ganz
alleine. Da das Licht noch nicht ausgelöscht war, erkannte Dorothea, dass es die
weltbekannte Opernsängerin Lijuba Welitsch war und sprach sie umgehend in deren
bulgarischer Muttersprache an. Nach der Vorführung des Filmes, über den die
Damen begeistert waren, plauderten sie noch eine Weile, ehe man sich gegenseitig
gute Wünsche aussprach und danach auseinander ging.
Hans wurde eingeschult
Hans kam ins schulpflichtige Alter. Er sollte in die Volksschule in der
Kleinen Pfarrgasse gehen. Dorothea hatte bis dahin unzählige Scherereien mit
diversen Ämtern zu bewältigen um zu beweisen, dass sowohl Hans als auch Erika
ihre Kinder und österreichische Staatsbürger waren. Es sollte noch Jahre dauern,
bis die Kinder zu Österreichern erklärt wurden, weshalb sie eine Zeitlang in
Dokumenten und Zeugnissen als staatenlos eingetragen waren. Dorothea bat Onkel
Paul, dem Knaben seinen zukünftigen Schulweg zu erklären und ihn am ersten
Schultag dahin zu begleiten. Die Schule befand sich in unmittelbarer Nähe des
Augartens. Dann war es soweit und der erste Schultag brach an. Erika ließ es
sich nicht nehmen, ihren Bruder ebenfalls zur Schule zu begleiten. Also
marschierten sie zu dritt los. In der Schule angekommen drängte sich Erika mit
Hans in dessen Klassenzimmer und verursachte damit, dass die erste
Unterrichtsstunde gleich mit Verspätung begann. Nur unter Tränen war die Kleine
zum Verlassen des Klassenraumes zu bewegen. Sowohl die Klassenkameraden wie auch
die Lehrerin lachten darüber, während sich Hans für seine sich um ihn
ängstigende Schwester fürchterlich schämte. Fortan ging er seinen Schulweg nur
noch alleine. Der schnell zur Routine gewordene Schulweg führte von der
Tempelgasse am Nestroykino vorbei über die Praterstrasse hinaus und in die
Komödiengasse hinein. An deren Ecke stand das einst weithin berühmte, seit
geraumer Zeit zerbombte Carltheater. Der Schuldirektor, Wenzel mit Namen, trug
immer einen - vielleicht seinen einzigen grauen Anzug mit Gilet, in dessen
Tasche eine Taschenuhr steckte. Deren Sicherheitskette war so platziert, dass
sie jeder sehen konnte. Das Antlitz des Direktors zierte ein grauer Spitzbart,
wie ihn viele Männer seiner Generation gerne trugen. Ab und zu zeigte er sich im
Klassenzimmer, um ein paar Worte mit der Lehrperson, nie aber mit den Schülern
zu wechseln. In den einzelnen Klassenzimmern waren jeweils über dreissig Schüler
untergebracht. Die meisten waren katholisch, der Rest evangelisch. Einzig beim
Namen Gamliel stand im Klassenbuchverzeichnis unter Religionszugehörigkeit das
Wort „mosaisch" eingetragen, mit dem aber keiner der Schüler etwas anzufangen
wusste. Jeder Beginn des Schultages fing mit dem monotonen Herunterleiern des
Vaterunser an. Dabei hatten die Schüler ihre Blicke auf das an der Frontwand des
Zimmers angebrachte Holzkreuz zu richten, welches an das Bild des damaligen
Bundespräsidenten Dr. Karl Renner anschloss. Sein Bild zierte ein ähnlicher
Spitzbart wie jener des Schuldirektors. Da Hans anfänglich nichts Gegenteiliges
aufgetragen wurde, betete er beim täglichen christlichen Morgengebet mit, und
wie es scheint hat er keinerlei Schaden davon getragen. Beheizt wurden die
Klassenräume durch schwarze, gusseiserne Öfen, die allmorgendlich, lange vor
Unterrichtbeginn, angeheizt wurden. Zwischendurch kam der Schulwart in die
Klassen, um nach den Öfen zu sehen. Während der Heizperiode durften Schüler,
welche von daheim Äpfel für das Pausenmahl mitbekommen hatten, diese, so sie
mochten, auf der heiss gewordenen Ofenplatte braten lassen. Dann begann sich
langsam ein süß- schwerer, immer intensiverer Duft im Raume breit zu machen.
