Monika Kaczek
Ella Lingens
Ein Leben im Zeichen des Widerstandes.
Herausgegeben und mit einem Vorwort
versehen von Peter Michael Lingens
Wien/Frankfurt am Main: Deuticke 2003
335 Seiten, gebunden
Euro 25,60 (A)/ sFr 44,50
ISBN : 3-216-30712-3
"Wer nicht in Auschwitz war, wird
niemals wirklich wissen können, was Auschwitz war." Ella
Lingens
Laut einem jüdischen Sprichwort, das
sich auf den Talmud bezieht (Babylonischer Talmud
Sanhedrin 97b, 23), besteht die Welt noch immer, weil es
in jeder Generation mindestens 36 Gerechte gibt. Ohne
sie würde die Erde zugrunde gehen.
Wer aber sind diese Gerechten? Gibt
es das Gute wirklich? In seinem Buch Auf der Suche
nach den 36 Gerechten ist der polnisch-jüdische
Autor Marek Halter davon überzeugt: Es gab und gibt
einzelne Frauen und Männer, die den Glauben an die
Menschheit bewahren, indem sie Leben retten, ohne den
Tod zu fürchten. Zu diesen Persönlichkeiten zählt Ella
Lingens, deren Name immer mit couragiertem und
aufrechtem Widerstand gegen das Naziregime verbunden
bleiben wird.
Ella Lingens wird 1908 in Wien
geboren, und schon während ihres Medizinstudiums in
München, Marburg und Wien verhilft sie jüdischen
Kommilitonen zur Emigration. Nach dem Novemberpogrom
beherbergen sie und ihr Ehemann, der Arzt Kurt Lingens,
zehn jüdische Freunde in ihrer Wohnung. Kurt Lingens ist
deutscher Staatsbürger und wird 1933 wegen seiner
Zugehörigkeit zu einer antifaschistischen
Studentengruppe von allen deutschen Hochschulen
ausgeschlossen. Nach der Annexion Österreichs im März
1938 überlegt das Ehepaar, ob sie auswandern sollen. Sie
entscheiden sich, in Wien zu bleiben, allerdings unter
der Bedingung, keinem, der von Hitlerregime verfolgt
wird, die Hilfe zu verweigern.
Im Jahre 1939 lernen die beiden Baron
Karl von Motesicky, einen aktiven Nazigegner,
Kommunisten und Psychoanalytiker, kennen. Nach den
Ereignissen vom 13. März 1938 beschließt er, aus dem
Exil in Norwegen nach Wien zurückzukehren, um verfolgten
Freunden zu helfen. Als Alex Weißberg-Cybulski, ein
ehemaliger Studienfreund Ella Lingens und polnischer
Widerstandskämpfer, von Krakau aus bittet, ihn in die
Schweiz zu bringen, wollen das Ehepaar Lingens und Karl
von Motesiczky ihm helfen. Im Juli 1942 schickt
Weißberg-Cybulski die Brüder Jakob und Bernhard
Goldstein mit ihren Ehefrauen nach Wien, die sich über
die Lage informieren sollen. Das Ehepaar Lingens und
Karl von Motesicky wollen ihnen zur Flucht verhelfen und
suchen Hilfe bei einem ehemaligen Schauspieler namens
Klinger, der jedoch ein Informant der Polizei und
Gestapo-Spitzel ist. Klinger bringt die beiden Ehepaare
Goldstein an die Grenze, liefert sie am 4. September
1942 in Feldkirch an die Deutschen aus und verrät die
Helfer, die am 13. Oktober 1942 verhaftet werden. Ella
und Kurt Lingens werden von ihrem drei Jahre alten Sohn
Peter getrennt. Kurt Lingens wird in eine Strafkompanie
versetzt, wo er den Krieg überleben wird. Karl von
Motesiczky und Ella Lingens werden vier Monate im
Gestapohauptquartier auf dem Wiener Morzinplatz
interniert, von wo beide nach Auschwitz deportiert
werden. Am 16. Februar 1943 um vier Uhr morgens verläßt
Ella Lingens mit einem Gruppentransport den
Nordwestbahnhof, der in der Nacht vom 19. auf den 20.
