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MEHR ALS FOTOGRAFIE

Thomas Schmidinger

 

Frédéric Brenner: Diaspora. Heimat im Exil

München: Knesebeck 2003

ISBN 3-89660-191-1

Frédéric Brenners monumentales Werk Diaspora ist nun auch in einer deutschen Ausgabe erhältlich.

1978 macht Frédéric Brenner im orthodoxen Viertel Mea Shearim in Jerusalem sein erstes Foto. Für ihn sah Mea Shearim aus "wie die Kopie eines osteuropäischen Dorfes der Vorkriegszeit". Das von strenggläubigen orthodoxen Juden bewohnte Viertel beschwor für ihn Erinnerungen an eine "versunkene Welt" hervor. Seither führte Brenners Weg von Jerusalem in die jüdische Diaspora in der ganzen Welt. Er fotografierte Juden und Jüdinnen in Europa, in den USA, in Indien, Äthiopien, im Jemen, Marokko, Sibirien, China, Zentralasien, Lateinamerika, und Südafrika. Seine Bilder sind dabei keine ethnographischen Aufnahmen und versuchen keine Exotik festzuhalten. Vielmehr sind seine Aufnahmen oft bewußt inszeniert und geben den "Objekten" seiner Fotografie Namen und Gesicht. Die von ihm fotografierten Menschen sind deshalb mehr als nur Objekte. Sie haben einen Namen und eine Geschichte. Teilweise verfolgt Brenner diesen Geschichten nach, sucht Menschen, die er etwa im Jemen fotografiert hat, Jahre später in Israel wieder auf und fotografiert sie in ihrer neuen Umgebung und erzählt damit auch einen Teil jüdischer Geschichte. Dabei werden die unterschiedlichsten Menschen Teil dieser Geschichte. Brenner fotografiert nicht nur religiöse Juden oder ins Gebet versunkene Menschen. Er fotografierte jüdische Fabriksarbeiter und Frisöre, Rabbinerinnen, Möbelpacker, Transvestiten, Generäle, Insassen eines Frauengefängnisses, Motoradfahrer, Lesben, portugiesische Marranen, Jeshiva-Schüler, Bauern und Künstler. Unter anderem hat er 2001 die heuer mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Schriftstellerin Elfriede Jelinek, Peter Menasse, den damals nur als "Public Relations Manager" bezeichneten Chefredakteur des NU, Robert Schindel, Caritas-Direktor Michael Landau und Exponate des "Rassensaals" des Naturhistorischen Museums in Wien fotrografiert. Er zeigt damit auch die ganze Vielfalt jüdischen Lebens jenseits von Klischees und identitären Zuschreibungen. Wichtigen Raum nehmen dabei neben den Fotos und der Beschreibung der Bilder auch die "Stimmen" ein, die im zweiten Band des Werkes zu Wort kommen. Brenner hat dabei auch andere Schriftsteller und Intellektuelle mit Texten zu seinen Bildern zu Wort kommen lassen. Es ist ihm dabei gelungen, Beiträge von so bekannten AutorInnen wie André Aciman ("Damals in Alexandria", Berlin Verlag), Jacques Derrida und Carlos Fuentes zu bekommen. Viele der dadurch entstandenen Beiträge setzen sich nicht nur direkt mit den Fotos auseinander, sondern schweifen assoziativ davon ab. Interessant ist dabei auch, dass auch von ihm fotografierte teilweise selbst zu Wort kommen. Elfriede Jelinek schreibt ausgehend vom Foto Leonid Semyonovich Doktors, einem Hutmacher aus Schargorod in der Ukraine: "Das Wissen um etwas, das nicht gewusst werden kann, weil es sich nirgends manifestiert, außer im religiösen Glauben eines Menschen und dessen Ritualen und in seinen Gebräuchen, also in Äußerlichkeiten; dieses Wissen also besteht plötzlich in einer Zugewiesenheit an einen Platz, und indem man einen Menschen sich seinen Platz nicht suchen lässt, sondern den Platz ihm zuweist, und dieser Platz ist die eigene Abstammung, entscheidet man sich gegen den Menschen an sich."

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