Marsha L. Rozenblit
Reconstructing a National Identity: The Jews of Habsburg Austria
During World War
Oxford New York: Oxford University Press, 2001; 252 Seiten,
2 Karten, 11 Photos, Quellen- und Literaturverzeichnis, Register;
ISBN 0-19-513465-6.
David Rechter
The Jews of Vienna and the First World War
London Portland, Oregon: The Littmann Library of Jewish Civilization,
2001;
218 Seiten, Quellen- und
Literaturverzeichnis, Register;
ISBN 1-874774-65-x.
In jüngster Zeit sind gleich zwei Bücher von renommierten
Autoren über Österreichs Juden im Ersten Weltkrieg erschienen.
Sie sollen hier gemeinsam besprochen werden, zumal sie trotz
einiger Überschneidungen durchaus unterschiedliche Aspekte
des Themas behandeln.
Marsha L. Rozenblit, Professorin für Neuere Jüdische
Geschichte an der University of Maryland in College Park, ist Vielen
durch ihr Buch über die Juden Wiens bekannt (deutsch erschienen
im Böhlau-Verlag 1989 unter dem Titel Juden in Wien 1867-1914:
Assimilation und Identität). In ihrem neuen Buch, Reconstructing
a National Identity, untersucht sie die Geschichte und das Schicksal
der Juden in Österreich im Ersten Weltkrieg. Im Vordergrund
steht der "cis-leithanische" Teil der Donaumonarchie;
Ungarn bleibt weitgehend ausgeklammert. Wie schon der Titel andeutet,
geht es nicht zuletzt um die Frage der jüdischen Identität
in dieser Zeit. Rozenblit sieht die Lage der Juden im übernationalen
und multiethnischen Habsburger-Reich durch eine "dreifache
Identität" gekennzeichnet: Juden konnten patriotisch-loyal
zum dynastisch definierten Staat sein, sich kulturell der jeweils
dominierenden Gruppe (Deutsche, Ungarn, Tschechen usw.) verbunden
fühlen, und sich doch als separate ethnisch-religiöse
Gemeinschaft sehen. Letzteres war natürlich je nach den Ausgangsbedingungen
für weitgehend assimilierte Juden der Mittelschicht in Wien
anders als etwa für orthodoxe Juden in Galizien im großen
und ganzen dürfte Rozenblits Modell dieser (den Betroffenen
meist wohl unbewussten!) "dreifachen Identität" zutreffen.
Damit unterschieden sich die Juden Österreich-Ungarns von ihren
Glaubensgenossen in den meisten anderen europäischen Staaten,
wo das im 19. Jahrhundert entstandene nationalstaatliche Modell
eine ganz andere Form der Identifizierung mit dem Staat und damit
auch mit dem tonangebenden Staatsvolk forderte. In Österreich-Ungarn
hingegen erlebten die Juden vor 1914 weitgehende Toleranz, trotz
des seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmenden Antisemitismus.
1914 begrüßten die Juden Österreich-Ungarns den
Kriegsbeginn ähnlich wie ihre nicht-jüdischen Landsleute:
zur allgemeinen patriotischen Begeisterung kam allerdings der "Kreuzzugsgedanke"
der Befreiung der russischen Juden von ihrem schweren, durch Pogrome
gekennzeichneten Schicksal. Rozenblit schildert nach einer
ausführlichen Einleitung und Darstellung des Hintergrundes
das jüdische Kriegserleben in mehreren Abschnitten:
Kriegsbeginn, Patriotismus und Fürsorge für die Kriegsflüchtlinge
(Ende 1915 waren rund 40% der fast 400.000 Flüchtlinge, die
aus den Kriegsgebieten nach Wien und in andere Gebiete der Monarchie
geflüchtet waren, Juden), das Kriegserleben der rund 300.000
jüdischen k.u.k. Soldaten und schließlich der
Kampf um die künftige jüdische Identität angesichts
des Auseinanderbrechens der Monarchie.
Für viele Juden Österreich-Ungarns brachte der Niedergang
des Reiches auch eine schwere Krise der persönlichen Identität:
die entstehenden Nationalstaaten waren im besten Fall höchstens
bereit, Juden als Religionsgemeinschaft zu akzeptieren im
schlechtesten Fall anerkannten sie die Juden zwar als eigene Nationalität
(ähnlich wie es innerhalb der jüdischen Gemeinden die
zionistischen und andere "nationale" Gruppen taten), dies
aber unter mehr oder minder heftigen antisemitischen Vorzeichen,
die für die Zukunft wenig Gutes ahnen ließen.
