Frédéric Brenner: Diaspora. Heimat im
Exil
München: Knesebeck 2003
ISBN 3-89660-191-1
Frédéric Brenners monumentales Werk
Diaspora ist nun auch in einer deutschen Ausgabe
erhältlich.
1978 macht Frédéric Brenner im
orthodoxen Viertel Mea Shearim in Jerusalem sein erstes
Foto. Für ihn sah Mea Shearim aus "wie die Kopie eines
osteuropäischen Dorfes der Vorkriegszeit". Das von
strenggläubigen orthodoxen Juden bewohnte Viertel
beschwor für ihn Erinnerungen an eine "versunkene Welt"
hervor. Seither führte Brenners Weg von Jerusalem in die
jüdische Diaspora in der ganzen Welt. Er fotografierte
Juden und Jüdinnen in Europa, in den USA, in Indien,
Äthiopien, im Jemen, Marokko, Sibirien, China,
Zentralasien, Lateinamerika, und Südafrika. Seine Bilder
sind dabei keine ethnographischen Aufnahmen und
versuchen keine Exotik festzuhalten. Vielmehr sind seine
Aufnahmen oft bewußt inszeniert und geben den "Objekten"
seiner Fotografie Namen und Gesicht. Die von ihm
fotografierten Menschen sind deshalb mehr als nur
Objekte. Sie haben einen Namen und eine Geschichte.
Teilweise verfolgt Brenner diesen Geschichten nach,
sucht Menschen, die er etwa im Jemen fotografiert hat,
Jahre später in Israel wieder auf und fotografiert sie
in ihrer neuen Umgebung und erzählt damit auch einen
Teil jüdischer Geschichte. Dabei werden die
unterschiedlichsten Menschen Teil dieser Geschichte.
Brenner fotografiert nicht nur religiöse Juden oder ins
Gebet versunkene Menschen. Er fotografierte jüdische
Fabriksarbeiter und Frisöre, Rabbinerinnen, Möbelpacker,
Transvestiten, Generäle, Insassen eines
Frauengefängnisses, Motoradfahrer, Lesben,
portugiesische Marranen, Jeshiva-Schüler, Bauern und
Künstler. Unter anderem hat er 2001 die heuer mit dem
Literaturnobelpreis ausgezeichnete Schriftstellerin
Elfriede Jelinek, Peter Menasse, den damals nur als
"Public Relations Manager" bezeichneten Chefredakteur
des NU, Robert Schindel, Caritas-Direktor Michael Landau
und Exponate des "Rassensaals" des Naturhistorischen
Museums in Wien fotrografiert. Er zeigt damit auch die
ganze Vielfalt jüdischen Lebens jenseits von Klischees
und identitären Zuschreibungen. Wichtigen Raum nehmen
dabei neben den Fotos und der Beschreibung der Bilder
auch die "Stimmen" ein, die im zweiten Band des Werkes
zu Wort kommen. Brenner hat dabei auch andere
Schriftsteller und Intellektuelle mit Texten zu seinen
Bildern zu Wort kommen lassen. Es ist ihm dabei
gelungen, Beiträge von so bekannten AutorInnen wie André
Aciman ("Damals in Alexandria", Berlin Verlag), Jacques
Derrida und Carlos Fuentes zu bekommen. Viele der
dadurch entstandenen Beiträge setzen sich nicht nur
direkt mit den Fotos auseinander, sondern schweifen
assoziativ davon ab. Interessant ist dabei auch, dass
auch von ihm fotografierte teilweise selbst zu Wort
kommen. Elfriede Jelinek schreibt ausgehend vom Foto
Leonid Semyonovich Doktors, einem Hutmacher aus
Schargorod in der Ukraine: "Das Wissen um etwas, das
nicht gewusst werden kann, weil es sich nirgends
manifestiert, außer im religiösen Glauben eines Menschen
und dessen Ritualen und in seinen Gebräuchen, also in
Äußerlichkeiten; dieses Wissen also besteht plötzlich in
einer Zugewiesenheit an einen Platz, und indem man einen
Menschen sich seinen Platz nicht suchen lässt, sondern
den Platz ihm zuweist, und dieser Platz ist die eigene
Abstammung, entscheidet man sich gegen den Menschen an
sich."