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Wien 2, Tempelgasse Nr. 3c
Erinnerungen 1943 – 1953, Teil 2

Hans GAMLIEL

Die Nachbarn

Vis-a-vis des Heimes in der Tempelgasse, im Haus Nummer 4, wohnte Frau Treidel. Ihr Sohn Walter war zwei Jahre älter als Hans. Frau Treidel war die allererste Frau, die sich damit beschäftigte, im Tempelhof umherliegende, von der Tempelruine stammenden Ziegelsteine mittels kleinem Beil zu säubern und den anhaftenden Mörtel abzuklopfen. Die so gesäuberten Ziegelsteine schlichtete sie zuerst neben-, dann aufeinander, sodass mit der Zeit ein ansehnlicher Ziegelquader entstand. Bald gesellten sich weitere Frauen zu ihr, um dieselbe Arbeit zu verrichten und so ein paar Groschen zu verdienen. Monate später kam Herr Treidel dazu. Er war erst jetzt aus russischer Gefangenschaft entlassen worden und versuchte, mitzuverdienen. Tatsächlich gab es kaum andere Verdienstmöglichkeiten, doch trug diese Arbeit wesentlich zum ziemlich zügigen Wiederaufbau der arg zerstörten Wienerstadt bei.

Nach wie vor gab es im Heim Bewegung. Einige zog es ins „Gelobte Land", andere in die USA, nach Kanada oder gar nach Australien. Die meisten Abreisenden suchten die Nähe von Verwandten, so überhaupt noch welche am Leben waren. Dorothea aber beabsichtigte, keinesfalls, was auch geschehen mochte, auszuwandern, sondern in Wien zu bleiben. Eines Tages wurde wieder einmal ein eben erst frei gewordenes Zimmer von einer neu angekommenen Familie bezogen: Ein Vater, dessen hochschwangere Gattin und zwei Söhne. Die Familie Schärf wollte ihren Heimaufenthalt von vornherein kurz halten, da sie nach Israel auswandern wollte, aber noch nicht alle notwendigen Papiere beisammen hatte. Der ältere der Söhne hiess Hans, der jüngere wurde Robby gerufen und dieser war, für die kurze Zeit seines Aufenthaltes im Heim, der Spielgefährte von „Heim-Hans" geworden. Die Familie lebte gerade erste einige Wochen im Heim, das Unvorstellbare geschah: Vater Schärf lief einer bereits anfahrenden Strassenbahn nach, die damals noch offene Zutritte hatte. Er versuchte, die aussen angebrachten Griffstangen zu fassen und auf das Trittbrett aufzuspringen, rutschte ab, fiel unter die Strassenbahngarnitur, und wurde von dieser überrollt. Er war sofort tot. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die schreckliche Nachricht - das Unglück war direkt auf der noch immer beschädigten Aspernbrücke geschehen. Bald sprach jemand davon, dass es sich bei der verunglückten Person um einen Heimewohner handelte. Gross waren Aufruhr und Ungewissheit. Als Hans davon hörte, eilte er zur nahe gelegenen Brücke. Dort hatte sich inzwischen ein Stau mehrerer Strassenbahnen gebildet, und einige Gruppen gestikulierender und diskutierender Passanten standen auf beiden Seiten der Brücke. Die Blicke aller waren zur Mitte hin gerichtet, dorthin, wo dickes, braunes Packpapier ausgebreitet war. Darunter lag die verstümmelte Leiche von Herrn Schärf. Unterdessen informierten Polizisten Frau Schärf im Heim von dem schrecklichen Unfall. Trotz dieses schweren Schicksalsschlages schenkte diese kurz darauf einem dritten, gesunden Sohn, Gerry, das Leben. Wenige Wochen nach dessen Geburt hatte sie die fehlenden Papiere beisammen, und die nun vaterlos gewordene Familie reiste nach Israel ab, einer besseren Zukunft, wie sie meinte, entgegen, und hatte damit hoffentlich recht.


In der Nähe des Fleischmarktes im 1. Bezirk fand Dorothea bei der Zensurstelle eine zeitweilige Anstellung. Dank der vielen perfekten Sprachkenntnisse und ihrer ausgezeichneten Kombinationsfähigkeit war ihr diese Stelle zuerkannt worden. Nun verdiente sie etwas Geld. Es reichte gerade für Lebensmittel, reduzierte aber das andauernde und erniedrigend Betteln- und Bittenmüssen bei den diversen Ämtern oder Zuteilungsstellen auf ein Minimum. Trotzdem war es unumgänglich, bei größeren Einkäufen, „bis zum nächsten Mal" anschreiben zu lassen. Es kam vor, dass die Schulden nicht zum vereinbarten Termin beglichen werden konnten. Dann erschien irgendwann ein Beamter mit der obligaten Aktentasche, sah sich im mehr als dürftig ausgestatteten Zimmer vergeblich nach pfändbaren Gegenständen um, entdeckte zuletzt doch den winzig kleinen schwarzen Volksempfänger, schien erleichtert und klebte flugs auf dessen Rückseite eine Marke, den so genannten Kuckuck. Zu Pfändungen kam es nie, hin und wieder aber zu neuerlichen Besuchen des Beamten. Trotz all dieser Widerwärtigkeiten aber hatten weder Hans noch Erika jemals das Gefühl, Hunger zu leiden oder etwas zu missen. Dies war einzig ihrer großartigen Mutter mit ihrem phänomenalen Improvisationstalent zuzuschreiben. Dorotheas vorrangiger Lebensinhalt und Ziel war, ihren beiden innigst geliebten Kindern mit den bescheidenen, ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten die beste Erziehung und Ausbildung zu bieten. Ab und zu erklärte sie den Kindern, dass ihr dies und jenes leider aus diesem und jenen Grund zu machen oder zu kaufen nicht möglich sei. Die Kinder verstanden sie immer.


