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DIE ENTHEILIGTE UTOPIE

Horst Dolezal

Jüdische Ideen- und Sozialgeschichte am Dnepr
(1750-1900)
Christoph Schmidt
Köln Weimar Wien: Böhlau Verlag 2004
270 Seiten, Euro 24,90
ISBN 3-412-10803-0

Der vor rund fünfzehn Jahren erfolgte politische Umbruch in Ost- und Ostmitteleuropa gab einerseits Impulse, sich auch im "Westen" wieder mit historisch-politischen Themen von Gebieten zu befassen, in denen wissenschaftlich frei zu arbeiten in den Jahren davor kaum möglich war, andererseits wurde eben in diesen Regionen versucht, an die jahrzehntelang unterbrochene Geschichtsschreibung anzuknüpfen. Die Fülle der in den letzten Jahren weltweit erschienenen Veröffentlichungen zur jüdischer Sozialgeschichte verbunden mit der Tatsache, dass aufgrund des zeitlichen Abstandes zu aus diesem Raum stammenden geistesgeschichtlichen Ideen - wie z. B. des Zionismus - heute eine in manchen Punkten andere Sichtweise gegeben ist, veranlasst den Autor zur Erstellung der vorliegenden "Skizze" (Vorwort). Diese entwickelt er beispielhaft am Gouvernement Mogilev. Mogilev bietet sich als besonders geeignet an, ist es doch von der Lage (etwa in der Mitte von dem konservativen Zentrum Wilna und dem reformorientierten Zentrum Odessa), von seiner wirtschaftlichen und bevölkerungsmäßigen Struktur (von 1,7 Mill. Einwohnern leben 0,2 Mill. Juden in Städten, in denen sie meist die Mehrheit bilden) und der in ihm in Nebenzentren präsenten politischen Vielfalt ein durchschnittliches Spiegelbild des aus 25 Gouvernements bestehenden "Rayons" (Gebiet, in welchem Juden im russischen Reich im 19./20. Jh. siedeln durften). Im ersten Teil des Buches werden die vier "Ideen" jüdischen Denkens seit Beginn des 18. Jh. allgemein in gestraffter, trotzdem detailreicher Form dargestellt: Mystik und Chassidismus, Aufklärung und Haskala, Nationalismus und Zionismus sowie Sozialismus und Bundismus, im zweiten Teil ihre Entwicklung und Wirkung in Mogilev untersucht.
Mystik und Chassidismus: Die Erforschung des Chassidismus setzte erst im vierten Viertel des 19. Jh. ein, von Bedeutung waren die Forschungs- und Sammelreisen von An-skij. (Die von ihm im Auftrag der Jüdischen Historischen und Ethnographischen Gesellschaft in St. Petersburg hauptsächlich zwischen 1912 und 1914 gesammelten Exponate haben sich zum Teil im heutigen Staatlichen Ethnographischen Museum in St. Petersburg erhalten und wurden 1993 erstmals außerhalb Russlands in Köln und Frankfurt am Main gezeigt).
Aufklärung und Haskala: Diese stellt das Bemühen dar, "die Kluft zwischen ratio und traditio zu schließen". Beginnend mit dem aus Hamburg stammenden Naphtali Herz Wessely (1725-1805) wurde eine Vielzahl von Vorschlägen und Positionen eingenommen und zum Teil zu realisieren versucht. Die Situation des für die Aufklärung so wichtigen Schulwesens hatte in den russischen Gebieten noch einen besonderen Akzent durch die Auseinandersetzung mit dem nur hier eine Rolle spielendem Chassidismus. Von Einfluß auch, dass erst ab der Revolution 1905 erste Ansätze zur Aufhebung jüdischer Diskriminierungen festzustellen sind.
Nationalismus und Zionismus: Der weltliche Zionismus begann sich erst zu entwickeln, nachdem sich drei Voraussetzungen ergeben hatten: der Rückgang des religiösen Zionismus, das erkennbare Scheitern der Haskala nach den Pogromen ab 1881 und das europaweite Erstarken des Nationalismus.Vorläufer wie Moses Heß oder der Schriftsteller Perez Smolenskin fanden kaum Anhängerschaft, erst die charismatische Persönlichkeit eines Theodor Herzl in die einige Jahre später verstärkt antisemitisch gefärbte politische Situation hineingestellt brachte den Umschwung. Die von ihm vertretene Richtung setzte sich gegen die vielen teilweise sehr theoretischen und utopischen Programme durch.
Sozialismus und Bundismus: Ausgehend von dem 1780 als Hochburg der Orthodoxie geltenden Wilna, hatte hier hundert Jahre später der areligiöse Bund eine seiner wichtigsten Wurzeln. Hier wurde erstmals eine russische politische Idee, der Sozialismus, von jüdischer Seite rezipiert. Aron Libermann als einer der Stammväter war in Wilna schon 1875 in einem Zirkel aktiv, in welchem Gedankengut der Haskala mit revolutinärem Engagement verbunden werden sollte. Die durch Marx eindringende Ablehnung jeden Nationalismus führte schließlich am zweiten Parteitag 1903 in London in der Frage der Vertretung der jüdischen Interessen im russischen Reich zum Bruch, die anwesenden Bundisten verließen die Konferenz. Innerhalb des Bundes spielte auch die Sprachenfrage eine wichtige Rolle, war es doch von Bedeutung, ob in der jüdischen Arbeiterschaft russsich oder jiddisch agitiert werden sollte.
Ist im Teil I des Buches der Wandel der Ideen dargestellt, wird im Teil II der Wandel der Gesellschaft geschildert. Kulturgeschichtliche, strukturelle und wirtschaftlich/solziale Aspekte des Gouvernement Mogilev im Gesamten und des – als eines von vielen – Schtetls Krasnopol’e im Besonderen werden mit vielen statistischen Angaben dem Leser nahe gebracht. Beispielhaft werden die sich auf engem Raum (Stadt/Land, Grad der religiösen Durchdringung u. ä.) ungleich verlaufenden Entwicklungen der vier "Ideen" nachgezeichnet. Dies leitet über zum Resümee: Die entheiligte Utopie."Jeder der großen Ströme jüdischer Geistesgeschichte...entsprang dem Versuch, sich beherrschender Wirklichkeit zu widersetzten, ja diese umzuformen und ihr ein neues, gerechtes Anlitz zugeben...". Im Gegensatz zu Chassidismus und Bundismus blieben Aufklärung und Zionismus in städtischen Intellektuellenkreisen stecken, fanden in der Landbevölkerung keine Anhänger. Entscheidend dafür war - neben anderen Faktoren - die Wahl der Sprache. Die von den Maskilim und den Zionisten forcierten Sprachen Russisch und Hebräisch, das Jiddische als Jargon ablehnend, machten es ihnen unmöglich, in Dörfern und Schtetln Anhänger zu gewinnen. Chassidismus und Sozialismus erreichten aber mit Jiddisch sehr wohl auch die einfachen Kreise am flachen Land. Wichtig auch die Rolle der Säkularisierung: "Sie versprach das Ausmaß an Autonomie zu erhöhen, aber stürzte so manchen in Krise und Sinnverlust".
Statistische Tabellen, ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Namensindex runden die Arbeit ab. Die verständliche und übersichtliche Darstellung lassen den Interessierten immer wieder gerne nach diesem Buch greifen, in dem das Gegenüberstellen oft gegensätzlicher Aussagen als Beitrag zu fruchtbarer Diskussion sehr zu begrüßen ist.

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