DREI JAHRE IN DER NACHRICHTENZENTRALE DES FÜHRERHAUPTQUARTIERS
Alfons Schulz
Stein am Rhein: Christiana-Verl.
2. Aufl. 1997,
286 Seiten, DM 19,80.-
ISBN 3- 7171-1028-4
Alfons Schulz berichtet im vorliegenden Buch über
seine Erlebnisse als Soldat der Wehrmacht in der Nachrichtenzentrale des
Führerhauptquartiers "Wolfsschanze" (Jänner 1942 bis April 1945). Die
Kurzbeschreibung des Verlags spricht dem Buch von Schulz "historische
Bedeutung" zu und sieht in dem "Tatsachenbericht eines Insiders" ein
"Stück Zeitgeschichte" respektive "ein Stück erlebter Weltgeschichte aus
erster Hand". Faktum ist: Es handelt sich nicht um die analytische Studie
eines Zeithistorikers, sondern um die Wiedergabe persönlicher Eindrücke
aus relativ großer zeitlicher Distanz.
Der Autor: "Wohl hielt ich in den ersten
Nachkriegsjahren viele Vorträge in den verschiedensten Gruppen über den
Nationalsozialismus, aber allmählich nahmen Studium, Beruf und Familie
mich voll und ganz in Anspruch. Erst nach meiner Pensionierung begann ich
mit den Vorarbeiten zu diesem Buch" (S. 262). Somit ist die Publikation
von Schulz als subjektive, doch (sehr) engagierte Auseinandersetzung mit
dem verbrecherischen NS-Regime anzusehen. Dass freilich etliche Fragen
offen bleiben, tut dem Leitgedanken - Demaskierung des Hitlerregimes und
Warnung - keinen Abbruch. Anders ausgedrückt: Hier wurden die persönlichen
- und somit zwangsläufig subjektiven - Erinnerungen eines Betroffenen zu
Papier gebracht (die im Detail unüberprüfbar bleiben).
Der Autor schildert, wie in der deutschen Wehrmacht "aus Zivilisten
Menschen, das heißt für jeden nur denkbaren militärischen
Fall brauchbare Soldaten" wurden. Der "Umzuformende" musste
vor allem "einsehen", dass er "ein Nichts, auf jeden Fall
kein Mensch im militärisch definierten Sinne" wäre. Schulz
fortfahrend: "Als Mittel zum Zweck dienten da ausgeklügelte,
anscheinend in allen Armeen der Welt bekannte, Drill- und Schikanenmethoden".
Der "Schliff", so der Autor, "war mörderisch"
und der Rekrut wusste nicht, ob er "überhaupt noch ein Mensch
war" (S. 12). Und vor allem - er sollte keine Zeit zum Nachdenken
finden. Die Schleifer "ließen keinem Zeit zur Besinnung"
(S. 13). So auch (anscheinend) nicht, um den Eid zu reflektieren, der
schon zwei Wochen nach Ausbildungsbeginn zu leisten war: Der Eid auf Adolf
Hitler, dem als "obersten Befehlshaber der Wehrmacht" die jungen
Soldaten "unbedingten Gehorsam leisten" mussten (S. 14).
Die Erinnerungen von Schulz werden somit gleichsam zu einem Plädoyer
für eine militärische Kultur, in der die Menschenwürde
geachtet wird und deren Ausbildung auch auf Charakterbildung abzielt..
Mit Fortschreiten des (für Hitlerdeutschland immer katastrophaler
verlaufenden) Krieges manifestierte sich indessen ein stärkeres "Miteinander"
quer durch die verschiedensten militärischen Dienstgrade (im Führerhauptquartier).
Schulz: "Ein weiteres Phänomen zeigte sich in einem von den
oberen Rängen ausgehenden engeren Zusammenrücken von Offizieren,
Unteroffizieren und Mannschaften. Die ersteren luden uns zu gemeinsamem,
freiwilligem Frühsport und privaten Feiern ein." Und der Autor
zieht die Schlussfolgerung: "Dieses plötzliche enge Miteinander
erinnerte irgendwie an Gruppen, die sich bei Gefahren unwillkürlich
zusammenschließen. Ging die Angst vor einem bösen Ende schon
im Hauptquartier um?" (S. 167).
Doch der Autor selbst wahrte seine kritische Distanz zum Nationalsozialismus,
die namentlich religiös (christlich-katholisch) motiviert war. Im
(kleinen) Kreise Gleichgesinnter wurde ein offener Gedankenaustausch gepflegt.
Schulz erzählt weiters von überzeugten Christen, die auch dem
(Psycho).
