Noch immer ist vieles über die jüngste Unrast in Tibet
unklar. Die strikte Einschränkung der Medienpräsenz in Tibet und in den
angrenzenden westchinesischen Provinzen macht es unmöglich, ein klares Bild vom
Geschehen vor Ort zu erhalten. Unbestritten ist, dass es im März 2008 einen
Aufruhr von Dimensionen gegeben hat, wie man sie seit 1989 nicht mehr gesehen
hat. Alles deutet darauf hin, dass auch Peking vom Ausmass der Rebellion
überrascht wurde. Es kann auch keine Zweifel daran geben, dass das
internationale Prestige der Volksrepublik ausgerechnet im Jahr der Pekinger
Olympiade Schaden gelitten hat. Schliesslich steht zu befürchten, dass die
chinesische Führung, deren erste Reaktionen sie in der üblichen
Realitätsverweigerung von autoritären Herrschern zeigten, die Chance, zu einer
nachhaltigen Lösung des Tibetproblems die Hand zu bieten, ein weiteres Mal
verpassen wird und dass Tibet auch in Zukunft eine schwärende Wunde bleiben
wird.
Im Grunde genommen sind die Parameter des Tibetproblems sehr
klar. Auf der einen Seite steht fest, dass Peking nie seine Hoheit über Tibet
aufgeben wird. Auf der andern Seite steht mit ebensolcher Sicherheit fest, dass
die Tibeter nie die Han Chinesen in ihre Herzen schliessen werden. Vor diesem
Hintergrund müssten die beiden Seiten eigentlich an eine delikate Aufarbeitung
der Missverständnisse und des gegenseitigen Misstrauens denken und ihre
Anstrengungen darauf ausrichten, einen Modus vivendi zu erreichen, der eine
möglichst krisenresistente Beilegung des Konflikts erlaubt.
Auf der chinesischen Seite lassen sich, wenn es um Tibet und
dessen Bedeutung innerhalb des chinesischen Staatsverbandes geht, drei
Hauptmeinungen ausmachen. Als erste gibt es die Gruppe der Technokraten, die
nicht ohne Grund Tibet als ein rückständiges Gebiet betrachtet und darauf
hinwirken will, den Tibetern auch die Segnungen der Moderne zu bringen. Für sie
ist die Eröffnung der Eisenbahnlinie, die Lhasa mit dem Herzen Chinas verbindet,
exemplarisches Zeugnis einer solchen Entwicklungspolitik. Objektiv gesehen kann
diese Einstellung der Technokraten nicht von vornherein verurteilt werden.
Jenseits aller kulturellen Selbstbehauptung muss auch für die Menschen in Tibet
gelten, dass sie an den zivilisatorischen Errungenschaften des 20. und 21.
Jahrhunderts teilhaben dürfen. Ein Reservat in Unterentwicklung kann für einen
modernen Nationalstaat keine realistische Option sein.
Die zweite Gruppe umfasst die Geostrategen. Aus ihrer Sicht
kann es für Peking überhaupt keine andere Option als die vollständige
Souveränität über Tibet geben. Ein Rückzug aus Tibet würde auf dem Dach der Welt
ein geopolitisches Vakuum schaffen, in das über kurz oder lang andere Mächte
vorstossen würden. Auch können die Geostrategen nicht ohne Grund ins Feld
führen, dass ein unabhängiges Tibet zum Spielball fremder Mächte würde, in
ähnlicher Weise wie Afghanistan. Noch während der letzten Jahrzehnter britischer
Herrschaft über Indien hatte London mit Bezug auf Tibet dieselben Befürchtungen
gehabt.
Die dritte Gruppe, die offensichtlich am unsympatischsten
ist, vertritt die Meinung, dass Tibet als Landreserve für Chinas
Milliardenbevölkerung zu dienen habe. In der Tat ist Tibet im Vergleich zu
vielen anderen Regionen im Riesenreich unterbevölkert. Allerdings gibt es
gegenüber den Protagonisten einer vermehrten Han-Präsenz in Tibet sowohl
gewichtige ökologische Vorbehalte als auch selbstverständlich den offenen und
versteckten Widerstand der einheimischen Bevölkerung.