Entstanden Bekanntschaften zwischen Heimbewohner, so war es selbstverständlich, einander bei Engpässen mit Lebensmitteln auszuhelfen. Handelte es sich um Zucker, Mehl, Milch und ähnliches, so wurde tassenweise ausgeholfen. Die gleiche Menge erwartete man dann zurück. Ließ sich jemand mit der Rückerstattung zu lange Zeit oder vergaß - absichtlich oder unabsichtlich, scheute sich niemand, darauf hinzuweisen. Aus welchen Gründen auch immer, die meisten Heimbewohner gingen einander aus dem Wege und waren, wenn sie überhaupt miteinander sprachen, kurz angebunden. Manche mochten einander auch einfach nicht leiden. Besonders wenn jeder dem anderen vorhielt, ihm etwas aus „Bestemm" (mit Absicht) zu Leide zu tun. Man stachelte einander so lange auf, bis es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam. Sah sich die Heimleitung außerstande, den Streit zu schlichten oder war sie nicht anwesend, so wurde jemand ins nahe gelegene Wachzimmer in der Ferdinandgasse geschickt, um dort über den Vorfall zu berichten. Dann machten sich ein oder zwei Polizisten sehr gemächlich auf, bereits ahnend, was sie erwarten werde. Waren sie bei Heim angekommen, amtshandelten sie, wobei es, schon des besonderen Status des Heimes wegen, immer bei Abmahnungen blieb.

Onkel Paul


Erika war ein sehr herziges und einnehmendes Kind, und über sie wurde Dorothea mit einem kürzlich im Heim eingezogenen Mann bekannt. Er war Wiener, Musiker von Beruf, stammte aus der Brigittenau, und hieß Paul Braun. Eben erst war er aus der Sowjetunion, wo er zehn Jahre in der Emigration verbracht hatte, nach Wien zurückgekehrt. Sein um zehn Jahre älterer Bruder Otto hingegen, ein praktischer Arzt, war noch vor 1938 mit seiner ersten Frau Anni in die USA ausgewandert. Paul schlug sich über die Tschechoslowakei und Polen bis nach Russland durch. Dort wurde er aufgegriffen und nach Sibirien deportiert. Die ganzen Jahre hindurch verdankte er sein Überleben dem Umstand, dass er sowohl Klavier als auch Akkordeon spielen konnte - und viel, viel Glück. Als Paul zurückkehrte, sein ehemaliges Wohnhaus und das Textilgeschäft seiner Eltern zerbombt vorfand und von seinem Bruder Otto nur wusste, dass er irgendwo in den USA lebte, wandte er sich an die Kultusgemeinde. Diese verwies ihn ans Obdachlosenheim. Pauls gesamter Besitz bestand aus einem kleinen, mit Lederriemen zusammengehaltenen Pappköfferchen, in das einige wenige zerlumpte
Kleidungsstücke, außerdem Notenblätter, und eine Handvoll Familienfotos hineingestopft waren. Darüber hinaus besaß Paul eine Klarinette mit Etui. Frau Citron wies ihm eine Bettstatt im Männerzimmer im dritten Stock zu. Um sich die langweilige Zeit zu verkürzen, begann Paul, als einziger täglich den bis dahin unbenutzten Gemeinschaftsraum aufzusuchen und dort Klarinette zu üben. Das Instrument schien er noch nicht lange zu besitzen, denn seine Übungen bestanden allein aus Tonleitern.
Manchmal, wenn Hans und Erika das Instrument ertönen hörten, schlichen sie zum Gemeinschaftsraum, öffneten leise einen Spaltbreit die Türe und sahen Paul zu. Allzu gerne hätte Hans einmal in dieses Instrument geblasen, hätte es wohl auch selbst versuchen können, getraute sich aber nicht. Was also lag näher, als seine kleine Schwester zu diesem Unterfangen anzustiften? Als Paul wieder einmal den Raum verlassen hatte, schickte Hans sie hinein. Erika ging zu dem am Tisch abgelegte Instrument hin - ihr Kopf reichte gerade über die Tischkante -, und blies hinein. Ein leiser Ton war vernehmbar. Laut hingegen war das Donnerwetter, das es von Paul daraufhin setzte, sodass die Kinder schleunig in ihr Zimmer liefen.
Paul muss Erikas Erschrockenheit mehr als die des Knaben beeindruckt und erbarmt haben. Bei der nächsten Begegnung mit ihr lud er sie ein, mit ihm einen nahe gelegenen Eissalon auf der Praterstrasse aufzusuchen. Dort angekommen fragte er sie, ob sie gerne Eislutscher haben möge? Sie nickte heftig. Tatsächlich kaufte er ihr gleich einige dieser beliebten Wassereislutscher und half ihr beim Tragen. So schlenderten sie langsam wieder dem Heim entgegen, wo sie nach einer Weile, bekleckert und mit verklebten Händen, anlangten. Dorothea, die mittlerweile nach Erika Ausschau hielt, sie mit dem ihr fremden Mann daherkommen sah, begann umgehend mit beiden zu schimpfen. Jene wiederum versuchten sich zu verteidigen, wobei Paul von Erika kräftig unterstützt wurde. Nach einigem Hin- und Her, bei dem einer den anderen kaum verstand oder zu Wort kommen ließ, begannen mit einem Mal alle zu lachen. Paul und Dorothea heirateten 1952. Die Ehe hielt bis zu Pauls viel zu früh eingetretenen Tod an einem Nierenkrebsleiden. So musste er mit nur dreiundfünfzig Jahren und nach so viel Durchgestandenem von dieser Welt gehen.


Paul Braun und sein Bruder Otto stammten aus einer gutbürgerlichen, assimilierten jüdischen Kaufmannsfamilie. In der Wallensteinstrasse hatten sie eine große Patrizierwohnung bewohnt. Nicht unweit davon hatte sich das Textilgeschäft ihres Vaters Moritz Braun befunden, auf die Anfertigung von Herren-Maßhemden spezialisiert. Von den Erträgen hatte die Familie ausgezeichnet leben können. Es war so gut gelaufen, dass Vater Braun seinen Söhnen eine ausgezeichnete Ausbildung bieten und sich die Familie sogar eine Haushälterin leisten konnte. Der Mutter, Olga Braun, sie hiess mit ledigem Namen Sucharipa, und ihrem Gatten Moritz war es vergönnt gewesen, altersbedingt sterben zu dürfen. Moritz Braun starb 1936, seine Gattin 1940.