Hans bekam niemals einen Apfel mit, dafür reichte das Geld nicht. Seinen
Mitschülern war er den Apfel nicht neidig, da er Neid nicht kannte. Aus einer
Parallelklasse tat sich nach Unterrichtschluss oft ein Schüler dadurch hervor,
dass er andere, schwächer aussehende, anpöbelte und Raufhändel anzettelte. Dabei
war er darauf bedacht, hinter sich einen Grossteil seiner Klassenkameraden zu
wissen. Jene wiederum feuerten sein Tun lauthals an. Sein beliebtestes
Angriffsziel war Hans, der damals ein sehr dünnes Bürschchen war. Die meisten
Mitschüler riefen einander mit ihrem Familiennamen. Hans wurde statt Gamliel
anfangs „Gami", bald aber, seiner Dünnheit wegen „Gandhi" gerufen. Vielen
Anpöbelungen konnte sich Hans durch rasches Davonlaufen entziehen, war er doch
bei Wettkämpfen im Turnunterricht einer der schnellsten Knaben. Begegneten
einander Hans und der Stänkerer alleine, ließ jener Hans ungeschoren. Fast hatte
es den Anschein, als kenne er ihn nicht. Um so aggressiver tat er sich im
Kollegenkreis hervor. Vis à vis der Schule befand sich ein Platz, an dessen
linker Seite die Leopoldskirche stand. An der linken vorderen Kirchenseite war
eine Nische, in welcher eine Heiligenfigur stand. Gelang Hans die Flucht nicht
so rasch wie beabsichtigt und wurde er von seinen Verfolgern eingeholt, suchte
er sein Heil im Erreichen dieser Nische. Er stellte sich so hinein, dass sein
Rücken gedeckt war und konnte sich so erfolgreich vor den mit Holzlinealen
abgegebenen Hieben schützen und auch selbst mit seinem Lineal zurückschlagen.
Jahre später vermutete Hans, dass ihn der Heilige jedes Mal vor der Übermacht
der Angreifer beschützt habe. Ob dieser aber wusste, welchem Glauben Hans
angehörte? Vielleicht stand Hans gerade deshalb unter dessen besonderem Schutz?
Jedenfalls konnten ihm die Angreifer nie etwas anhaben. Nach halbstündigem Hin-
und Her zog es einer nach dem anderen vor, den Heimweg anzutreten. Zuletzt
konnte auch Hans nach Hause eilen. Einmal ergab es sich, dass Hans die rettende
Nische nicht rechtzeitig erreichen konnte. Im Nu war er von der ihm
wohlbekannten Meute umzingelt. Mit im Kreis befand sich ihr laut maulender
Anführer, der Hans mit allen möglichen Mitteln zu provozieren versuchte. Hans
wiederum, innerlich angstvoll, äußerlich aber sehr gelassen, stand nur da und
wartete darauf, wie es wohl weiter gehe. Er hoffte einen Fluchtweg zu orten,
denn sein Gegenüber sah nicht nur so aus, sondern war auch wesentlich kräftiger
und korpulenter als er. Die Spannung der jeden Augenblick losgehenden Balgerei
schien nicht mehr zu steigern, als Hans urplötzlich, angesichts der
umherstehenden Übermacht, mit der Kraft und dem Mut der Verzweiflung, seinem
Kontrahenten einen geschwungenen, weit hergeholten, klassisch ausgeführten Haken
in die Magengegend schlug. Es war ein „Lucky Punch", der tatsächlich den Punkt
getroffen zu haben schien. Im selben Augenblick begann sich der Getroffene, mit
schmerzverzehrtem Gesicht, Wehlaute ausstossend, zu krümmen und auf den Boden zu
setzen. Mit einem Male öffnete sich der umzingelnde Kreis. Weit aufgerissene
Augen und noch weit offenere Mäuler waren auf ihn gerichtet, der jetzt den Kreis
langsam verließ. Einen solchen Ausgang der von den anderen Knaben so sehnlicht
erwarteten Schlacht, hatte keiner, auch Hans nicht erwartet. Tags darauf wurde
Hans zu allererst von seiner Klassenlehrerin zur Rede gestellt, die ihn von
