Doron Rabinovici
Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat
Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 2000
495 Seiten, ÖS 364,-
Der Wiener Schriftsteller und Publizist Doron Rabinovici, der
nicht nur mit seinen literarischen Texten, sondern auch durch seinen
wortstarken Widerstand gegen Waldheim und Haider bekannt wurde,
ist in einem weiteren Teil seines intellektuellen Lebens auch Historiker.
Im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag erschien
nun die überarbeitete Fassung seiner Dissertation, die sich
einem besonders schwierigen und heiklen Kapitel der jüdischen
Zeitgeschichte stellt. Rabinovici hat als Jude genug Sensibilität
und Einfühlungsvermögen und als Nachgeborener genug Distanz,
um diese besonders schmerzhafte Geschichte zu schreiben. Im Gegensatz
zu vielen Überlebenden und persönlich Betroffenen klagt
er die jüdischen Funktionäre nicht an, versagt oder mit
den Nazis zusammengearbeitet zu haben und damit selbst an der Vernichtung
der ihnen anvertrauten Gemeindemitglieder mitschuldig geworden zu
sein, sondern er versucht, sich in die Situation der damals handelnden
jüdischen Funktionäre hineinzuversetzen.
Deutlich wird als Fazit des Buches, daß die
Funktionäre in ihrer Ohnmacht und verzweifelten Hoffnung nicht
sehr viel anders handeln und reagieren konnten, als sie es taten.
Als beispielsweise die Nazis die Kultusgemeinde
um die Bereitstellung jüdischer Ordner für die sogenannten
Aushebungen bat, weigerte sich Löwenherz zunächst, welche
bereitzustellen. Vor die Alternative gestellt, diese durch die brutale
HJ durchführen zu lassen, entschied er sich dann doch dafür.
Biographisch behandelt Rabinovici vor allem den
langjährigen zionistischen Vizepräsidenten, Amtsdirektor
und von den Nazis eingesetzten Leiter der Kultusgemeinde Josef Löwenherz,
der in dieser Funktion bis zur Befreiung in Wien blieb. Er wanderte
danach zurück zu seinen Kindern in die USA aus, kehrte nie
mehr nach Wien und starb 1961 kurz bevor er im Eichmann Prozeß
in Jerusalem hätte aussagen sollen. Ein weiteres, sensibel
geschriebenes Kapitel widmet sich der Person des Rabbiners und jüdischen
Gelehrten Benjamin Murmelstein, der in der NS-Zeit als Leiter der
Auswanderungsabteilung der Kultusgemeinde in Wien und 1944 als "Judenältester"
von Theresienstadt eingesetzt wurde. Rabinovici weist nach, daß
er im Gegensatz zu seinen späteren Behauptungen sehr wohl mehrfach
versucht hatte, zu emigrieren. Rabininovici beschreibt seine Verwandlung
mit den Worten: "Aus dem Gelehrten entwickelte sich ein Administrator,
aus dem Intellektuellen ein Bürokrat, aus dem Gottesmann ein
Manager im Elend."
1945 wurde über Murmelstein in der Tschechoslowakei
die Untersuchungshaft verhängt, aber er wurde nicht angeklagt
und nach 18 Monaten freigelassen. Bis zu seinem Tod 1989 lebte er
als Möbelverkäufer in Rom, nachdem seine Bewerbung als
Rabbiner von Triest gescheitert war, worüber es widersprüchliche
Begründungen gibt. Gerüchte über seine angebliche
Taufe entsprachen nicht der Wahrheit.
Das Wiener System der Vertreibung, Beraubung und
Vernichtung der Juden war in vielem ein Modell und wurde danach
von den Nazis in den anderen großen jüdischen Gemeinden
wie Prag oder Berlin kopiert. (Einer der "Ausheber" in
Wien, der auch nach Berlin geschickt wurde, war der Dichter und
Conferencier Walter Lindenbaum, von dem Rabinovici auch ein rührendes,
ironisches Gedicht über diese Tätigkeizitiert.) Wie in
Berlin gab es auch in Wien jüdische Gestapospitzel, deren Biographie
jedoch im Gegensatz zu jener von Stella Goldschlag in Berlin nicht
so genau rekonstruierbar ist. Rabinovicis nach langem Nachdenken
formulierte Antwort auf die offensichtlichen Fragen (und damit auch
auf Hannah Arendts undifferenzierte Beschuldigungen der jüdischen
Funktionäre in ihrem Buch "Eichmann in Jerusalem")
lautet: Die jüdischen Funktionäre waren jeweils bereit
gewesen, einige wenige mehr zu opfern, um viele zu retten, und retteten
bloß einige wenige, indem sie letztlich viele, die meisten
opferten. Sie konnten keine richtige Wahl treffen...Was wäre
geschehen, wenn die Kultusgemeinde im Moment der Deportation alle
Kooperation eingestellt hätte? Die Verschleppung wäre
nicht so reibungslos und ruhig, sondern ungeordnet, wohl mit Hilfe
staatlicher und parteieigener Einheiten auch wilder und brutaler
abgelaufen, aber gewiß hätten sich die Wiener Juden nicht
retten können. Alle Listen und Karteien waren bereits in den
Händen staatlicher Stellen. Die Verwaltung lieferte bereits
1940 die Kartei ihrer Mitglieder aus, weil ihr erklärt worden
war, sie werde zur Ausstellung der Lebensmittelkarten benötigt."
Aus: Keschet, 6. Jg, Nr. 2, Aug/Oktober 2000
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