Um den tristen Heimtagen zu entfliehen, suchte Dorothea oft mit den Kindern den Stadtpark auf. Sie kleidete sie dann so adrett wie möglich, wobei das Trägerröckchen Erikas und die Trägerhose von Hans aus ausrangierten, weissen Leintüchern bestanden, die Dorothea selbst angefertigt hatte. Erikas blondes Haar schmückte sie zudem mit einer übergrossen farbigen Haarschleife, welche sie um ein lustig nach oben stehendes Haarbüschel gebunden hatte, während Hans einen artig gekämmten Scheitel, eine so genannte Lausallee, trug. Neben dem Pratergelände war der Wiener Stadtpark ein bevorzugtes Ziel für Spaziergänge. Dort durften die Kinder mit anderen Kindern spielen. Sie schlenderten meist bis zu Hübners Kursalon. Vor diesem waren Parkstühle aufgestellt. Den Parkstühlen gegenüber befand sich ein halboffener Pavillon, in welchem, bei schönem Wetter ein Orchester aufspielte. Während der dargebrachten Operetten- und Schlagermelodien schwelgte Dorothea in Erinnerung an frühere Zeiten. Sowohl beim Hin-, als auch beim Rückweg mussten sie an unzähligen Schleichhändlern vorbeigehen. Bei diesen, es waren ausschliesslich Männer, handelte es sich um Kriegsversehrte. Aus erlauschten Gesprächen erhaschte Hans, dass man von diesen Männern, für viel Geld, am besten für US-Dollar, amerikanische Zigaretten wie „Lucky Strike", „Chesterfield", „Marlboro" oder „Camel", aber auch schon die in der Damenwelt so sehr begehrten Nylonstrümpfe kaufen konnte. Die hier stehenden Männer bestritten ihren Lebensunterhalt mit der Ausübung dieser streng verbotenen Tätigkeit, die aber für sie die einzige Möglichkeit war, an Bargeld zu kommen. Fast alle Umherstehenden waren ehemalige Kriegsteilnehmer. So fehlte dem einen ein Bein bis hin zum Oberschenkel. Den noch vorhandenen Stumpf platzierte er gekonnt auf eine seiner beiden Stützkrücken, um ihn so sichtbarer zu machen, dadurch mehr Mitleid zu erregen und mehr verkaufen zu können oder auch nur, um Almosen zu erbetteln. Ein Bedauernswerter hatte sichtbar einen Kopfschuss abbekommen und dennoch überlebt. Solch einem Mann in sein durch mehrere Notoperationen fürchterlich entstelltes Gesicht zu sehen erforderte Überwindung. Viele Vorbeigehende wandten sich umgehend ab. Um die Nylonstrümpfe gab es ein regelrechtes „G‘riss" (Gerangel), wobei sie sich, des allzu hohen Preises wegen, die wenigsten kaufen konnten, viele aber von ihnen sprachen.

Das Verhältnis zwischen Dorothea, Onkel Paul und den Kindern wurde immer enger. Man unternahm vieles gemeinsam, wobei beider Liebe zur klassischen Musik ein ganz großer Anknüpfungspunkt und oftmaliger Gesprächsstoff war. Eines Tages war es soweit, und Onkel Paul zog zu ihnen in das ihnen zuletzt von Frau Citron zugewiesene, etwa dreißig Quadratmeter große Zimmer. Manchmal ging Dorothea ins Kino. Meistens waren es alte Revue- oder Kulturfilme, die an Nachmittagen zu sehr günstigen Kartenpreisen angepriesen wurden. Dorothea nahm stets eines ihrer Kinder als Begleitung mit. Einmal besuchte sie mit Hans eine Nachmittagsvorstellung im Tabor-Kino. Es wurde die Oper „Boris Godunow" als russischer Film gezeigt. Im Kinosaal waren höchstens zwanzig Besucher auszumachen, die sich in dem großen Saal verloren. In der Reihe genau vor Dorothea und Hans saß eine Dame ganz alleine. Da das Licht noch nicht ausgelöscht war, erkannte Dorothea, dass es die weltbekannte Opernsängerin Lijuba Welitsch war und sprach sie umgehend in deren bulgarischer Muttersprache an. Nach der Vorführung des Filmes, über den die Damen begeistert waren, plauderten sie noch eine Weile, ehe man sich gegenseitig gute Wünsche aussprach und danach auseinander ging.


