Fritz Keller: Das Wiener Marktamt
1938 – 1945.
(Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug
während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in
Österreich. Band 12)
Wien / München: Oldenbourg Verlag 2004.
148 S. € 27,60
ISBN: 978-3-486-56774-8.
Das vorliegende Buch ist Teil einer wesentlich
umfangreicheren Studie über das Wiener Marktamt während der NS-Zeit, die für die
Österreichische Historikerkommission verfasst wurde. Der Autor Fritz Keller war
als langjähriger Bediensteter des Wiener Marktamtes und als Historiker doppelt
dafür prädestiniert, diese Forschungsarbeit durchzuführen. Obwohl aus
Aktenbeständen viele belastende Dokumente entfernt worden waren, konnte Keller
in mühevoller Kleinarbeit die Prozesse der planmäßigen Ausschaltung jüdischer
Markthändler rekonstruieren, die den Kernbereich des vorliegenden Buches bilden.
Bereits im März 1938 wurden die jüdischen Marktfahrer, die
ihre Tätigkeit im Freien auf täglich neu zugewiesenen Plätzen ausübten, ihrer
Existenzgrundlage beraubt. Dabei stellte man sich auf den Rechtsstandpunkt, dass
eine Geschäftsabwicklung durch „nichtarische" Marktfahrer zu Störungen der
öffentlichen Ordnung führe, was nach § 16 der Wiener Marktordnung einen
Ausschluss von Marktparteien nach sich zog.
Als nächstes kamen die festen Marktstände an die Reihe. Auch
hier wurde mit der Störung der öffentlichen Ordnung argumentiert. Da Marktstände
auf der Grundlage eines Prekariums (Bittleihe) vergeben wurden, konnte die
Standbewilligung auch jederzeit ohne Angabe von Gründen entzogen werden.
Märkten als öffentlichen Wirtschaftsplätzen kam eine enorme
Symbolfunktion zu. Da mit dem Marktamt – anders als im „Altreich" – für diesen
Sektor obendrein eine zentrale Behörde mit Wirtschaftskompetenz und vielfachen
Agenden zur Verfügung stand, konnte im Marktbereich sofort nach dem „Anschluss"
bereits der Testlauf für eine administrative Enteignung beginnen. Und das noch
bevor im Mai 1938 mit der Schaffung der „Vermögensverkehrsstelle" der
bürokratische Beraubungsfeldzug zur systematischen „Arisierung" der gesamten
Wirtschaft in Angriff genommen wurde.
Auffallend war, dass jene Maßnahmen vielfach von den noch vom
Ständestaat eingesetzten Amtswaltern exekutiert wurden. Deren Willfährigkeit
nützte ihnen aber nichts; kurz darauf wurden sie aus ihren Funktionen entfernt
und durch überzeugte Nationalsozialisten ersetzt.
Keller ermittelte eine Zahl von insgesamt 498 aus „rassischen
Gründen" entzogenen Marktständen, bzw. vom Geschäftsbetrieb ausgeschlossenen
jüdischen Händlern – mit dem prozentuell höchsten Anteil am Zentralviehmarkt
St.Marx. Für die Opfer war es erst der Beginn einer Odyssee, die im schlimmsten
Fall in den Vernichtungslagern endete.
Wer aber glaubt, dass überlebende und rückkehrende
Markthändler nach 1945 zu ihrem Recht kamen, der täuscht sich. Die Nutznießer
der „Arisierungen" und Nachfolger als Standbenützer argumentierten damit, dass
sie kein Unternehmen mit Aktiva und Passiva übernommen, sondern lediglich vom
Marktamt einen Stand zur Benutzung zugewiesen bekommen hätten, daher auch keine
Rechtsnachfolger der Vertriebenen seien. Auch die Behörde stellte sich auf den
Standpunkt, dass „Arisierung" und damit ein restitutionswürdiger Vorgang nur
dann vorliege, wenn jüdisches Vermögen ohne Vermittlung des Marktamtes von einem
„Ariseur" direkt entschädigungslos enteignet oder durch einen von der
Vermögensverkehrsstelle eingesetzten kommissarischen Verwalter abgewickelt
worden sei. Die Opfer von 1938 konnten sich also lediglich als Bittsteller in
der Hoffnung auf neuerliche Zuweisung eines Standes an das Marktamt wenden, das
ihnen deutlich zu spüren gab, dass eine solche Vergabe im „freien Ermessen der
Stadt Wien" liege.
Für das System von Abhängigkeiten und Verbindlichkeiten
zwischen Händlern und Beamten kreiert Fritz Keller den Begriff der
„Marktgemeinschaft", die, wohl analog der Volksgemeinschaft die NS-Zeit,
überdauert habe. Besonders auffällig war das bei der Entnazifizierung der
Märkte. Die Standentziehungsverfahren gegen NSDAP-Mitglieder wurden äußerst
hinhaltend behandelt und dort, wo sie nicht verhindert werden konnten, vielfach
durch Umschreibung auf weniger belastete Familienmitglieder geregelt.
Zurückgekehrte jüdische Markthändler hingegen konnten weniger
oft mit einem solchen Entgegenkommen rechnen. Dieses österreichische
Sittengemälde unretuschiert freigelegt zu haben, ist das große Verdienst von
Fritz Keller, der mit der vorliegenden Detailstudie für die Erforschung der
Geschichte des Wiener Marktwesens Pionierarbeit geleistet hat.