NS-Justiz in Österreich:
Lage- und Reiseberichte 1938
1945Alfred Gerstl
Wolfgang Form und Oliver Uthe (Hg.):
Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des
österreichischen Widerstandes zu Widerstand,
NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten, Bd. 3
Wien: LIT Verlag 2004.
568 S., 49.90 EUR.
ISBN 3-8258-7549-0
Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil erschließt sich die
Geschichte des Widerstandes gegen das
nationalsozialistische Regime aus den Gerichtsurteilen,
welche die Volksgerichtshöfe, Sondergerichte oder
Oberlandesgerichte in der Nazi-Zeit fällten. Es ist
jedoch kein einfaches Unterfangen, diese Urteile zu
analysieren, wobei die den Urteilen zugrunde liegende
Verfolgerperspektive nur eine Schwierigkeit darstellt.
Im Jahr 1998 begannen daher das Dokumentationsarchiv des
österreichischen Widerstandes (DÖW) und das Institut für
Kriminal- und Politikwissenschaft (Uni Marburg), die
politische NS-Strafjustiz in Österreich und Deutschland
langfristig und interdisziplinär aufzuarbeiten. Als
Geldgeber konnten die Volkswagenstiftung sowie die
Österreichische Nationalbank gewonnen werden.
Bereits im Juli 1938 wurden die Präsidenten der
Oberlandesgerichte in Wien, Graz, Linz und Innsbruck zur
regelmäßigen persönlichen und vertraulichen
Berichtslegung an den Reichsjustizminister angehalten.
Diese Berichte ein Korrektiv zu jenen der SS stellen
wichtige, nun erstmals für ein breites Publikum
erschlossene landesgeschichtliche Quellen dar. So heißt
es beispielsweise in einem Bericht der
Generalstaatsanwaltschaft Innsbruck im Oktober 1938,
"die Einführung der Judengesetze wurde allgemein mit
Zustimmung und Genugtuung zur Kenntnis genommen"; sie
hätten "im Lande Österreich die breitesten
Bevölkerungsschichten befriedigt".
Nicht nur die Einstellung der lokalen Bevölkerung zu
neuen Gesetzen, sondern generell deren Stimmung
einzufangen war eine wichtige Funktion der Berichte;
namentlich die negativen Reaktionen auf
Versorgungsengpässe, Lohnkürzungen, die Korruption oder
die permanenten Sammlungen für das Winterhilfswerk
wurden in Berlin mit Fortdauer des Krieges mit immer
größeren Sorgen zur Kenntnis genommen. Insbesondere in
den letzten Kriegsjahren registrierten die Justizstellen
aufmerksam die sich häufenden Zeichen von zivilem
Ungehorsam. So beobachteten sie in den größeren Städten
Agitationen von christlichsozialen, sozialistischen und
kommunistischen Aktivisten, während auf dem Land eine
Zunahme des Kirchenbesuchs und des "Grüß-Gott-" statt
des Führer-Grußes registrierten.
Für die Prozesse gegen Widerstandskämpfer wurden die
Organisationsstrukturen diverser Widerstandsgruppen in
den Justizdokumenten zum Teil sehr genau analysiert, was
sie zu wertvollen zeitgeschichtlichen Dokumenten macht.
Nicht das geringste Verdienst dieser wertvollen
Quellenedition ist es, deutlich zu machen, wie
willfährig sich die Justiz in den Dienst der
Nationalsozialisten stellte.
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