Hans wurde eingeschult


Hans kam ins schulpflichtige Alter. Er sollte in die Volksschule in der Kleinen Pfarrgasse gehen. Dorothea hatte bis dahin unzählige Scherereien mit diversen Ämtern zu bewältigen um zu beweisen, dass sowohl Hans als auch Erika ihre Kinder und österreichische Staatsbürger waren. Es sollte noch Jahre dauern, bis die Kinder zu Österreichern erklärt wurden, weshalb sie eine Zeitlang in Dokumenten und Zeugnissen als staatenlos eingetragen waren. Dorothea bat Onkel Paul, dem Knaben seinen zukünftigen Schulweg zu erklären und ihn am ersten Schultag dahin zu begleiten. Die Schule befand sich in unmittelbarer Nähe des Augartens. Dann war es soweit und der erste Schultag brach an. Erika ließ es sich nicht nehmen, ihren Bruder ebenfalls zur Schule zu begleiten. Also marschierten sie zu dritt los. In der Schule angekommen drängte sich Erika mit Hans in dessen Klassenzimmer und verursachte damit, dass die erste Unterrichtsstunde gleich mit Verspätung begann. Nur unter Tränen war die Kleine zum Verlassen des Klassenraumes zu bewegen. Sowohl die Klassenkameraden wie auch die Lehrerin lachten darüber, während sich Hans für seine sich um ihn ängstigende Schwester fürchterlich schämte. Fortan ging er seinen Schulweg nur noch alleine. Der schnell zur Routine gewordene Schulweg führte von der Tempelgasse am Nestroykino vorbei über die Praterstrasse hinaus und in die Komödiengasse hinein. An deren Ecke stand das einst weithin berühmte, seit geraumer Zeit zerbombte Carltheater. Der Schuldirektor, Wenzel mit Namen, trug immer einen - vielleicht seinen einzigen grauen Anzug mit Gilet, in dessen Tasche eine Taschenuhr steckte. Deren Sicherheitskette war so platziert, dass sie jeder sehen konnte. Das Antlitz des Direktors zierte ein grauer Spitzbart, wie ihn viele Männer seiner Generation gerne trugen. Ab und zu zeigte er sich im Klassenzimmer, um ein paar Worte mit der Lehrperson, nie aber mit den Schülern zu wechseln. In den einzelnen Klassenzimmern waren jeweils über dreissig Schüler untergebracht. Die meisten waren katholisch, der Rest evangelisch. Einzig beim Namen Gamliel stand im Klassenbuchverzeichnis unter Religionszugehörigkeit das Wort „mosaisch" eingetragen, mit dem aber keiner der Schüler etwas anzufangen wusste. Jeder Beginn des Schultages fing mit dem monotonen Herunterleiern des Vaterunser an. Dabei hatten die Schüler ihre Blicke auf das an der Frontwand des Zimmers angebrachte Holzkreuz zu richten, welches an das Bild des damaligen Bundespräsidenten Dr. Karl Renner anschloss. Sein Bild zierte ein ähnlicher Spitzbart wie jener des Schuldirektors. Da Hans anfänglich nichts Gegenteiliges aufgetragen wurde, betete er beim täglichen christlichen Morgengebet mit, und wie es scheint hat er keinerlei Schaden davon getragen. Beheizt wurden die Klassenräume durch schwarze, gusseiserne Öfen, die allmorgendlich, lange vor Unterrichtbeginn, angeheizt wurden. Zwischendurch kam der Schulwart in die Klassen, um nach den Öfen zu sehen. Während der Heizperiode durften Schüler, welche von daheim Äpfel für das Pausenmahl mitbekommen hatten, diese, so sie mochten, auf der heiss gewordenen Ofenplatte braten lassen. Dann begann sich langsam ein süß- schwerer, immer intensiverer Duft im Raume breit zu machen. Hans bekam niemals einen Apfel mit, dafür reichte das Geld nicht. Seinen Mitschülern war er den Apfel nicht neidig, da er Neid nicht kannte. Aus einer Parallelklasse tat sich nach Unterrichtschluss oft ein Schüler dadurch hervor, dass er andere, schwächer aussehende, anpöbelte und Raufhändel anzettelte. Dabei war er darauf bedacht, hinter sich einen Grossteil seiner Klassenkameraden zu wissen. Jene wiederum feuerten sein Tun lauthals an. Sein beliebtestes Angriffsziel war Hans, der damals ein sehr dünnes Bürschchen war. Die meisten Mitschüler riefen einander mit ihrem Familiennamen. Hans wurde statt Gamliel anfangs „Gami", bald aber, seiner Dünnheit wegen „Gandhi" gerufen. Vielen Anpöbelungen konnte sich Hans durch rasches Davonlaufen entziehen, war er doch bei Wettkämpfen im Turnunterricht einer der schnellsten Knaben. Begegneten einander Hans und der Stänkerer alleine, ließ jener Hans ungeschoren. Fast hatte es den Anschein, als kenne er ihn nicht. Um so aggressiver tat er sich im Kollegenkreis hervor. Vis à vis der Schule befand sich ein Platz, an dessen linker Seite die Leopoldskirche stand. An der linken vorderen Kirchenseite war eine Nische, in welcher eine Heiligenfigur stand. Gelang Hans die Flucht nicht so rasch wie beabsichtigt und wurde er von seinen Verfolgern eingeholt, suchte er sein Heil im Erreichen dieser Nische. Er stellte sich so hinein, dass sein Rücken gedeckt war und konnte sich so erfolgreich vor den mit Holzlinealen abgegebenen Hieben schützen und auch selbst mit seinem Lineal zurückschlagen. Jahre später vermutete Hans, dass ihn der Heilige jedes Mal vor der Übermacht der Angreifer beschützt habe. Ob dieser aber wusste, welchem Glauben Hans angehörte? Vielleicht stand Hans gerade deshalb unter dessen besonderem Schutz? Jedenfalls konnten ihm die Angreifer nie etwas anhaben. Nach halbstündigem Hin- und Her zog es einer nach dem anderen vor, den Heimweg anzutreten. Zuletzt konnte auch Hans nach Hause eilen. Einmal ergab es sich, dass Hans die rettende Nische nicht rechtzeitig erreichen konnte. Im Nu war er von der ihm wohlbekannten Meute umzingelt. Mit im Kreis befand sich ihr laut maulender Anführer, der Hans mit allen möglichen Mitteln zu provozieren versuchte. Hans wiederum, innerlich angstvoll, äußerlich aber sehr gelassen, stand nur da und wartete darauf, wie es wohl weiter gehe. Er hoffte einen Fluchtweg zu orten, denn sein Gegenüber sah nicht nur so aus, sondern war auch wesentlich kräftiger und korpulenter als er. Die Spannung der jeden Augenblick losgehenden Balgerei schien nicht mehr zu steigern, als Hans urplötzlich, angesichts der umherstehenden Übermacht, mit der Kraft und dem Mut der Verzweiflung, seinem Kontrahenten einen geschwungenen, weit hergeholten, klassisch ausgeführten Haken in die Magengegend schlug. Es war ein „Lucky Punch", der tatsächlich den Punkt getroffen zu haben schien. Im selben Augenblick begann sich der Getroffene, mit schmerzverzehrtem Gesicht, Wehlaute ausstossend, zu krümmen und auf den Boden zu setzen. Mit einem Male öffnete sich der umzingelnde Kreis. Weit aufgerissene Augen und noch weit offenere Mäuler waren auf ihn gerichtet, der jetzt den Kreis langsam verließ. Einen solchen Ausgang der von den anderen Knaben so sehnlicht erwarteten Schlacht, hatte keiner, auch Hans nicht erwartet. Tags darauf wurde Hans zu allererst von seiner Klassenlehrerin zur Rede gestellt, die ihn von vornherein als Schuldigen ansah. Vergeblich stellte er den Sachverhalt wahrheitsgemäß dar. Ausgerechnet seine Lehrerin glaubte ihm nicht. Wie heißt es doch: „Schuld ist immer der Jud". Die Lehrerin bestrafte Hans zu einer langen Schreibarbeit, einer Mitteilung an seine Mutter und zu einem nachmittäglichen Nachsitzen. Zu alldem wurde seine Betragensnote, die bisher immer sehr gut gewesen war, verschlechtert. Diese eigenartige Rechtsprechung begriff Hans nicht und war darüber sehr enttäuscht. Alleine seine Mutter schenkte seiner Darstellung des Vorfalles Glauben, konnte aber nichts gegen die Lehrperson ausrichten. Ein Gutes immerhin hatte die Episode bewirkt: Seither wurde Hans nie mehr angepöbelt. Er meinte sogar zu erkennen, dass manch einer seiner ehemaligen Gegner mit verstohlener Achtung einen Bogen um ihn machte. Hans liebte es, nach Unterrichtschluss nicht direkt, sondern auf weitläufigen Umwegen durch die engen, alten Gassen der Leopoldstadt heimwärts zu schlendern. Dies tat er dann, wenn er daheim nicht von seiner Mutter erwartet wurde. So lernte er einen Grossteil des Bezirkes kennen. Alle Läden und Geschäfte betrachtete er genau, sah sich an den ausgestellten Waren satt, träumte oder wünschte sich, dies oder jenes besitzen zu können, besonders dann, wenn er an einem Spielwarenladen anhielt. Sich in Wien zu verirren war unmöglich, denn an jeder Strassen- und Gassenecke war deren jeweiliger Name angebracht und an jedem Haus oberhalb des Haustores war die Hausnummer und unter dieser abermals der Name der Strasse oder Gasse zu lesen. Dann waren an fast allen Häusern, wo Kellerfenster oder Kelleröffnungen vorhanden waren, große Buchstaben wie LSK (Luftschutzkeller) oder LSR (Luftschutzraum) sowie noch größere Richtungspfeile in breiten weißen Farbstrichen angebracht worden, die der Zivilbevölkerung im 2. Weltkrieg jene Räume hatten weisen sollen, die ihnen bei Fliegeralarm Fluchtmöglichkeit und vermeintlichen Schutz boten. Schon der unzähligen Durchhäuser wegen, die einen Gassenzug mit einem parallel laufenden verbanden, lohnte sich das Durchstreifen seines Bezirkes für Hans. Bei solchen Streifzügen durch seinen Wohnbezirk konnte er hin und wieder die „Vier im Jeep" - das waren je ein Soldat der vier Besatzungsmächte - bewundern, wenn vier in sauberster Montur gerade seine Strasse entlang fuhren. Jedes Mal lenkte ein anderer Soldat das Gefährt. Am imponierendsten stach Hans jener Soldat ins Auge dessen Uniform mit dicken weißen Kordeln bestückt war. Auch das Kennenlernen der unmittelbaren Umgebung des Heimes war für ihn von Vorteil, wenn er mit anderen Knaben „Räuber und Gendarm" spielte. In diesen Durchhäusern gab es unzählige Möglichkeiten, sich zu verstecken. In vielen der Innenhöfe roch es muffig-säuerlich. Warf Hans beim Durchstreifen solcher Höfe den Blick in diese oder jene Ecke, hatte manch ein Nachtschwärmer dort seine Notdurft hinterlassen. In manchen Innenhöfen hatten geschäftstüchtige Bewohner Läden eingerichtet, welche sie als Schneiderei, Schusterei oder Kohlenladen betrieben. Jeder Laden bestand aus nur einem dunklen Raum, fast alle wurden von Frauen oder invaliden Männern betrieben.