vornherein als Schuldigen ansah. Vergeblich stellte er den Sachverhalt
wahrheitsgemäß dar. Ausgerechnet seine Lehrerin glaubte ihm nicht. Wie heißt es
doch: „Schuld ist immer der Jud". Die Lehrerin bestrafte Hans zu einer langen
Schreibarbeit, einer Mitteilung an seine Mutter und zu einem nachmittäglichen
Nachsitzen. Zu alldem wurde seine Betragensnote, die bisher immer sehr gut
gewesen war, verschlechtert. Diese eigenartige Rechtsprechung begriff Hans nicht
und war darüber sehr enttäuscht. Alleine seine Mutter schenkte seiner
Darstellung des Vorfalles Glauben, konnte aber nichts gegen die Lehrperson
ausrichten. Ein Gutes immerhin hatte die Episode bewirkt: Seither wurde Hans nie
mehr angepöbelt. Er meinte sogar zu erkennen, dass manch einer seiner ehemaligen
Gegner mit verstohlener Achtung einen Bogen um ihn machte. Hans liebte es, nach
Unterrichtschluss nicht direkt, sondern auf weitläufigen Umwegen durch die
engen, alten Gassen der Leopoldstadt heimwärts zu schlendern. Dies tat er dann,
wenn er daheim nicht von seiner Mutter erwartet wurde. So lernte er einen
Grossteil des Bezirkes kennen. Alle Läden und Geschäfte betrachtete er genau,
sah sich an den ausgestellten Waren satt, träumte oder wünschte sich, dies oder
jenes besitzen zu können, besonders dann, wenn er an einem Spielwarenladen
anhielt. Sich in Wien zu verirren war unmöglich, denn an jeder Strassen- und
Gassenecke war deren jeweiliger Name angebracht und an jedem Haus oberhalb des
Haustores war die Hausnummer und unter dieser abermals der Name der Strasse oder
Gasse zu lesen. Dann waren an fast allen Häusern, wo Kellerfenster oder
Kelleröffnungen vorhanden waren, große Buchstaben wie LSK (Luftschutzkeller)
oder LSR (Luftschutzraum) sowie noch größere Richtungspfeile in breiten weißen
Farbstrichen angebracht worden, die der Zivilbevölkerung im 2. Weltkrieg jene
Räume hatten weisen sollen, die ihnen bei Fliegeralarm Fluchtmöglichkeit und
vermeintlichen Schutz boten. Schon der unzähligen Durchhäuser wegen, die einen
Gassenzug mit einem parallel laufenden verbanden, lohnte sich das Durchstreifen
seines Bezirkes für Hans. Bei solchen Streifzügen durch seinen Wohnbezirk konnte
er hin und wieder die „Vier im Jeep" - das waren je ein Soldat der vier
Besatzungsmächte - bewundern, wenn vier in sauberster Montur gerade seine
Strasse entlang fuhren. Jedes Mal lenkte ein anderer Soldat das Gefährt. Am
imponierendsten stach Hans jener Soldat ins Auge dessen Uniform mit dicken
weißen Kordeln bestückt war. Auch das Kennenlernen der unmittelbaren Umgebung
des Heimes war für ihn von Vorteil, wenn er mit anderen Knaben „Räuber und
Gendarm" spielte. In diesen Durchhäusern gab es unzählige Möglichkeiten, sich zu
verstecken. In vielen der Innenhöfe roch es muffig-säuerlich. Warf Hans beim
Durchstreifen solcher Höfe den Blick in diese oder jene Ecke, hatte manch ein
Nachtschwärmer dort seine Notdurft hinterlassen. In manchen Innenhöfen hatten
geschäftstüchtige Bewohner Läden eingerichtet, welche sie als Schneiderei,
Schusterei oder Kohlenladen betrieben. Jeder Laden bestand aus nur einem dunklen
Raum, fast alle wurden von Frauen oder invaliden Männern betrieben.
Für Hans und Erika gab es
zwischendurch auch Zeiten, in denen sie vom tristen Heimleben befreit wurden.
Die Kultusgemeinde und der jüdische Verein „Haschomer Hazair" organisierten für
jüdische Kinder Ferienaufenthalte. Der Verein hatte in der Storchengasse im 15.