Februar 1943 in Auschwitz eintrifft. In einem letzten
Brief an seinen Jugendfreund Friedrich Wildgans bittet
Karl von Motesiczky den Freund, ihm sein Cello zu
schicken, damit er in der Häftlingskapelle spielen
könne. Er stirbt am 25. Juni 1943 im Block 19, einem
Häftlingskrankenbau, an Typhus.
Im Lager wird Ella Lingens im
polnischen Krankenblock beschäftigt, wo sie ihre
Rettungsaktionen fortsetzt. In einem Fall erscheint ein
Angehöriger des Sicherheitsdienstes im Block, in dem
sich dreizehn jüdische Lagerinsassinnen befinden, um
ihre Namen für eine Selektion zu notieren. Dem
Angehörigen des Sicherheitsdienstes fällt die
neunzehnjährige Mirjam auf, die gerade Flecktyphus
überstanden hat und nur mehr Haut und Knochen ist. Ella
Lingens erklärt, dass Mirjam mit ihr als Pflegerin
arbeite und somit unerlässlich für sie sei. Darauf
verlässt der Mann den Block, ohne die Namen der
Gefangenen zu notieren.
In einem anderen Fall wendet sich
eine junge Frau namens Lejmann um Hilfe an sie. Ein
Lagerarzt warnt Ella Lingens, sie solle nicht unliebsam
auffallen, da ihre Entlassung aus dem Lager in den
nächsten Wochen vorgesehen sei. Wenn sie sich als
"Arierin" für diese jüdische Frau verwenden sollte,
riskiere sie den Unwillen der Waffen-SS. Trotzdem hilft
sie. Sie begibt sich zur politischen Abteilung des
Frauenlagers, meldet sich beim diensthabenden Lagerarzt
und erklärt ihm, ein hoher Offizier der Waffen-SS habe
ihr aufgetragen, für das Wohl der Frau zu sorgen. Der
Lagerarzt erteilt die Anordnung, von der Selektion
Abstand zu nehmen.
Ella Lingens muss bis Dezember 1944
in Auschwitz bleiben, von wo sie dann nach Dachau
überführt wird. Das Kriegende verhindert ihre
Deportation nach Bergen-Belsen wegen "konstanter
Frechheit und politischer Hetzerei". Nach der Befreiung
muss sie sich in ihrem neuen Leben zurecht finden. Ihre
Ehe ist gescheitert, der Ehemann hat längst eine
Geliebte. Der kleine Sohn ist ihr durch all die Jahre
entfremdet. Wie viele Überlebende der Schoah plagen sie
Schuldgefühle: "Lebe ich, weil die anderen an meiner
Stelle gestorben sind?" 1947 beginnt sie ihre
Erinnerungen aufzuschreiben. Bis zu ihrer Pensionierung
im Jahre 1973 arbeitet sie als Ministerialrätin im
Bundesministerium für Gesundheit und Umweltschutz.
Am 31. Dezember 2002 stirbt Ella
Lingens im 95. Lebensjahr.
In seinem Werk Die Gerechten
Österreichs. Eine Dokumentation der Menschlichkeit
(Herausgegeben von der Österreichischen Botschaft in Tel
Aviv, 1996, S. 56-58) schreibt Mosche Meisels: "1980
zeichnete Yad Vashem in Jerusalem Dr. Ella
Lingens-Rainer und Dr. Kurt Lingens mit der
Ehrenmedaille »Gerechte der Völker« aus. Dr. Ella
Lingens-Reiner schrieb nach ihrer Befreiung, sie habe
sich in Auschwitz im Gedanken an ihr Kind, den
dreijährigen Peter, durch den Nationalsozialismus nicht
ihre Ehre und Selbstachtung rauben lassen. Oft habe sie
im Geist zu ihrem Sohn gesagt: »Vielleicht wirst du noch
länger auf deine Mama warten müssen, aber wenn sie zu
dir zurückkehrt, wird sie dir in die Augen sehen können,
damit du dich nicht zu schämen brauchst, dass deine
Muttersprache Deutsch ist«."
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