Für Hans und Erika gab es zwischendurch auch Zeiten, in denen sie vom tristen Heimleben befreit wurden. Die Kultusgemeinde und der jüdische Verein „Haschomer Hazair" organisierten für jüdische Kinder Ferienaufenthalte. Der Verein hatte in der Storchengasse im 15. Bezirk eine Wohnung angemietet, die als eine Art Klublokal genutzt wurde. Hans war einige Male dort, um mit Gleichaltrigen an verschiedenen Spielen teilzunehmen. Einmal verbrachten sie einen Wochenaufenthalt in Edlach an der Rax und mehrere Male in den großen Schulferien Wochen in einem Heim in Haag 54 bei Neulengbach. Dann genossen auch Dorothea und Onkel Paul daheim die Wochen unbeschwerten Ausspannens. Dem Kinderheim, das sich in einem riesigen Garten befand schloss sich eine große Rasenfläche an, die wiederum durch einige Maulbeerbäume mit herrlich schmeckenden Früchten und eine Sportanlage unterbrochen war. Jeder Ferientag war abwechslungsreich. Sportliche oder die Geschicklichkeit messende Wettkämpfe wurden veranstaltet, oder in den angrenzenden Wald Ausflüge unternommen und dabei lauthals Lieder gesungen. Den Kindern wurde jedenfalls nie langweilig und viele Freundschaften wurden geschlossen. Derlei Veranstaltungen waren unterbrochen von den Mahlzeiten. Zum Gabelfrühstück und zur Jause gab es riesige Schwarzbrotscheiben, die nur mit Marmelade bestrichen waren, aber köstlich schmeckten. Unter den Knaben gab es einen, er hieß Julius, der die wunderbare Begabung des Erzählens besaß. Er vermochte in seinem Vortrag eine derartige Spannung aufzubauen, dass sich alle Knaben darauf freuten. Deshalb gab es zur Schlafenszeit nie Probleme, denn sobald das Licht gelöscht worden war begann Julius zu erzählen, und zwar die Nibelungensage. Jeder in seinem Bett liegende Knabe sog die in Fortsetzungen erzählte Geschichte in sich auf und übernahm sie in seinen darauf folgenden Traum. Über dieses Kinderheim des Haschomer Hazair hinaus boten einige jüdische Gemeinden in der Schweiz, darunter auch in Basel Familien an, die gewillt waren, jüdische Kinder aus dem Ausland für einige Zeit bei sich aufzunehmen und aufzupäppeln.

Die schöne Zeit in Basel

Hans und Erika kamen in den Genuss, in Basel bei zwei Familien in der Eichenstrasse 27 aufgenommen zu werden. Erikas Familie hiess Orzel. Sie setzte sich aus den Eltern und deren beiden Töchtern in Erikas Alter zusammen. Es waren liebe Leute, was aber das schreckliche Heimweh, von dem Erika seit ihrer Ankunft in Basel befallen und nicht mehr losgelassen wurde, nicht mindern mochte. Daher trat Erika nach nur kurzem Aufenthalt bei Orzels wieder die Rückreise nach Wien an.

Die Patenfamilie von Hans hieß Gradwohl und bestand aus Vater, Mutter, der Tochter Marlyse, die im Alter von Hans war, dem etwas älteren Sohn Pierre, der bereits das Gymnasium besuchte und dem ältesten Sohn Roland, der vor der Matura stand. Roland wurde später Journalist und Rabbiner und wanderte wie seine Schwester Marlyse nach Israel aus. Pierre machte seinen Doktor, trat aus dem Judentum aus und arbeitete bei einem Schweizer Chemiekonzern in der Forschungsabteilung.

Die Gradwohls waren religiöse Juden. Sie versuchten, Hans, für den Religiosität Neuland war, in ihr religiöses Leben und dessen täglichen Ablauf einzubeziehen. Das fing mit dem Küssen der am Torpfosten angebrachten Mesusa an und reichte bis zu Leseversuchen in hebräischen Gebetsbüchern. Jeder Schabbat und die jüdischen Feste wurden in der Synagoge gefeiert und daheim, mit entsprechendem Zeremoniell, fortgesetzt. Nach Synagogenbesuchen erhielten die Kinder bunte Zuckerstangen, so genannte „Mässbroggen", eine Basler Spezialität, bevor man nach Hause ging. Im Gegensatz zu Erika gefiel es Hans bei seiner Patenfamilie ausgezeichnet, zudem er sich mit Marlyse sehr gut verstand. Ausserdem hatte er im Nachbarhaus einen nichtjüdischen, gleichaltrigen Spielgefährten, mit dem er fast täglich auf der damals kaum befahrenen Strasse mit herrlich bunten Glasmurmeln spielte und

Dreirad fuhr. Im Gegensatz zu Wien, wo alle Strassen und Gassen gepflastert waren, waren in Basel, soviel Hans damals erkennen konnte, alle Fahrbahnen geteert.