Bezirk eine Wohnung angemietet, die als eine Art Klublokal genutzt wurde. Hans
war einige Male dort, um mit Gleichaltrigen an verschiedenen Spielen
teilzunehmen. Einmal verbrachten sie einen Wochenaufenthalt in Edlach an der Rax
und mehrere Male in den großen Schulferien Wochen in einem Heim in Haag 54 bei
Neulengbach. Dann genossen auch Dorothea und Onkel Paul daheim die Wochen
unbeschwerten Ausspannens. Dem Kinderheim, das sich in einem riesigen Garten
befand schloss sich eine große Rasenfläche an, die wiederum durch einige
Maulbeerbäume mit herrlich schmeckenden Früchten und eine Sportanlage
unterbrochen war. Jeder Ferientag war abwechslungsreich. Sportliche oder die
Geschicklichkeit messende Wettkämpfe wurden veranstaltet, oder in den
angrenzenden Wald Ausflüge unternommen und dabei lauthals Lieder gesungen. Den
Kindern wurde jedenfalls nie langweilig und viele Freundschaften wurden
geschlossen. Derlei Veranstaltungen waren unterbrochen von den Mahlzeiten. Zum
Gabelfrühstück und zur Jause gab es riesige Schwarzbrotscheiben, die nur mit
Marmelade bestrichen waren, aber köstlich schmeckten. Unter den Knaben gab es
einen, er hieß Julius, der die wunderbare Begabung des Erzählens besaß. Er
vermochte in seinem Vortrag eine derartige Spannung aufzubauen, dass sich alle
Knaben darauf freuten. Deshalb gab es zur Schlafenszeit nie Probleme, denn
sobald das Licht gelöscht worden war begann Julius zu erzählen, und zwar die
Nibelungensage. Jeder in seinem Bett liegende Knabe sog die in Fortsetzungen
erzählte Geschichte in sich auf und übernahm sie in seinen darauf folgenden
Traum. Über dieses Kinderheim des Haschomer Hazair hinaus boten einige jüdische
Gemeinden in der Schweiz, darunter auch in Basel Familien an, die gewillt waren,
jüdische Kinder aus dem Ausland für einige Zeit bei sich aufzunehmen und
aufzupäppeln.
Die schöne Zeit in Basel
Hans und Erika kamen in den
Genuss, in Basel bei zwei Familien in der Eichenstrasse 27 aufgenommen zu
werden. Erikas Familie hiess Orzel. Sie setzte sich aus den Eltern und deren
beiden Töchtern in Erikas Alter zusammen. Es waren liebe Leute, was aber das
schreckliche Heimweh, von dem Erika seit ihrer Ankunft in Basel befallen und
nicht mehr losgelassen wurde, nicht mindern mochte. Daher trat Erika nach nur
kurzem Aufenthalt bei Orzels wieder die Rückreise nach Wien an.
Die Patenfamilie von Hans hieß
Gradwohl und bestand aus Vater, Mutter, der Tochter Marlyse, die im Alter von
Hans war, dem etwas älteren Sohn Pierre, der bereits das Gymnasium besuchte und
dem ältesten Sohn Roland, der vor der Matura stand. Roland wurde später
Journalist und Rabbiner und wanderte wie seine Schwester Marlyse nach Israel
aus. Pierre machte seinen Doktor, trat aus dem Judentum aus und arbeitete bei
einem Schweizer Chemiekonzern in der Forschungsabteilung.
Die Gradwohls waren religiöse
Juden. Sie versuchten, Hans, für den Religiosität Neuland war, in ihr religiöses
Leben und dessen täglichen Ablauf einzubeziehen. Das fing mit dem Küssen der am
Torpfosten angebrachten Mesusa an und reichte bis zu Leseversuchen in
hebräischen Gebetsbüchern. Jeder Schabbat und die jüdischen Feste wurden in der
Synagoge gefeiert und daheim, mit entsprechendem Zeremoniell, fortgesetzt. Nach
Synagogenbesuchen erhielten die Kinder bunte Zuckerstangen, so genannte „Mässbroggen",
eine Basler Spezialität, bevor man nach Hause ging. Im Gegensatz zu Erika gefiel
es Hans bei seiner Patenfamilie ausgezeichnet, zudem er sich mit Marlyse sehr
gut verstand. Ausserdem hatte er im Nachbarhaus einen nichtjüdischen,
gleichaltrigen Spielgefährten, mit dem er fast täglich auf der damals kaum
befahrenen Strasse mit herrlich bunten Glasmurmeln spielte und
Dreirad fuhr. Im Gegensatz zu
Wien, wo alle Strassen und Gassen gepflastert waren, waren in Basel, soviel Hans
damals erkennen konnte, alle Fahrbahnen geteert.
