Gennadi E. Kagan
Die zionistische Bewegung Theodor Herzls
unter dem Zarenadler.
Wien / Köln / Weimar: Böhlau Verlag 2002.
412 Seiten. € 49.
ISBN 3-205-77019-6
Gennadi Kagan, der kein Historiker, sondern Germanist
und Übersetzer ist, nennt sich selbst "russischen
Bürger jüdischer Herkunft" . Er möchte
mit diesem Band zeigen, warum der politische Zionismus
gerade in Russland einen so starken Einfluss ausüben
konnte und aus welchen Gründen diese Bewegung zuerst
im zaristischen Russland und dann auch in der Sowjetunion
verfolgt und bekämpft wurde. Die 57 Seiten lange
Einleitung über die Geschichte der Juden in Russland
und der UdSSR ist mit unverhohlener Sympathie für
den Zionismus verfasst. Dann folgen Übersetzungen
von 40 Dokumenten über Rolle und Entwicklung des
Zionismus im zaristischen Russland aus russischen Archiven,
die den Hauptteil des Buches einnehmen. Gleich vorweg
ist festzustellen: Kagan hat ein Buch vorgelegt, das
sich niemand entgehen lassen sollte, der an der Geschichte
Russlands, des Judentums und/oder Israels interessiert
ist.
Die Aktualität des Themas bedarf wohl kaum einer
Erläuterung. Dem nach wie vor heiklen Verhältnis
zwischen Russland und seinen Juden hat sich etwa auch
Literatur-Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn
(dem zeitweise selbst angelastet wurde, von antisemitischen
Neigungen nicht völlig frei zu sein) in seinem
jüngsten großen Werk "200 Jahre zusammen"
gewidmet, dessen zweiter Band Ende 2002 in Moskau erschienen
ist. Der erste liegt auch bereits in deutscher Sprache
vor.
Zar Iwan IV., bekannter als "der Schreckliche"
(1530-84), lehnte es in einem beleidigenden und undiplomatischen
Ton (dessen sich russische Politiker auch heute noch
gerne bedienen) verfassten Brief an den König von
Polen ab, Juden den Zugang zu seinem Reich zu gestatten.
Juden kamen dann erst durch die drei Teilungen Polens
(1772, 1793 und 1795) in großer Zahl unter russische
Herrschaft. Bereits 1791 wurde eine sogenannte "Residenzzone"
in den südwestlichen Regionen des Zarenreiches
eingerichtet, wo die Juden zu leben hatten. Dazu kamen
zahllose weitere diskriminierende Gesetze, Anordnungen
und Schikanen. Somit war der Antisemitismus im zaristischen
Russland ein "Bestandteil der nationalen Regierungspolitik".
Ende des 19. Jahrhunderts beherbergte das Zarenreich
die größte jüdische Gemeinde der Welt
mit 5,2 Millionen Menschen. Antisemitische Passagen
finden sich auch in den Werken von Klassikern der russischen
Literatur wie Puschkin, Gogol und Turgenjew (von Dostojewskij
ganz zu schweigen). 1881-84 kam es zur ersten Welle
organisierter Pogrome (nicht umsonst eines der wenigen
russischen Worte, die in den deutschen Sprachgebrauch
eingegangen sind). 1903 sah Kischinjow ein besonders
grausames Progrom. Zudem wurden zahlreiche Ritualmord-Prozesse
gegen Juden angestrengt.
Die Juden sahen sich vor die Notwendigkeit gestellt,
auf die staatliche Willkür und den Terror antisemitischer
Organisationen ("Schwarze Hundertschaften"
usw.) zu reagieren. Ihnen standen im Wesentlichen drei
Möglichkeiten zu Gebote: Auswanderung (vor allem
in die USA), politische Radikalisierung und Hinwendung
zu Marxismus und Revolution und Interesse am
Zionismus. 1896 erschien die erste Ausgabe des "Judenstaates"
auf Russisch. Theodor Herzl äußerte sich
dort wie auch an vielen Stellen seiner anderen Werke
über das harte Los der russischen Juden. Im August
1903 besuchte er die damalige russische Hauptstadt St.Petersburg,
um Innenminister Wjatscheslaw Plehwe und Finanzminister
Sergej Witte zu treffen. Russische Vertreter nahmen
aktiv an den zionistischen Kongressen teil. Der Einfluss
des russischen Judentums auf die Entwicklung des politischen
Zionismus war zweifellos besonders nachhaltig.