Gradwohls schienen an Hans ebenfalls Gefallen gefunden zu haben. Sein ursprünglich für ein, zwei Monate gedachte Aufenthalt wurde nach Rücksprache mit Dorothea auf ein ganzes Jahr verlängert. Ehe seine Pflegeeltern dies arrangiert hatten, mussten sie sich von einem Schock erholen. Es war kurz nachdem Hans bei ihnen in Basel angekommen war. Frau Gradwohl wollte ihn in der Badewanne gründlich waschen. Hans legte seine Kleider ab, stieg

in die Wanne. Sie wollte mit dem Waschen beginnen, wich aber, einen kurzen Schrei ausstoßend, einen Schritt von der Wanne zurück. Während sie ihren Blick erschrocken am Körper von Hans hinab gleiten ließ, sah er sie mit großen Augen verständnislos an. Endlich schien sie sich gefangen zu haben. Sie fragte Hans in schroff gehaltenem Ton, ob er denn Christ und nicht Jude sei? Hans sah Frau Gradwohl verdutzt an, denn er verstand nicht, was sie eigentlich von ihm wollte. Sie wiederum rief nach ihrem Gatten. Nachdem beide ein paar Worte gewechselten hatten, trat Herr Gradwohl ebenfalls an die Wanne heran und sah an Hans hinab. Dann fragte er ihn geradewegs, warum er nicht beschnitten sei? Auch jetzt verstand Hans überhaupt nichts, beteuerte aber, sehr wohl Jude zu sein. Gradwohls sahen ein, mit der Befragung des Knaben keine befriedigende Antwort zu bekommen und sandten umgehend ein Telegramm an seine Mutter nach Wien. In diesem fragten sie, ob Hans Jude und warum dann nicht beschnitten sei? Sowie Dorothea das Schreiben überflogen hatte, antwortete sie postwendend. Ihr Schreiben bestand aus wenigen Fragesätzen, deren Hauptsatz die Frage war, bei welcher Gestapostelle, auf ihrer Flucht gerade vor jenen, sie den Antrag zur

Beschneidung ihres Sohnes, nach jüdischer Tradition ausgeführt, hätte stellen sollen? Diese Antwort befriedigte Gradwohls. Nach nochmaligem Briefwechsel einigten sie sich darauf, Hans umgehend im jüdischen Spital zu Basel der versäumten Prozedur zu unterziehen, die der erwähnten Umständen wegen bislang nicht hatte vollzogen werden können.

Nachdem Hans in Wien den Schulalltag bereits kennen gelernt hatte musste er auch in Basel eine Schule besuchen. Die Volksschule wurde in der Schweiz Primarschule genannt, und in solch eine wurde er eingewiesen. Mit dem Schweizerdeutsch, das seine Klassenkameraden sprachen hatte Hans keinerlei Mühe, er verstand es sofort. Manchmal tat er beim Spielen so, als verstünde er es nicht, worüber seine Gefährten, aber auch er, sich dann köstlich amüsierten. Das hier in der Grundschule praktizierte Schreiben auf Schiefertafel mit Griffel bereitete ihm keine Schwierigkeit. Es wunderte ihn bloß ein wenig, denn in Wien wurde mit Bleistift und Tintenfeder in Hefte geschrieben. Gerade dies sollte Hans zum Nachteil geraten, als er später, wieder in Wien zurück, die nächste Klasse besuchen wollte. Hans musste die Klasse, die er in der Schweiz positiv beendet hatte, in Wien wiederholen. Die Begründung des Stadtschulrates dafür war, weil man in der Schweiz mit Griffel auf Schiefertafel und nicht mit Bleistift und Feder in Hefte schrieb.

An Schabbatabenden bestand das Abendessen bei Gradwohls häufig aus einem sicherlich ausgezeichnet zubereiteten, kalten Karpfen in Aspik, den Hans des Aspik wegen überhaupt nicht mochte. Er musste sich ungemein überwinden, die ihm aufgetragene Portion, unter den Blicken aller bei Tisch Anwesenden, hinunter zu würgen. Zu jüdischen Feiertagen wurde Frau Gradwohl von zwei nicht jüdischen Fräulein unterstützt. Diese erledigten alle Arbeiten, welche frommen Juden dann verboten waren. Selbstverständlich war alles Geschirr im

Hause Gradwohl doppelt vorhanden. Es wurde dabei peinlichst genau darauf geachtet, dass es in für fleischige und für milchige Ware zu verwendendes Geschirr getrennt aufbewahrt wurde.

Die Taxis in Basel übten eine besondere Faszination auf Hans aus. Es waren ausschließlich amerikanische, in dunklen Farben gehaltene Automarken. Zudem trug jeder Taxichauffeur eine Uniform mit Schirmkappe in derselben Farbe wie das von ihm gelenkte Fahrzeug. Das sah prachtvoll und vornehm aus. Frau Gradwohl kümmerte sich ausschließlich um den Haushalt und die Kinder. Herr Gradwohl war wochentags für eine Textilfirma mit seinem beigefarbenen Ford im Außendienst unterwegs. Hans, der sehr viel Freizeit hatte begleitete ihn häufig auf seinen Tagestouren, die das ganze Baselland mit einbezogen. Er durfte immer neben Herrn Gradwohl am Beifahrersitz Platz nehmen. Einmal, sie waren wie oft zuvor in ländlicher Gegend unterwegs, bemerkte Hans, wie während der Fahrt Herrn Gradwohls Kopf immer wieder langsam auf dessen Brust zu sinken begann, um dann wieder ruckartig hochzuschießen. Herr Gradwohl war wohl sehr müde oder krank. Abermals neigte sich sein Kopf gegen die Brust, wobei seine Augen, ehe sie sich für kurze Zeit schlossen, einen verklärten Ausdruck annahmen. Er war nicht mehr fähig, sich zu konzentrieren, geschweige denn, sich länger wach zu halten, und dieser kurze Augenblick genügte, dass das schwere Automobil plötzlich die Landstrasse verließ. Nach etwa zwanzig Metern kam es in einem frisch gepflügten Acker zum Stillstand, durch den tiefen, schweren Boden war die Bremswirkung zum Glück ziemlich rasch eingetreten. Im Nu war Herr Gradwohl hellwach, erkannte die Situation und auch, dass der Wagen dermaßen festgefahren war, dass ohne fremde Hilfe an ein Herauskommen nicht zu denken war. Er eruierte, welchem Bauern das Ackerland gehörte, begab sich zu diesem, entschuldigte sich und bat um Hilfe. Der Bauer setzte sich auf seinen Traktor, fuhr zum Acker hin, befestigte an beiden Fahrzeugen ein festes Seil und zog den Wagen auf die Strasse hinaus. Für den angerichteten Schaden und seine Hilfeleistung verlangte er ein Fünffrankenstück, das ihm Herr Gradwohl aushändigte und die Tagestour beendete, indem er sofort mit Hans nach Hause fuhr.