Gradwohls schienen an Hans
ebenfalls Gefallen gefunden zu haben. Sein ursprünglich für ein, zwei Monate
gedachte Aufenthalt wurde nach Rücksprache mit Dorothea auf ein ganzes Jahr
verlängert. Ehe seine Pflegeeltern dies arrangiert hatten, mussten sie sich von
einem Schock erholen. Es war kurz nachdem Hans bei ihnen in Basel angekommen
war. Frau Gradwohl wollte ihn in der Badewanne gründlich waschen. Hans legte
seine Kleider ab, stieg
in die Wanne. Sie wollte mit dem
Waschen beginnen, wich aber, einen kurzen Schrei ausstoßend, einen Schritt von
der Wanne zurück. Während sie ihren Blick erschrocken am Körper von Hans hinab
gleiten ließ, sah er sie mit großen Augen verständnislos an. Endlich schien sie
sich gefangen zu haben. Sie fragte Hans in schroff gehaltenem Ton, ob er denn
Christ und nicht Jude sei? Hans sah Frau Gradwohl verdutzt an, denn er verstand
nicht, was sie eigentlich von ihm wollte. Sie wiederum rief nach ihrem Gatten.
Nachdem beide ein paar Worte gewechselten hatten, trat Herr Gradwohl ebenfalls
an die Wanne heran und sah an Hans hinab. Dann fragte er ihn geradewegs, warum
er nicht beschnitten sei? Auch jetzt verstand Hans überhaupt nichts, beteuerte
aber, sehr wohl Jude zu sein. Gradwohls sahen ein, mit der Befragung des Knaben
keine befriedigende Antwort zu bekommen und sandten umgehend ein Telegramm an
seine Mutter nach Wien. In diesem fragten sie, ob Hans Jude und warum dann nicht
beschnitten sei? Sowie Dorothea das Schreiben überflogen hatte, antwortete sie
postwendend. Ihr Schreiben bestand aus wenigen Fragesätzen, deren Hauptsatz die
Frage war, bei welcher Gestapostelle, auf ihrer Flucht gerade vor jenen, sie den
Antrag zur
Beschneidung ihres Sohnes, nach
jüdischer Tradition ausgeführt, hätte stellen sollen? Diese Antwort befriedigte
Gradwohls. Nach nochmaligem Briefwechsel einigten sie sich darauf, Hans umgehend
im jüdischen Spital zu Basel der versäumten Prozedur zu unterziehen, die der
erwähnten Umständen wegen bislang nicht hatte vollzogen werden können.
Nachdem Hans in Wien den
Schulalltag bereits kennen gelernt hatte musste er auch in Basel eine Schule
besuchen. Die Volksschule wurde in der Schweiz Primarschule genannt, und in
solch eine wurde er eingewiesen. Mit dem Schweizerdeutsch, das seine
Klassenkameraden sprachen hatte Hans keinerlei Mühe, er verstand es sofort.
Manchmal tat er beim Spielen so, als verstünde er es nicht, worüber seine
Gefährten, aber auch er, sich dann köstlich amüsierten. Das hier in der
Grundschule praktizierte Schreiben auf Schiefertafel mit Griffel bereitete ihm
keine Schwierigkeit. Es wunderte ihn bloß ein wenig, denn in Wien wurde mit
Bleistift und Tintenfeder in Hefte geschrieben. Gerade dies sollte Hans zum
Nachteil geraten, als er später, wieder in Wien zurück, die nächste Klasse
besuchen wollte. Hans musste die Klasse, die er in der Schweiz positiv beendet
hatte, in Wien wiederholen. Die Begründung des Stadtschulrates dafür war, weil
man in der Schweiz mit Griffel auf Schiefertafel und nicht mit Bleistift und
Feder in Hefte schrieb.
An Schabbatabenden bestand das
Abendessen bei Gradwohls häufig aus einem sicherlich ausgezeichnet zubereiteten,
kalten Karpfen in Aspik, den Hans des Aspik wegen überhaupt nicht mochte. Er
musste sich ungemein überwinden, die ihm aufgetragene Portion, unter den Blicken
aller bei Tisch Anwesenden, hinunter zu würgen. Zu jüdischen Feiertagen wurde
Frau Gradwohl von zwei nicht jüdischen Fräulein unterstützt. Diese erledigten
alle Arbeiten, welche frommen Juden dann verboten waren. Selbstverständlich war
alles Geschirr im
Hause Gradwohl doppelt vorhanden.
Es wurde dabei peinlichst genau darauf geachtet, dass es in für fleischige und
für milchige Ware zu verwendendes Geschirr getrennt aufbewahrt wurde.