Andere Schwerpunkte als Rozenblit setzt David Rechter ebenfalls
ein seit langem ausgewiesener Forscher über österreichische
Juden der an der Universität Oxford lehrt und sich in
seinem Buch The Jews of Vienna and the First World War mit den Wiener
Juden im Ersten Weltkrieg beschäftigt. Durch die besondere
Stellung der Wiener jüdischen Gemeinde, die bis 1918 in verschiedener
Weise eine Art "primus inter pares"-Rolle unter den jüdischen
Gemeinden der Monarchie ausfüllte, sowie durch das Wirken verschiedener
jüdischer Organisationen aus der ganzen Monarchie in Wien nicht
zuletzt als Ergebnis der großen Zahl in der Stadt befindlicher
Kriegsflüchtlinge, ist Rechters Studie allerdings keineswegs
auf Wien beschränkt.
Detaillierter als Rozenblit beschreibt Rechter die Auseinandersetzungen
innerhalb der jüdischen Gemeinde, die die Liberalen unter Alfred
Stern bis 1918 dominierten, und die Ambitionen ihrer orthodoxen
und nationalen/zionistischen "Herausforderer". Das Kriegserleben
wird von ihm nur soweit behandelt, als es auf diese Probleme Bezug
hatte so bleiben etwa der Kriegsdienst jüdischer Soldaten
oder die patriotischen Bemühungen, etwa die Zeichnung von Kriegsanleihen,
im Hintergrund. Eine zentrale Rolle spielt demgegenüber das
Schicksal der jüdischen Flüchtlinge, waren doch in Wien
selbst stets über die Hälfte der Kriegsflüchtlinge
Juden, 1918 sogar an die 90%!
Die Erfahrungen des Krieges führten wie in anderen Bevölkerungsgruppen
zu einer Radikalisierung mancher jüdischer Gruppierungen;
darüber hinaus gewannen die Jugendbewegungen an Einfluss. Für
1918/19 jedenfalls konstatiert Rechter eine "Revolution"
auch in der jüdische Gemeinde Wiens, obwohl die Liberalen nach
einer kurzen Schwächeperiode 1918 dann doch in den zwanziger
Jahren die dominierende Partei in der Kultusgemeinde blieben.
Rechter verweist zuletzt auf die Entwicklungen des Winters 1918/19,
als es einerseits zu neuen Flüchtlingsströmen nach Wien
kam (zuerst infolge der Pogrome vor dem Hintergrund der polnisch-ukrainischen
Kämpfe in Galizien, dann wegen der Schrecken der kommunistischen
Diktatur Béla Kuns in Ungarn), andererseits aber wohl
Ausdruck neuen Selbstbewusstseins im Rahmen der paramilitärischen
Wiener Stadtschutzwache jüdische Gruppen entstanden, nicht
zuletzt um die Wiener Juden vor den revolutionären Ausschreitungen
zu schützen.
Wien blieb nach 1918, so Rechter, trotz des Zusammenbruchs der Habsburgermonarchie
für die Juden Mitteleuropas von Bedeutung nicht zuletzt
als Station im Rahmen der Auswanderung nach Palästina, für
die der Erste Weltkrieg einen bedeutenden neuen Schub geliefert
hatte.
Beide Arbeiten sind wichtige Beiträge zu einem bislang vernachlässigten
Kapitel und beide sind es wert, gelesen zu werden. Während
Rozenblit einen ausgewogenen Überblick präsentiert und
einen breiteren Ansatz hat, untersucht Rechter gründlich und
detailliert die Lage in Wien, vor allem hinsichtlich der inner-jüdischen
Verhältnisse und Entwicklungen. Beide Bücher sind sorgfältig
recherchiert und echte Bereicherungen unseres Wissens zu diesem
Thema.
Bildquellennachweis:
E.A. Schmidl, Juden in der k.(u.)k. Armee 1788-1918 (Studia
Judaica Austriaca XI, Eisenstadt 1989).
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Aufgrund der besonderen Struktur der Donaumonarchie
war es den Juden hier anders als in den europäischen Nationalstaaten
- möglich, ihre Identitäten auf drei Ebenen zu entwickeln:
patriotisch-loyal der Dynastie und dem Kaiserhaus gegenüber,
kulturell der jeweils herrschenden Nationalität angepasst,
und gleichzeitig jüdisch auf einer religiösen wie
ethnischen Ebene.
Das Bild zeigt die Begrüßung des Kaisers und Königs
Karl durch jüdische Gemeindevertreter im Osten, um 1917.
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