Die wunderschöne und erholsame Zeit bei der lieben Gradwohl-Familie verging viel zu schnell. Nach einem Jahr hieß es für Hans Abschied nehmen und zurück nach Wien. Sein Zugabteil war mit unzähligen Schokoladetafeln und anderen Süßigkeiten, die ihm seine Klassenkameraden zum Abschied geschenkt hatten, ausgelegt.

Zurück ins Obdachlosenheim

Mit großer Freude wurde Hans von Dorothea am Westbahnhof in Empfang genommen, und im Heim angekommen fühlte sich Hans augenblicklich wieder zu Hause. Er hatte bemerkt, dass einige Bewohner, die er gekannt hatte, nicht mehr im Heim wohnten und dafür andere deren Plätze eingenommen hatten. Auch die Schule besuchte er nun wieder in Wien, hatte aber lauter neue Klassenkameraden, da er die Klasse, der Schiefertafel wegen, ja wiederholen musste. Dorothea hatte inzwischen eine ständige Anstellung in einem Bezirk über der Donau und Onkel Paul eine im südlichen Wien gefunden. Dadurch begann es ihnen etwas besser zu gehen. Trotz der vielen auf Wien niedergegangenen Bomben gab es in der Praterstrasse noch einige intakte Kaffee- und Gasthäuser sowie zwei Kinos. Das größere hieß Diana-, das kleinere Nestroykino. Eines der besseren Gasthäuser nannte sich „Tiger". Es stand unmittelbar neben dem völlig zerstörten Carltheater. Da sie es sich nun hin und wieder leisten konnten, wurde Hans an manchen Sonn- oder Feiertagen zum „Tiger" geschickt, um von dort für die Familie Essen ins Heim zu bringen. Das so geholte Essen war um einiges billiger als der direkte Besuch des Gasthauses zu viert. In Aluminium-Menagen, die aus bis zu fünf aufeinander stapelbaren Töpfen bestanden, konnte man Mahlzeiten problemlos transportieren. Alle Töpfe hatten zwei Henkel. Durch diese schob man eine Tragehalterung, wodurch die so aufeinander gestapelten Töpfe mit einer Hand tragbar waren. War Hans im Gasthaus angelangt, fragte er den hinter dem Tresen stehenden Wirt, ob die Speisen, die zu holen ihm seine Mutter aufgetragen hatte, zu haben seien? Nickte er, nannte Hans die Anzahl der Portionen, zahlte den geforderten Betrag, und so wie er die in die Menagen gefüllten Speisen überreicht bekam, machte er sich umgehend auf den Heimweg. Da der „Tiger" vom Heim nur fünf Minuten entfernt war, blieben die Mahlzeiten warm, sodass sie sofort mit dem Essen beginnen konnten.

Allgemein ging man in die Praterstrasse einkaufen. Mehrere Geschäfte, welche die Kriegsereignisse unbeschadet überstanden hatten waren von ihren Eigentümern wieder aktiviert worden. Zum Einkaufen wurde immer nur Hans geschickt, es sei denn, die Mutter ging selbst einkaufen. Das Warenangebot beschränkte sich anfangs auf die Grundnahrungsmittel, die aber nur mit Lebensmittelmarken bezogen werden konnten. Deren Zuteilungsmodus richtete sich nach der Bedürftigkeit der Antragsteller. Reis war neben Kartoffeln eines ihrer Hauptnahrungsmittel - Reis öfters als Kartoffeln, da die Qualität der günstig angebotenen Kartoffeln sehr schlecht war und sich Dorothea jedes Mal beim Schälen ärgerte, dass sie so viel Ungenießbares wegschneiden musste. Aber auch die Reisqualität, die sie sich zu leisten vermochten, war absolut als nicht hochwertig zu bezeichnen. Deshalb ersuchte Dorothea, wenn sie ein Reisgericht kochen wollte, ihren Sohn darum, den Reis auf ein flaches Blech oder ein Stück weißes Papier zu schütten und den Reis von Fremdkörpern wie kleinen Steinchen oder Holzstücken zu säubern. Eine ähnliche Aufgabe bescherte seine Mutter ihm, wenn sie frische Erbsenschoten gekauft hatte. Dann wurde er gebeten, die Erbsen aus den Schoten herauszulösen. Da fanden sich in vielen Schoten kleine weiße Raupen, die bereits die Erbsen angefressen hatten. Hans musste sie aussortieren und wegwerfen. Auch über diesen Verlust konnte sich Dorothea ärgern. Wollte jemand andere, nicht im Angebot befindliche Waren kaufen, war dies nur mit Beziehungen oder über den verbotenen Schleichhandel möglich, aber nur, wenn man mit US-Dollar bezahlen konnte. Für jedes Lebensmittel, das man kaufen wollte, wurden von der Verkäuferin ein oder mehrere Abschnitte von der Lebensmittelkarte abgeschnitten. Milch war als Magermilch oder als Vollmilch beziehbar, wurde abgemessen und aus großen Milchkannen in Glasflaschen oder mitgebrachte Töpfe eingefüllt. Butter, Germ und Käse wurde von größeren Blöcken abgeschnitten, auf einer Waage mit Metallgewichten abgewogen und verkauft.