Die Taxis in Basel übten eine
besondere Faszination auf Hans aus. Es waren ausschließlich amerikanische, in
dunklen Farben gehaltene Automarken. Zudem trug jeder Taxichauffeur eine Uniform
mit Schirmkappe in derselben Farbe wie das von ihm gelenkte Fahrzeug. Das sah
prachtvoll und vornehm aus. Frau Gradwohl kümmerte sich ausschließlich um den
Haushalt und die Kinder. Herr Gradwohl war wochentags für eine Textilfirma mit
seinem beigefarbenen Ford im Außendienst unterwegs. Hans, der sehr viel Freizeit
hatte begleitete ihn häufig auf seinen Tagestouren, die das ganze Baselland mit
einbezogen. Er durfte immer neben Herrn Gradwohl am Beifahrersitz Platz nehmen.
Einmal, sie waren wie oft zuvor in ländlicher Gegend unterwegs, bemerkte Hans,
wie während der Fahrt Herrn Gradwohls Kopf immer wieder langsam auf dessen Brust
zu sinken begann, um dann wieder ruckartig hochzuschießen. Herr Gradwohl war
wohl sehr müde oder krank. Abermals neigte sich sein Kopf gegen die Brust, wobei
seine Augen, ehe sie sich für kurze Zeit schlossen, einen verklärten Ausdruck
annahmen. Er war nicht mehr fähig, sich zu konzentrieren, geschweige denn, sich
länger wach zu halten, und dieser kurze Augenblick genügte, dass das schwere
Automobil plötzlich die Landstrasse verließ. Nach etwa zwanzig Metern kam es in
einem frisch gepflügten Acker zum Stillstand, durch den tiefen, schweren Boden
war die Bremswirkung zum Glück ziemlich rasch eingetreten. Im Nu war Herr
Gradwohl hellwach, erkannte die Situation und auch, dass der Wagen dermaßen
festgefahren war, dass ohne fremde Hilfe an ein Herauskommen nicht zu denken
war. Er eruierte, welchem Bauern das Ackerland gehörte, begab sich zu diesem,
entschuldigte sich und bat um Hilfe. Der Bauer setzte sich auf seinen Traktor,
fuhr zum Acker hin, befestigte an beiden Fahrzeugen ein festes Seil und zog den
Wagen auf die Strasse hinaus. Für den angerichteten Schaden und seine
Hilfeleistung verlangte er ein Fünffrankenstück, das ihm Herr Gradwohl
aushändigte und die Tagestour beendete, indem er sofort mit Hans nach Hause
fuhr.
Die wunderschöne und erholsame
Zeit bei der lieben Gradwohl-Familie verging viel zu schnell. Nach einem Jahr
hieß es für Hans Abschied nehmen und zurück nach Wien. Sein Zugabteil war mit
unzähligen Schokoladetafeln und anderen Süßigkeiten, die ihm seine
Klassenkameraden zum Abschied geschenkt hatten, ausgelegt.
Zurück ins Obdachlosenheim
Mit großer Freude wurde Hans von
Dorothea am Westbahnhof in Empfang genommen, und im Heim angekommen fühlte sich
Hans augenblicklich wieder zu Hause. Er hatte bemerkt, dass einige Bewohner, die
er gekannt hatte, nicht mehr im Heim wohnten und dafür andere deren Plätze
eingenommen hatten. Auch die Schule besuchte er nun wieder in Wien, hatte aber
lauter neue Klassenkameraden, da er die Klasse, der Schiefertafel wegen, ja
wiederholen musste. Dorothea hatte inzwischen eine ständige Anstellung in einem
Bezirk über der Donau und Onkel Paul eine im südlichen Wien gefunden. Dadurch
begann es ihnen etwas besser zu gehen. Trotz der vielen auf Wien
niedergegangenen Bomben gab es in der Praterstrasse noch einige intakte Kaffee-
und Gasthäuser sowie zwei Kinos. Das größere hieß Diana-, das kleinere
Nestroykino. Eines der besseren Gasthäuser nannte sich „Tiger". Es stand
unmittelbar neben dem völlig zerstörten Carltheater. Da sie es sich nun hin und
wieder leisten konnten, wurde Hans an manchen Sonn- oder Feiertagen zum „Tiger"
geschickt, um von dort für die Familie Essen ins Heim zu bringen. Das so geholte
Essen war um einiges billiger als der direkte Besuch des Gasthauses zu viert. In
Aluminium-Menagen, die aus bis zu fünf aufeinander stapelbaren Töpfen bestanden,
konnte man Mahlzeiten problemlos transportieren. Alle Töpfe hatten zwei Henkel.