Gleichzeitig spielten Juden aber auch bei Lenins Bolschewiki
eine wichtige Rolle. Die Folge war, dass Juden unmittelbar
nach dem Umsturz im Oktober 1917 im sowjetischen Machtapparat
überproportional vertreten waren. Am bekanntesten
war sicherlich Leo Trotzki, doch die meisten revolutionär
gesinnten Juden hatten sich praktisch von ihrem Judentum
losgesagt. Vor allem von den "Weißen",
aber auch den schließlich siegreichen "Roten"
verübte Progrome im russischen Bürgerkrieg
(1918-20) forderten 100.000 Tote. In Sowjetrussland
konnten noch bis 1923 zionistische Bücher erscheinen,
dann folgten Verbot und Unterdrückung.
Stalins UdSSR hatte die Gründung Israels zunächst
unterstützt aber nicht aus Sympathie für
den Zionismus, sondern aus strategischen Überlegungen:
Sie hoffte darauf, dass der neue Judenstaat ein gegen
den britischen Einfluss im Nahen Osten gerichteter Vasall
Moskaus wird. Dazu kam es aber bekanntlich nicht, wofür
sich Stalin mit Waffenlieferungen an die arabischen
Staaten und Repressionen gegen die Juden in der UdSSR
rächte. Kagan erwähnt unter Historikern viel
diskutierte Pläne Stalins, die Juden (wie viele
andere in Ungnade gefallene Völker auch) zu deportieren,
die nur deswegen nicht ausgeführt worden seien,
weil der Diktator vorher (1953) starb. Leider verzichtet
Kagan gerade hier auf Quellenangaben. Diese Vorgänge
sind jedoch keineswegs endgültig geklärt.
So fand Arno Lustiger in seinem auch Kagan bekannten
(vgl. seine Anmerkung 108) Werk "Rotbuch.
Stalin und die Juden" keine überzeugenden
Belege für die Deportationspläne.
Der Sieg Israels im Sechstagekrieg 1967 brachte "im
Bewusstsein des sowjetischen Judentums einen wahren
Umschwung": Die alte Losung "Das jüdische
Volk lebt!" sei, so Kagan, wieder aktuell geworden.
Die Sowjetführung brach die diplomatischen Beziehungen
zu Israel ab und nahm ihre Politik des staatlichen (als
"Antizionismus" getarnten) Antisemitismus
wieder auf. Kagan rückt die sowjetische Propaganda
dieser Zeit in die Nähe der Aktivitäten von
Goebbels´ Propagandaministerium wohl eine
Übertreibung. Jedenfalls verloren offenkundig immer
mehr sowjetische Juden die Hoffnung auf eine Besserung
der Verhältnisse in absehbarer Zeit: Sie nutzten
die sich vor allem ab Beginn der siebziger Jahre bietende
Möglichkeit zur Auswanderung.
Die Übersetzungen von vor etwa einem Jahrhundert
entstandenen Texten, die Kagan hier der deutsch-sprachigen
Öffentlichkeit zugänglich macht, berühren
den mit der postsowjetischen russischen Realität
vertrauten Leser auch deswegen, weil bestimmte eindeutig
besetzte Begriffe so etwa "Befreiung von
fremden Elementen" (d.h. den Juden), "jüdische
Freimaurer" in bestimmten Kreisen wieder
oder noch immer in aller Munde sind. Dazu kommen dann
noch kollektive Verschwörungsvorwürfe gegen
die Juden, die panische Abwehr alles "Fremden"
sowie die Vorstellung von Russland als einer "besonderen
Zivilisation" mit einer "historischen Mission"
usw. Kagan sieht natürlich die Parallelen zwischen
dem Antisemitismus unter dem Zaren und der heutigen
Situation. Die "Protokolle der Weisen von Zion",
"Mein Kampf", Rosenbergs "Mythus des
20. Jahrhunderts", Henry Fords "Internationales
Judentum", Schriften von Hans F. K. Günther
kann man in Moskau in Übersetzungen jederzeit auf
der Straße erwerben. Dazu kommen zahlreiche antisemitische
Anschläge und Übergriffe, die jedoch erstaunlicherweise
im Westen kaum Aufmerksamkeit erregen. Das legt den
Schluss nahe, daß man bereit ist, an Russland
(auch) im Hinblick auf den Antisemitismus besondere
Nachsicht walten zu lassen.
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