Druck seitens ihrer militärischen Vorgesetzten standhielten. Sie
weigerten sich, auf den Eintrag ihrer Konfession und ihres Theologiestudiums
im Soldbuch zu verzichten - dies hätte ihnen die Offizierslaufbahn
ermöglicht. Auch für überzeugte Christen erschien die Zukunft
im "Dritten Reich" in einem düsteren Licht. Schulz berichtet
von (auf Wunsch Hitlers) ausgearbeiteten Plänen, "in denen nach
dem 'Endsieg' alle Kirchen geschlossen und der gesamte Klerus nebst engagierten,
führenden Laien in Konzentrationslagern 'umzuerziehen' seien"
(S. 191f).
Ein persönlicher Schicksalsschlag ließ den Soldaten Schulz
für kurze Zeit seine Ablehnung des verbrecherischen Regimes vergessen
und selbst zum Fanatiker werden. Der Autor: "Zu dieser Zeit war ich,
vielleicht zu sehr aus der Bahn geworfen durch den jähen Tod meiner
Freundin Ruth bei einem Bombenangriff, wohl nicht ganz zurechnungsfähig.
Denn ich meldete mich, wohl noch unter dem Schock stehend, freiwillig
zu einer Flammenwerfergruppe, die für Sondereinsätze ausgebildet
wurde. Das war ein sogenanntes 'Himmelfahrtskommando'" (S. 22). Zum
Glück für den Autor wurde seine freiwillige Meldung abgelehnt.
Diese Episode sollte vielleicht generell zum Nachdenken über die
Wirksamkeit des Luftkrieges anregen. Denn Bomben treffen (vor allem?)
auch die Seelen.
In seinem Buch befasst sich Schulz eingehend mit der Person Adolf Hitlers.
Er schildert beispielsweise Hitlers Geburtstagsfeiern im Führerhauptquartier,
"die selbst, verglichen mit den Geburtstagszeremonien 'gekrönter
Häupter', an Aufwendigkeit und Glanz alles übertrafen".
Im Rahmen einer solchen medienwirksamen "Show" wurde Hitlers
"väterlich-fürsorglicher" Charakter hervorgestrichen,
wobei (auf medienwirksame Weise) Kinder als Statisten zum Einsatz kamen
(oder besser: missbraucht wurden). "Kinder sangen und überreichten
Blumen, Hitler strich bei dieser Gelegenheit einigen von ihnen über
das Köpfchen oder nahm sogar, welch unvorstellbare Ehre für
die ganze Familie, ein kleines Mädchen auf den Arm und streichelte
sein Gesicht" (S. 94).
Später sollte eben dieser "väterlicher Führer"
- angesichts des bevorstehenden militärischen Zusammenbruchs - den
"Befehl zur Vernichtung der Lebensgrundlagen des deutschen Volkes
im eigenen Land" erteilen. Diesen Befehl begründete Hitler mit
menschenverachtendem Zynismus: "Ein Volk, das unter meiner Führung
nicht zu siegen versteht, ist nicht wert, weiter in der Geschichte zu
existieren. Ein stärkeres und besseres möge seinen Platz einnehmen"
(S. 134). Schulz stellt die nicht unberechtigte Frage: "Ließ
er den Kampf letztlich nur noch um seiner selbst willen führen? Sollte
auch dieser Kampf die Legende vom heldenhaften Untergang eines Volkes,
das sich seines von der Vorsehung gesandten einmaligen Führers als
nicht würdig erwiesen hatte, untermauern?" (S. 153). Wäre
es jedenfalls nach Hitler gegangen, "gäbe es heute auch keine
Deutschen mehr" (S. 171). Ein Faktum, das heute von vielen neonazistisch
angehauchten (Deutsch-)Nationalisten wohl erfolgreich verdrängt wurde.
Schulz beschreibt Hitler als den hinlänglich bekannten Ignoranten
auf dem Gebiet der Kriegführung. Seit Ende 1942 griff Hitler immer
stärker auf dem Wege direkter Weisungen in die Operationen von Armeen,
Divisionen und selbst Regimentern ein. Vor allem in seiner Endphase, so
Schulz, wurde der Krieg (von deutscher Seite) "nur noch taktisch
geführt". Das strategische Element fehlte seit diesem Zeitpunkt
vollkommen. Nach Meinung von Schulz, wurden die Armee- und Divisionskommandeure
(auf Führerbefehl hin) bewusst über die Gesamtlage im Unklaren
gelassen. "Sie waren, dem Wunsch Hitlers entsprechend, ausschließlich
über die Lage ihres begrenzten Frontabschnittes informiert"
(S. 74). Beklemmend auch die Servilität selbst höchster Offiziere
der Wehrmacht gegenüber dem "Führer" und dessen verbrecherischen
(militärisch unsinnigen) Befehlen. Als an allen Fronten der endgültige
Zusammenbruch drohte und in Westen die Alliierten auf deutsches Territorium
vorstießen, verlangte ein neuer Führerbefehl "Fanatismus
und Glauben" statt "Waffen und Nahrung". Wörtlich
hieß es: "... Jeder Bunker und Unterstand, jede Stadt und jedes
Dorf müssen zu einer Festung werden, gegen die sich der Feind den
Kopf einrennt oder in der die deutsche Besatzung im Kampfe Mann gegen
Mann untergeht ..." Daraufhin opferten namentlich die "immer
noch gläubigen" Hitlerjungen "noch zu Tausenden sinnlos
ihr Leben für diesen billigen Sprücheklopfer" (S. 199).