Durch diese schob man eine Tragehalterung, wodurch die so aufeinander
gestapelten Töpfe mit einer Hand tragbar waren. War Hans im Gasthaus angelangt,
fragte er den hinter dem Tresen stehenden Wirt, ob die Speisen, die zu holen ihm
seine Mutter aufgetragen hatte, zu haben seien? Nickte er, nannte Hans die
Anzahl der Portionen, zahlte den geforderten Betrag, und so wie er die in die
Menagen gefüllten Speisen überreicht bekam, machte er sich umgehend auf den
Heimweg. Da der „Tiger" vom Heim nur fünf Minuten entfernt war, blieben die
Mahlzeiten warm, sodass sie sofort mit dem Essen beginnen konnten.
Allgemein ging man in die
Praterstrasse einkaufen. Mehrere Geschäfte, welche die Kriegsereignisse
unbeschadet überstanden hatten waren von ihren Eigentümern wieder aktiviert
worden. Zum Einkaufen wurde immer nur Hans geschickt, es sei denn, die Mutter
ging selbst einkaufen. Das Warenangebot beschränkte sich anfangs auf die
Grundnahrungsmittel, die aber nur mit Lebensmittelmarken bezogen werden konnten.
Deren Zuteilungsmodus richtete sich nach der Bedürftigkeit der Antragsteller.
Reis war neben Kartoffeln eines ihrer Hauptnahrungsmittel - Reis öfters als
Kartoffeln, da die Qualität der günstig angebotenen Kartoffeln sehr schlecht war
und sich Dorothea jedes Mal beim Schälen ärgerte, dass sie so viel Ungenießbares
wegschneiden musste. Aber auch die Reisqualität, die sie sich zu leisten
vermochten, war absolut als nicht hochwertig zu bezeichnen. Deshalb ersuchte
Dorothea, wenn sie ein Reisgericht kochen wollte, ihren Sohn darum, den Reis auf
ein flaches Blech oder ein Stück weißes Papier zu schütten und den Reis von
Fremdkörpern wie kleinen Steinchen oder Holzstücken zu säubern. Eine ähnliche
Aufgabe bescherte seine Mutter ihm, wenn sie frische Erbsenschoten gekauft
hatte. Dann wurde er gebeten, die Erbsen aus den Schoten herauszulösen. Da
fanden sich in vielen Schoten kleine weiße Raupen, die bereits die Erbsen
angefressen hatten. Hans musste sie aussortieren und wegwerfen. Auch über diesen
Verlust konnte sich Dorothea ärgern. Wollte jemand andere, nicht im Angebot
befindliche Waren kaufen, war dies nur mit Beziehungen oder über den verbotenen
Schleichhandel möglich, aber nur, wenn man mit US-Dollar bezahlen konnte. Für
jedes Lebensmittel, das man kaufen wollte, wurden von der Verkäuferin ein oder
mehrere Abschnitte von der Lebensmittelkarte abgeschnitten. Milch war als
Magermilch oder als Vollmilch beziehbar, wurde abgemessen und aus großen
Milchkannen in Glasflaschen oder mitgebrachte Töpfe eingefüllt. Butter, Germ und
Käse wurde von größeren Blöcken abgeschnitten, auf einer Waage mit
Metallgewichten abgewogen und verkauft.
Für Hans lief das Einkaufen
folgendermaßen ab: Am frühen Morgen wurde er zum Milchgeschäft geschickt. Bei
seinem Eintreffen war es oft noch geschlossen, und er schloss sich den bereits
vor dem Laden Wartenden an. Äußerst ärgerlich war es für Hans, wenn er sich
vergebens angestellt hatte, wenn nämlich dem Geschäft zu wenig Waren zugeteilt
worden waren oder zu viele Kaufwillige anstanden. Dann wurde geflucht,
geschimpft und jeder davon Betroffene nahm sich vor, beim nächsten Einkauf noch
früher zu erscheinen. Nicht selten hatte Hans versucht, die Anzahl der vor ihm
in der Schlange Stehenden auszumachen. Diese Zahl verglich er mit den in der
Verkaufsstellage sichtbaren Brotlaiben. War die Anzahl der Brote geringer,
betete Hans insgeheim darum, dass nicht alle vor ihm Brot kaufen wollten. Bis er
dann an die Reihe kam, hatte er ein Wechselbad an Gefühlen zu durchleiden.
