DIE VIERTE GEMEINDE
Evelyn Adunka: Die Wiener Juden
in der Zeit von 1945 bis heute,
Philo-Verlag Berlin 2000, 568 Seiten.
öS 576.-
ISBN 3-8257-0163-8
Evelyn Adunka hat eine Arbeit über die Wiedererrichtung der jüdischen
Gemeinde in Wien nach 1945 vorgelegt. Sie ist chronikartig geschrieben
und erlaubt dem Leser einen guten Ein- und Überblick über die
Entwicklung dieses vierten jüdischen Gemeindewesens. In manchen nostalgischen
Momenten mag man sich erinnern, wie schwer und schwierig diese Zeit gewesen
ist und man dennoch unbeirrt an den Neubeginn heranging und an den Weiterbestand
glaubte.
Die ersten Schritte zum Wiederaufbau dieser Gemeinde taten Männer
und Frauen, die als "Geltungsjuden", als jüdische Mischehepartner,
als "U-Boote" oder als Bedienstete des Ältestenrates der
Juden den Holocaust in Wien überlebt hatten. Unter größten
Schwierigkeiten, - es gab keine Fahrzeuge, keine geordnete Lebensmittelversorgung,
tagelang kein Gas und zeitweilig auch keinen elektrischen Strom - gingen
sie daran, die noch bestehenden Institutionen (Altersheim und Spital)
der ehemaligen Kultusgemeinde in Betrieb zu halten, das Altkleiderlager,
das Archiv und alle schriftlichen Unterlagen zu sichern. Sie sorgten für
die elementarsten religiösen Bedürfnisse der Gemeinschaft und
trafen auch Vorkehrungen, die Rückkehrer aus den KZ-Lagern und aus
der Emigration in Rückkehrerheimen unterzubringen. Ungeachtet vieler
Widerwärtigkeiten und aller Schwierigkeiten, trotz mancher Missgeschicke
und Rückschläge setzten alle gemeinsam ihre volle Kraft ein,
diese einstige stolze und auch angesehene Gemeinde wieder zu einem selbstbewussten
jüdischen Gemeinwesen aufzubauen.
Der Glaube an eine neue jüdische Gemeinde war stark. Man arbeitete
hart, alles musste schwer erkämpft werden. Denn von Seiten des Staates
wurde in diesen Nachkriegsjahren fast nichts und von Seiten der Stadt
Wien, der es selbst an allem mangelte, nur sehr wenig getan, den Rückkehrern
ein Obdach zu verschaffen, sich eine Existenz aufzubauen oder eine Arbeit
zu finden. Ohne die Hilfe des Joint, der damals monatlich Lebensmittel
an die Gemeinde-Mitglieder verteilen ließ, wäre es nicht möglich
gewesen, den ersten harten Winter von 1945/46 zu überstehen.
Die Kultusgemeinde - eine Institution öffentlichen Rechts - stand
praktisch im Sommer 1945 ohne Leitung da. Unterstaatssekretär Ernst
Fischer, Chef der vorgesetzten Behörde, setzte daher zur Absicherung
einer geregelten Religionsausübung David Brill kommissarisch als
Präsidenten ein. Neuwahlen erfolgten im Frühjahr 1946. Ob hinter
Fischers Anordnung eine politische Absicht verborgen lag, den Kultusvorstand
kommunistisch zu durchsetzen, mag dahin gestellt bleiben.
Der Vorstand der Kultusgemeinde wurde damals von drei Parteien beherrscht:
Zionisten, Kommunisten und Sozialdemokraten. Von allen jüdischen
Gruppierungen stellten die Zionisten die stärkste Fraktion. Sie hätten
von Anfang an federführend sein können, wenn sie nicht so in
sich zersplittert gewesen wären. Daher gelang es dem Bund werktätiger
Juden, der nicht zionistisch, aber pro-israelisch eingestellt war, die
führende Position zu erobern. Ab 1948 gab er die richtungsweisende
Linie an. Bis in die siebziger Jahre konnte er die Mehrheit im Kultusvorstand
behaupten, ihm ist die Konsolidierung der Finanzgebarung der Kultusgemeinde
sowie der Abschluss des Bundesgesetzes vom 26.10.1960 über die finanziellen
Leistungen der Republik Österreich an die IKG zu verdanken. Diese
jährliche Finanzleistung der Republik umfasst neben der fixen Zahlung
von ATS 900.000,- auch die Gelder für die Entlohnung von 23 Beamten
(Klasse A, 4. Dienstjahr) und stellt damit eine fundamentale Einnahmequelle
dar. Unter der Ägide der werktätigen Juden wurden auch die meisten
Wiedergutmachungsgesetze abgeschlossen Die Entschädigungssummen waren
wesentlich geringer als die der BRD. Eines sollte man jedoch nicht vergessen,
sie kamen vielen Menschen noch zu ihren Lebzeiten zugute.
In schwierigen Zeiten wie der Suez-Krise 1956, die zeitlich mit dem Aufstand
in Ungarn zusammenfiel, wie auch während des Sechstage-Krieges 1967
und des Jom-Kippur-Krieges 1973 stand die gesamte jüdische Gemeinde
geschlossen hinter Israel. Nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes
kamen fast 30.000 Juden als Flüchtlinge nach Österreich. Die
große Mehrheit emigrierte weiter, aber einige Tausend verblieben
hier und verstärkten den Bestand der Gemeinde. Zuwanderungen erfolgten
auch aus Polen und der Tschechoslowakei 1968. Seit den siebziger Jahren
wanderten stets russische Juden zu, die heute einen sehr bedeutenden Anteil
am Gemeindeleben nehmen.
Kontroversen zwischen Zionisten und Werktätigen gab es zumeist wegen
der Nichtgewährung von Subventionen an so manche Vereine und an die
Hebräische Schule. Die IKG war ab Mitte der sechziger Jahre nicht
mehr gewillt, diese Schule zu subventionieren. Den Zionisten wurde sogar
vorgeworfen, wegen der Erhaltung "kostspieligen Dilettantismus"
zu betreiben. Denn es sei wahrlich ein Luxus, für weniger als fünfzig
Kinder eine Volksschule zu erhalten, von denen lediglich die Hälfte
der IKG angehörten. Anders läge der Fall bei einer jüdischen
Schule. Heue gibt es drei jüdische Schulen in Wien.
Im vorgelegten Geschichtswerk hat die Autorin versucht, alle Bereiche
eines jüdischen Gemeinwesens zu erfassen. Bei einem so großen
Vorhaben kann es natürlich vorkommen, dass manches unerwähnt
bleibt oder unbeabsichtigt übersehen wird. Es mag sein, dass die
Orthodoxie etwas zu kurz kam. Aber im großen und ganzen kann man
sagen: Die Autorin hat mit der Geschichte "Der Vierten Gemeinde"
eine hervorragende Pionierleistung erbracht.
Jonny Moser