Natürlich gibt es auf tibetischer Seite Kollaborateure, und
nicht jeder Tibeter ist eo ipso ein Aufständischer. Tatsache ist indessen, dass
der Graben zwischen den Tibetern und den Han Chinesen unüberbrückbar ist. Würde
man die tibetische Bevölkerung um ihre frei geäusserte Meinung befragen, so wäre
höchstwahrscheinlich eine grosse Mehrheit für die Unabhängigkeit Tibets.
Ähnliches gilt für Kaschmir, wo auch die Mehrheit der Menschen den von
vornherein nicht zu realisierenden Wunsch haben dürfte, weder zu Pakistan noch
zu Indien geschlagen zu werden. Dass auch wirtschaftliche Sonderbehandlung
solche Unabhängigkeitswünsche nicht zu beseitigen vermag, dürfte mit der
psychischen Befindlichkeit der Menschen zu tun haben. Es gibt eben gewisse Werte
der menschlichen Würde, die, auch um grosser materieller Vorteile willen, nicht
aufgegeben werden dürfen.
Ohne Zweifel hat Peking die nötigen Ordnungsmittel, um in
Tibet die Friedhofsruhe aufrecht zu erhalten. Im Vergleich zu 1989 sind zudem
die chinesischen Ordnungskräfte für die Wahrnehmung ihrer Ordnungsaufgabe heute
viel besser ausgerüstet und geschult. Keine Macht der Erde wird deshalb die
chinesische Ordnungsmacht, auch wenn sie sich als reine Repressionsmacht
aufführt, aus Tibet verdrängen können, umso mehr, als kein Land der Welt bereit
ist, für die Rechte der Tibeter gegen China in den Krieg zu ziehen oder auch nur
die bilateralen Handelsbeziehungen mit China zu gefährden. Somit wird es vor
allem im NGO-Bereich wortreiche Proteste gegen das chinesische Vorgehen in Tibet
geben, doch bewirken wird dies alles kaum etwas.
Wie sieht vor diesem Hintergrund die Zukunft aus? Die Gefahr
besteht, dass die schwärende Wunde Tibet auf alle Zeit hinaus weiter besteht.
Peking hat verbale Breitseiten gegen den Dalai Lama abgefeuert, die an die
Klassenkampf-Rhetorik zu Maos Zeiten erinnert. Glaubt man den offiziellen
Verlautbarungen, so gibt es keine schlimmere, keine reaktionärere Figur auf
Erden als den Dalai Lama. Ihm eignet die Bezeichnung „splittest", Sezessionist.
Nach Meinung Pekings steht er hinter aller tibetischen Opposition gegen China
und ist deshalb auch mitschuldig an den jüngsten gewaltsamen Übergriffen gegen
Han Chinesen.
Eine sachliche Lagebeurteilung müsste indessen zu einem ganz
anderen Schluss kommen. Objektiv gesehen ist der Dalai Lama eine der letzten,
wenn nicht die letzte Möglichkeit, in der Tibetfrage noch zu einem einigermassen
akzetablen Kompromiss zu gelangen. Verschwindet der Dalai Lama von der
Bildfläche, so wird es über Jahre, möglicherweise über ein Jahrzehnt hinweg
keine eindeutige, das Vertrauen vieler Tibeter geniessende Ansprechsperson für
Peking mehr geben. Es ist höchst wahrscheinlich, dass es nach dem Tod des
heutigen Dalai Lama es widersprüchliche Ansprüche auf eine Reinkarnation des
jetzigen Dalai Lama geben wird. Dies ist übrigens nichts Neues in der rund
600-jährigen Geschichte der Dalai Lama. Tibet wurde in der Vergangenheit
wiederholt von Bürgerkriegen heimgesucht, die zuweilen auch chinesische Kaiser
zum Eingreifen veranlassten.