Für Hans lief das Einkaufen folgendermaßen ab: Am frühen Morgen wurde er zum Milchgeschäft geschickt. Bei seinem Eintreffen war es oft noch geschlossen, und er schloss sich den bereits vor dem Laden Wartenden an. Äußerst ärgerlich war es für Hans, wenn er sich vergebens angestellt hatte, wenn nämlich dem Geschäft zu wenig Waren zugeteilt worden waren oder zu viele Kaufwillige anstanden. Dann wurde geflucht, geschimpft und jeder davon Betroffene nahm sich vor, beim nächsten Einkauf noch früher zu erscheinen. Nicht selten hatte Hans versucht, die Anzahl der vor ihm in der Schlange Stehenden auszumachen. Diese Zahl verglich er mit den in der Verkaufsstellage sichtbaren Brotlaiben. War die Anzahl der Brote geringer, betete Hans insgeheim darum, dass nicht alle vor ihm Brot kaufen wollten. Bis er dann an die Reihe kam, hatte er ein Wechselbad an Gefühlen zu durchleiden.

Der wenigen dort vorhandenen Läden wegen ging man kaum in die Ferdinandgasse einkaufen, aber Ecke Ferdinandgasse - Tempelgasse gab es eine Bäckerei. Als Heimbewohner mit Familie tat man gut daran, diese Bäckerei hin und wieder aufzusuchen. Viele der im Heim hausenden Frauen mit Familie waren es aus Vorkriegszeiten gewohnt, selbst zu backen. Im Heim gab es dafür keine Möglichkeit. Sowie das Angebot an Zutaten wie Vanillinzucker und Backpulver größer wurde, steigerte sich, besonders bei den aus Osteuropa stammenden Heimbewohnerinnen, der Drang zum selbst Backen enorm. Deshalb war es von großem Vorteil, vom Bäcker oder seiner Frau als Kunde identifiziert zu werden. Eine Heimkundin fragte den Bäcker eines Tages, ob er ihr so gefällig wäre, einen von ihr gefertigten Teig, den man auf einem Blech zu ihm bringen würde, in seinem Ofen mitzubacken? Obschon er für diese Gefälligkeit einen Obolus verlangte, willigte er mürrisch ein. Brachte man das Blech zu ihm, nannte er eine Zeit, zu welcher man das Backwerk abholen konnte. Dass hernach eine Seite ziemlich angebrannt war, musste man, wollte man wieder kommen, geflissentlich übersehen. Das Backwerk war immer angebrannt. Dorothea, die mittlerweile ebenfalls dazu übergegangen war, Kuchen selbst zu fertigen und den rohen Teig auf einem Blech von Hans zum Bäcker bringen ließ, ärgerte sich regelmäßig, aber mehr noch darüber, nicht reklamieren zu dürfen. Es hatte nämlich den Anschein, als ließe der Bäcker, aus Ärger darüber, dass man Kuchen nicht bei ihm bestellte, die mitgebrachte Ware absichtlich anbrennen.

Schräg gegenüber der Bäckerei befand sich ein Kolonialwarenladen. Am Eingang waren ziemlich große emaillierte Reklametafeln angebracht, auf denen Namen der Waren aufgelistet standen, die man einst hier bekommen, heute aber der misslichen Lage wegen gar nicht oder vorläufig nicht mehr kaufen konnte. Trat man in den Laden, dessen Inneres auch bei Tageslicht dunkel und düster war, umhüllte einen sofort ein süßlicher, gewürzschwerer Geruch. Reis, Grieß und verschiedene getrocknete Hülsenfrüchte wurden aus Jutesäcken und anderen Behältnissen dargeboten. Diese Waren wurden von der Ladenbetreiberin mit einer Tasse herausgeschöpft und abgewogen. Dann wurde die Ware in selbst gerollte, aus Zeitungspapier zusammengeschnittene Papiertüten gefüllt. Je nachdem, in welchem Teil des Ladens man sich gerade befand, roch es auch nach Petroleum, Schmierseife und anderem.

Julius Meinl, die bekannteste, alteingesessene Delikatessenfirma, war ebenfalls in der Praterstrasse präsent. Bis Ende der Vierzigerjahre war das Einkaufen in diesem Laden aber Vermögenden vorbehalten. Selten kam es vor, dass auch Dorothea dort einkaufen ging. Bei Meinl war alles frischer, exklusiver, schöner aber auch wesentlich teurer als in anderen Läden. So klein dieser Laden auch war, schien er vom Warenangebot und der Auswahl, wie sonderbarerweise auch von Kaufwilligen überfüllt. Stets war bestens geschultes, freundliches Personal zugegen, das in firmeneigene, hellbraune Uniformmäntel gekleidet jeden zuvorkommend bediente. Bei Meinl als Verkäufer oder Lehrling engagiert zu werden waren viele bestrebt. Man hatte nur mit erstklassigem Schulabschluss Chancen, und nach bestandener betriebsinterner Prüfung. Hatte jemand die Anstellung bekommen, konnte er oder sie sich fast „von" nennen, denn das Personal von Meinl stand im beruflichen Ansehen weit über anderem Verkaufspersonal, was sich auch im Verdienst bemerkbar machte.

Hans Gamliel wurde am 25. Dezember 1940 in Subotica, nahe der serbisch-ungarischen Grenze in der Vojvodina geboren. Seine Mutter Dorothea (1918 - 1983) stammte väterlicherseits aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie. 1938 war sie vor den Nationalsozialisten mit Eltern, Geschwister und weiteren Verwandten aus Wien nach Serbien geflüchtet. Dort lebten sie auseinander gerissen bei verschiedenen serbischen Familien versteckt im Untergrund. Ein Grossteil der Familienangehörigen wurde jedoch aufgestöbert,
deportiert und in Vernichtungslagern des Dritten Reiches ermordet. 1945 kehrte Dorothea Gamliel mit Sohn Hans und der um zwei Jahre jüngeren Tochter Erika, dabei vielerlei Hindernisse überwindend, über Umwege nach Wien zurück. Im Obdachlosenheim der Israelitischen Kultusgemeinde im 2. Bezirk fanden sie für die nächsten Jahre ein Zimmer.
Ab Anfang der 1960er Jahre, arbeitete Hans aufgrund besserer Berufs-Chancen im Gastgewerbe häufig in der Schweiz, wohin er 1984 nach Grub im Kanton Appenzell Ausserrhoden zu seiner Frau übersiedelt ist und noch heute dort lebt. Im Gedenken an seine leidgeprüfte Mutter und seinen ermordeten Vorfahren schrieb Hans Gamliel in den letzten zehn Jahren seine Familiengeschichte und Kindheitserinnerungen auf. Dabei erzählt er die Geschichte in der dritten Person. Ein Jahr seiner Kindheit 1948/49 verbrachte er auf Vermittlung der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde bei einer jüdischen Familie in der Stadt Basel.
 

Teil 3 der Lebensgeschichte Hans Gamliels folgt in der nächsten Ausgabe des DAVID.

 

 
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