Dass der Autor offensichtlich selbst dem Wahn (vorübergehend) zum
Opfer fiel und mit der Begründung, er wolle "dem Führeraufruf
folgend, bis zum letzten Blutstropfen die Heimat mit der Waffe verteidigen"
(S. 200) ein Versetzungsgesuch an die Front einreichte, mag zu denken
geben. Schon in Zusammenhang mit Goebbels suggestiver Rede über den
"Totalen Krieg" (Februar 1943) im Berliner Sportpalast hatte
Schulz das deutsche Volk mit "Lemmingen" verglichen, "die
unter einem selbstmörderischen Vernichtungstrieb" stehend sich
widerspruchslos aufmachten, "ins 'Reichsfamilienheldengrab' zu marschieren"
(S. 147). Im Krieg schweigt der Verstand.
An anderer Stelle setzt sich der Autor mit Hitlers rachedurstigem Charakter
auseinander. So wurde nach der italienischen Kapitulation 1943 eine Tochter
des Königs von Italien (Prinzessin Mafalda) auf Hitlers Befehl gemeinsam
mit ihrem Gatten (Prinz Philipp von Hessen) verhaftet und in ein Konzentrationslager
eingeliefert. Die Prinzessin ist im KZ ums Leben gekommen. Schulz: "Das
war Hitlers Rache am König!" (S. 157). Und Schulz an anderer
Stelle: "Ein immer wiederkehrendes Merkmal Hitlers war, dass er an
seinen Gegnern grausamste Rache übte" (S. 190). So nahm er beispielsweise
an allen "Beteiligten, Mitwissern, oft auch nur Verdächtigen"
in Zusammenhang mit dem Anschlag von Graf Stauffenberg (1944) brutale
Rache. "Ihre Familien ließ er 'in Sippenhaft' nehmen und in
Konzertrationslager einliefern. Die Kleinkinder dieser 'Volksverräter'
wurden den Eltern aberkannt und in nationalsozialistisch zuverlässige
Familien zur Erziehung eingewiesen" (S. 189f). Die Drohung mit Repressionen
gegen Angehörige sollte auch die ("einfachen") Soldaten
an den endgültig zusammenbrechenden Fronten zum (sinnlosen) Widerstand
zwingen. Anfang März 1945 wurde ein neuer "Führererlass"
publik gemacht, "wonach kein Soldat unverwundet in die Hände
des Feindes fallen durfte; seine Angehörigen würden sonst dafür
zur Rechenschaft gezogen" (S. 212).
Schulz thematisiert auch den Massenmord an jüdischen Menschen. Meldungen
über den Holocaust durften auf Weisung Bormanns nur schriftlich per
Kuriere übermittelt werden. Ein Kamerad von Schulz soll ungewollt
Zeuge eines bezeichnenden Gespräches zwischen Bormann und Himmler
geworden sein: "In der fraglichen Nacht hatte er ein Gespräch
zwischen Himmler und Bormann mitgehört. In diesem brachte der Reichsführer
der SS dem Reichsleiter Bormann eine 'erfreuliche Nachricht aus Auschwitz',
wie er sagte, für den Führer. Wieder seien, ganz planmäßig,
dort 20.000 Juden 'liquidiert', 'äh', verbesserte er sich umgehend,
'evakuiert' worden." Bormann reagierte äußert gereizt
und hätte Himmler darauf hingewiesen, "dass solche Meldungen,
wie ausgemacht, nur schriftlich durch Kuriere, gestellt von Offizieren
der SS, ihm persönlich zur Weiterleitung an den Führer zugestellt
werden dürften". Und Bormann "verbat sich energisch jegliche
weitere Benachrichtigung über dieses Thema auf anderen Wegen"
(S. 98).
Der Autor spricht von einer nahezu perfekten Geheimhaltung des Völkermordes.
Im Wortlaut: "Konkrete Fakten kannte niemand. Nach dem, was wir heute
darüber wissen, scheint es auch für einen, der nicht zur SS
gehörte, kaum möglich gewesen sein, etwas Näheres zu erfahren.
Zufallszeugen wurden unverzüglich für immer zum Schweigen gebracht."