Der wenigen dort vorhandenen Läden
wegen ging man kaum in die Ferdinandgasse einkaufen, aber Ecke Ferdinandgasse -
Tempelgasse gab es eine Bäckerei. Als Heimbewohner mit Familie tat man gut
daran, diese Bäckerei hin und wieder aufzusuchen. Viele der im Heim hausenden
Frauen mit Familie waren es aus Vorkriegszeiten gewohnt, selbst zu backen. Im
Heim gab es dafür keine Möglichkeit. Sowie das Angebot an Zutaten wie
Vanillinzucker und Backpulver größer wurde, steigerte sich, besonders bei den
aus Osteuropa stammenden Heimbewohnerinnen, der Drang zum selbst Backen enorm.
Deshalb war es von großem Vorteil, vom Bäcker oder seiner Frau als Kunde
identifiziert zu werden. Eine Heimkundin fragte den Bäcker eines Tages, ob er
ihr so gefällig wäre, einen von ihr gefertigten Teig, den man auf einem Blech zu
ihm bringen würde, in seinem Ofen mitzubacken? Obschon er für diese Gefälligkeit
einen Obolus verlangte, willigte er mürrisch ein. Brachte man das Blech zu ihm,
nannte er eine Zeit, zu welcher man das Backwerk abholen konnte. Dass hernach
eine Seite ziemlich angebrannt war, musste man, wollte man wieder kommen,
geflissentlich übersehen. Das Backwerk war immer angebrannt. Dorothea, die
mittlerweile ebenfalls dazu übergegangen war, Kuchen selbst zu fertigen und den
rohen Teig auf einem Blech von Hans zum Bäcker bringen ließ, ärgerte sich
regelmäßig, aber mehr noch darüber, nicht reklamieren zu dürfen. Es hatte
nämlich den Anschein, als ließe der Bäcker, aus Ärger darüber, dass man Kuchen
nicht bei ihm bestellte, die mitgebrachte Ware absichtlich anbrennen.
Schräg gegenüber der Bäckerei
befand sich ein Kolonialwarenladen. Am Eingang waren ziemlich große emaillierte
Reklametafeln angebracht, auf denen Namen der Waren aufgelistet standen, die man
einst hier bekommen, heute aber der misslichen Lage wegen gar nicht oder
vorläufig nicht mehr kaufen konnte. Trat man in den Laden, dessen Inneres auch
bei Tageslicht dunkel und düster war, umhüllte einen sofort ein süßlicher,
gewürzschwerer Geruch. Reis, Grieß und verschiedene getrocknete Hülsenfrüchte
wurden aus Jutesäcken und anderen Behältnissen dargeboten. Diese Waren wurden
von der Ladenbetreiberin mit einer Tasse herausgeschöpft und abgewogen. Dann
wurde die Ware in selbst gerollte, aus Zeitungspapier zusammengeschnittene
Papiertüten gefüllt. Je nachdem, in welchem Teil des Ladens man sich gerade
befand, roch es auch nach Petroleum, Schmierseife und anderem.
Julius Meinl, die bekannteste,
alteingesessene Delikatessenfirma, war ebenfalls in der Praterstrasse präsent.
Bis Ende der Vierzigerjahre war das Einkaufen in diesem Laden aber Vermögenden
vorbehalten. Selten kam es vor, dass auch Dorothea dort einkaufen ging. Bei
Meinl war alles frischer, exklusiver, schöner aber auch wesentlich teurer als in
anderen Läden. So klein dieser Laden auch war, schien er vom Warenangebot und
der Auswahl, wie sonderbarerweise auch von Kaufwilligen überfüllt. Stets war
bestens geschultes, freundliches Personal zugegen, das in firmeneigene,
hellbraune Uniformmäntel gekleidet jeden zuvorkommend bediente. Bei Meinl als
Verkäufer oder Lehrling engagiert zu werden waren viele bestrebt. Man hatte nur
mit erstklassigem Schulabschluss Chancen, und nach bestandener betriebsinterner
Prüfung. Hatte jemand die Anstellung bekommen, konnte er oder sie sich fast
„von" nennen, denn das Personal von Meinl stand im beruflichen Ansehen weit über
anderem Verkaufspersonal, was sich auch im Verdienst bemerkbar machte.
Teil 3 der Lebensgeschichte Hans Gamliels folgt in der nächsten Ausgabe des
DAVID.