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GEWALTERFAHRUNG UND UTOPIE


Victor Karady
Juden in der europäischen Geschichte.
Reihe Europäische Geschichte.
Frankfurt a.M. Fischer
1999. 303 Seiten.
DM 24,90.-
ISBN: 359660 1592

Alfred Gerstl

Die "letztlich einzigartige Stellung", welche die Juden in der Geschichte Europas einnehmen, ist es, mit der Victor Karady die Aufnahme seines Buches in die Reihe "Europäische Geschichte" des Fischer Verlages rechtfertigt. Einzigartig aus mehreren Gründen: Die Juden - im neuzeitlichen Europa die bedeutsamste Ethnie ohne eigenen Staat - formten eine Gemeinschaft mit einer spezifischen Lebensweise, mit einem eigenen kulturellen Universum.

Bis in die Neuzeit basierte die jüdische Identität dabei in der Selbstidentifikation wie in der Fremddefinition ausschließlich auf der Religion. Auch wenn es andere Völker gab und gibt, denen "Andersartigkeit" vorgeworfen wurde und die in Europa verfolgt wurden, so ist und bleibt der Holocaust ein Ereignis von historisch einzigartigen Ausmaßen. Aber auch die lange Dauer der Dämonisierung allen Jüdischens ist in der Geschichte ohne Parallelen. Karady meint gar: "Die ganze europäische Zivilisation ist - in vieler Hinsicht bis heute - von den antijüdischen Spuren der christlichen Kultur durchdrungen, die den anormalen oder 'außernormalen' Charakter der jüdischen Identität behauptet." Und schließlich wäre da noch der überdurchschnittlich große Einfluß der Juden an der Ausbildung der modernen kapitalistischen Industriegesellschaften. Diesem Aspekt spürt der Autor im Großteil des vorliegenden Buches nach.
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts spielten die Juden kollektiv besehen keine Rolle als handelnder Akteur. Dies änderte sich erst mit der Entstehung der modernen (westeuropäischen) Nationalstaaten. Wie keine andere Bevölkerungsgruppe profitierten Juden von der Befreiung der Wirtschaft aus den feudalistischen Fesseln, der Abschaffung des Zunftwesens und der Laizisierung der Gesellschaft. Erfolg konnte aufgrund der individuellen Leistung, nicht aufgrund des Vorrechts der adeligen Geburt errungen werden. Dank ihrer seit jeher positiven Einstellung zur Bildung nutzten Juden die Chancen, die sich im Wirtschaftsleben boten, besser als andere. Dennoch blieben zahlreiche gesetzliche und ungeschriebene Regulierungen aufrecht, was einerseits Juden von vielen Berufen fernhielt, andererseits den hohen Anteil von Juden in "freien" Berufen wie Medizin, Journalismus, Handel erklärt. Auf welche sonstigen Hürden Juden bei ihrer Emanzipation in den einzelnen Ländern stießen, schildert Karady in einem kurzen Überblick.

Freilich veränderte der sozioökonomische Aufstieg vieler Juden auch deren Einstellung zu ihrer Religion, ja zu ihrem Judentum. Kein Wunder, dass Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche betont religiös und zionistisch geprägte jüdische Organisationen entstanden - als Reaktion auf die vielfältigen Assimilierungsbestrebungen, aber auch als Antwort auf den immer stärker spürbaren Antisemitismus. Karady malt ein ausführliches Bild dieses breiten Spektrums an jüdischen Organisationen, die orthodoxe wie jüdisch-nationale, liberale wie utopische Ziele erstrebten. Weiters befasst er sich mit der Theorie und Praxis des Antisemitismus, der sich im Laufe der Zeit von einem religiös, später ökonomisch fundierten zu einem Rassenantisemitismus wandelte. Abschließend behandelt er das jüdische Leben in West- und Osteuropa nach dem Holocaust.

Wie dieser kurzer Überblick über "Gewalterfahrung und Utopie" zeigt, werden viele Themen und Entwicklungen in diesem Buch nur kurz angerissen. Doch in dessen Charakter als einführende sozialgeschichtliche Zusammenschau des jüdischen Lebens im modernen Europa liegt die Stärke des Buches von Victor Karady. An besonderen Aspekten Interessierte finden im Literaturverzeichnis Anregungen zum Weiterlesen.

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