- Diese Behauptung von Schulz scheint wohl mehr als problematisch. Jedenfalls
steht fest, dass die Verfolgung und der Abtransport von (nicht nur jüdischen)
Opfern des Naziregimes sich durchaus nicht im Geheimen abspielten. - Nur
der rasche Vormarsch der alliierten Truppen im Jahre 1944 ermöglichte
es, so Schulz weiter, "das unvorstellbare Ausmaß dieser Verbrechen
in diesen Stätten des Grauens wenigstens zum größten Teil
aufzudecken" (S. 99).
Durfte über die eigenen Massenmorde "kein noch so kleiner Hinweis
in die Öffentlichkeit dringen", wurden die "Stalinistischen
Säuberungen" (die ab Mitte der 30er Jahre eingesetzt hatten)
von den Nationalsozialisten propagandistisch ausgeschlachtet. In der besetzten
Ukraine wurden mehrere hundert verscharrte Leichen (Opfer des Stalinistischen
Terrors) exhumiert. "Nach altbewährtem Muster wurden die Verbrechen
der anderen angeprangert, um damit von den eigenen abzulenken" (S.
125).
Schulz verschweigt jedoch keineswegs, dass nicht nur von deutscher Seite
Kriegsverbrechen verübt wurden. Die folgenden Eindrücke sprechen
für sich: "Entsetzt stand ich allerdings beim Anblick der vielen
Opfer unter der Zivilbevölkerung, an denen die Sowjets sich in unvorstellbar
grausamer Weise gerächt hatten. Die Leichen geschändeter und
entsetzlich verstümmelter Frauen und Kinder sowie einiger Männer
ließen uns erstarren." Die Konsequenzen, die sich aus Hitlers
Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion nun für das deutsche Volk
ergaben, waren grauenvoll. Schulz weiter: "Der Sturm des Hasses,
den Hitler gesät hatte, kehrte nun als Orkan vernichtend und ohne
Unterschied über Mitschuldige und Unschuldige zurück und forderte,
vor allem mit Beginn des letzten Kriegsjahres, Hekatomben an Opfern in
der Zivilbevölkerung" (S. 202). Der Autor schildert ferner die
Zustände in alliierter (amerikanischer) Kriegsgefangenschaft, die
Verletzungen der Genfer Konvention darstellten. Als sich ein kriegsgefangener
General bei einem amerikanischen Major über die schlechte Behandlung
beschwerte, "musste der fast Siebzigjährige fünf Stunden
lang mit erhobenen Armen am Eisentor stehen". Schulz fährt fort:
"Die folgenden Tage und Wochen zeigten allerdings, dass dieser Major
anscheinend diese Maßnahmen am ersten Tage auf Anweisung von 'oben'
und gegen seinen Willen durchgeführt hatte" (S. 234). Offensichtlich
gab es nicht nur in der deutschen Wehrmacht Offiziere, die gegen ihr Gewissen
handelten, um eine vermeintliche "Pflicht" zu erfüllen
...
Adolf Hitler, der seinem Größenwahn Millionen Menschen geopfert
hatte und wiederum Millionen aus rassistisch-ideologischen Gründen
ermorden ließ - der "Führer", nach dessen (in den
meisten Fällen allerdings hintertriebenen) "Nerobefehl"
eine zurückweichende Truppe "vorher alle Lebensgrundlagen des
Gebietes, wie Wasserwerke, Brücken, aber auch alle Häuser zu
zerstören und für immer unbrauchbar zu machen" hatte (S.
212), zog sich letztlich durch Selbstmord feige aus der Verantwortung.
Doch bis zum Schluss wurde die "heroische" Hitlerlegende von
der NS-Propaganda genährt. Die Bekanntgabe von Hitlers Tod (Rundfunkmeldung
vom 1. Mai 1945) wurde zugleich zur letzten unfassbaren Lüge des
NS-Regimes: "Aus dem Führerhauptquartier (...) wird gemeldet,
dass unser Führer Adolf Hitler heute Nachmittag in seinem Befehlsstand
in der Reichskanzlei bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend,
für Deutschland
gefallen ist ..." (S. 225).
Angesichts der nicht gerade beruhigenden Tatsache, dass die "Hitlerlegende"
gerade in den heutigen Tagen (als "esoterische" Science Fiction-Story)
eine Art Renaissance erlebt, erscheinen die Erinnerungen von Alfons Schulz
- trotz Vorbehalten - als besonders lesenswert. Wie der Autor akzentuiert,
wurden die Zeilen eines Gedichtes von Erich Kästner zum Leitspruch
für sein Handeln nach dem Krieg: "... und nie mehr schweigen,
wenn wir reden müssen" (S. 274). Worte, die voll zu unterstreichen
sind.
Hubert Michael Mader
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