Der Dalai Lama hat deutlich werden lassen, dass er nicht ein
unabhängiges Tibet anstrebe. Damit hat er eigentlich vom staatspolitischen und
staatsrechtlichen Gesichtspunkt her gesehen, schon das wichtigste Argument, das
Peking gegen ihn vorbringt, nämlich ein Sezessionist zu sein, widerlegt. Nun
kann man natürlich behaupten, dies alles sei nichts als Propaganda. Anderseits
hat sich der Dalai Lama mit seiner Ablehnung eines vollständigen Bruchs mit
China gegenüber seinen Landsleuten als Stimme der Mässigung geoutet. Es ist kein
Geheimnis, dass es auch namhafte Gruppen von Tibetern gibt, die sich von China
ganz lossagen wollen. Es könnte sogar schon so weit sein, dass in dieser Frage
der alternde Dalai Lama für junge, ungestüme Elemente unter den Tibetern nicht
mehr uneingeschränkt der Sprecher für die Ambitionen des tibetischen Volkes ist.
Würde man aufrichtig und ohne ideologische Scheuklappen nach
einer Lösung für das tibetische Volk suchen, so gäbe es eine Reihe von Modellen,
auch wenn selbstverständlich föderalistische Lösungen in einem zentralistischen
Staatsmodell, wie es der chinesischen Volksrepublik eignet, keinen Platz haben.
Unbestritten ist, dass die heutige Form des Autonomiestatuts den Tibetern nicht
ausreicht. Viele empfinden es als eine leere Formel ohne Inhalt, bleiben doch
alle Machtprärogativen Peking, das heisst der KPC vorbehalten. Die chinesische
Führung müsste schon einen riesigen Sprung über ihre eigenen Schatten wagen, um
eine tragfähige Lösung etwa nach dem Muster der Autonomien in Spanien zu wagen.
Einer raschen und nachhaltigen Lösung des Tibetproblems
stehen nicht nur die Machtansprüche Pekings und der traditionelle chinesische
Zentralismus entgegen. Wünsche nach mehr Autonomie stehen auch im Konflikt mit
dem absoluten Herrschaftsanspruch der KPC. Allein vom Wunsch nach Unabhängigkeit
betrachtet ist Tibet zusammen mit den Uiguren wohl das einzige Gebiet in der
Volksrepublik, das für eine Sezession in Frage kommt. Man kann sich in den
anderen Landesteilen, auch in der ansonsten selbstbewusstsen Provinz Guangdong
kein vergleichbares Unabhängigkeitsstreben vorstellen. Insofern müsste eine
verstärkte Autonomie für Tibet auch kein Präjudiz für andere chinesische
Provinzen schaffen.
Doch geht es der Führung in Peking nicht allein um diesen
Aspekt. Ein Einlenken gegenüber dem Dalai Lama wäre aus ihrer Sicht nicht nur
ein Eingeständnis von Schwäche, sondern auch die Akzeptanz, dass es neben der
KPC andere Machtpole geben kann und darf. Bekanntlich gibt es auch in der
Volksrepublik die sogenannten „Blockflötenparteien", wie sie in der verblichenen
DDR bestanden hatten. Niemand ausserhalb der KPC hat jedoch bei seinen Anhängern
und Gefolgsleuten die Statur, die der Dalai Lama für sich reklamieren kann. Mit
Blick auf die Polarisierung zwischen Tibetern und Han Chinesen ist der Dalai
Lama heute noch für die Mehrheit der Tibeter die unbestrittene Führungsfigur.
Die KPC wird aus deren Sicht immer nur als das Herrschaftsinstrument der Han
Chinesen betrachtet.
Bis in Peking an der obersten Führungsspitze jemand die
Zivilcourage oder auch schlicht die Einsicht hat, dass nur eine
Verhandlungslösung mit dem Dalai Lama politische und soziale Stabilität in Tibet
gewährleisten kann, wird sich nichts ändern. Dass solch eine Gesinnungsänderung
eintreten kann, muss heute als eher unwahrscheinlich betrachtet werden und die
Zeit, da mit dem Dalai Lama auf tibetischer Seite noch eine Führungsperson von
ausserordentlicher Vertrauenswürdigkeit und mit grossem Charisma zur Verfügung
steht, wird immer kürzer. Im optimistischen Falle kann man Zuversicht aus der
Tatsache schöpfen, dass auch der letzte britische Gouverneur von Hongkong, Chris
Patten, wüste Anwürfe seitens Pekings hatte einstecken müssen, nur um heute ein
gern gesehener Gast in China zu sein. Im pessimistischen Falle stehen die
Aussichten, in Tibet zu einer friedlichen Beilegung eines klassischen
Minderheitskonflikts zu kommen, heute schlechter denn je.