Mir
soll`s geschehen. Nathanael Riemer
Jakob Hessing: Mir soll`s geschehen. Roman. Berlin
Verlag, Berlin 2005. 467 S. ISBN 3-8270-0586-8.
Als Titel für den Roman von Jakob Hessing, der als
Professor für deutsche Literatur an der Hebräischen
Universität Jerusalem lehrt, könnte man ebenso gut das
bedeutungsreiche Thema einer Dissertation wählen, die in
Hessings Roman scheinbar beiläufig erwähnt wird: Die
Familie als Ort der Tragödie. So erzählt der Roman
gleich zwei Tragödien, die für den Protagonisten Jonas,
der als Sohn jüdischer Eltern während der Shoa in einem
Versteck bei einem polnischen Bauer geboren wird,
unauflöslich miteinander verbunden sind. Es ist dies die
große Tragödie des deutschen und osteuropäischen
Judentums, die, in die Familiengeschichte Jonas
eingraviert, sich zur Familientragödie zu entfalten
beginnt, in der die Shoa nicht nur Denken und Handeln
der Familienmitglieder bestimmt, sondern letztlich ihre
Entfremdung verursacht.
Bezeichnenderweise beginnt das Buch mit einer Szene auf
einem jüdischen Friedhof nicht irgendeinem, sondern
dem größten jüdischen Friedhof Europas in Weißensee, der
einst der Stolz der Juden in Berlin gewesen war. Sein
Glanz des Untergangs, hier Sinnbild für das an der
Umwelt gescheiterte Konzept des deutschen Judentums,
steht für den Autor im krassen Gegensatz zur Familie
Jonas. Nicht nur Judko und Le`itsche, Jonas Eltern,
sondern der gesamte Verwandtenkreis sind Überlebende der
Shoa. Bereits in dieser Gegenüberstellung von Ort und
Handlungsträger zeichnet sich die den Roman wie einen
roten Faden durchziehende Frage ab, wie Juden nach der
Katastrophe überhaupt in Deutschland leben können. Juko
und Le`itsche, die nach dem Krieg vor den Russen nach
Berlin geflohen sind, versuchen sich zwischen
Wiedergutmachung und latentem Antisemitismus ein
materiell abgesichertes Leben aufzubauen. Obwohl sie das
Dilemma intuitiv empfinden, ihrem Sohn erklären, dass
es nicht gut ist in Deutschland zu leben, bieten sie
Jonas und hier macht sich in besonderer Weise die
schwierige und komplexe Vater-Sohn-Beziehung bemerkbar
keinen Ausweg: Die Identifikation mit dem Judentum über
die Religion bleibt Jonas versagt, da Judko ihn weder
beschneiden lässt, noch zur Bar-Mizwa schickt. Der
zweite Weg über den Zionismus kommt für den Vater nicht
in Frage, da die Zionisten in seinen Augen Kommunisten
sind.
Während sich seine Eltern zunehmend entfremden, beginnt
für Jonas, der in der jiddisch sprechenden Familie auch
Joine genannt wird, die Phase der Selbstverortung. Seine
Erkenntnis Ich bin ein Jude und In meinem Alter gibt
es keine Juden führt ihn in einen Kibbuz im Norden
Israels. Mit der Begegnung zwischen Jonas und dem
80-jährigen Mordechai, der, von Buber beeinflusst,
während der dritten Alija aus Überzeugung nach Israel
einwanderte, erhält der innere Diskurs des Romans über
das Judentum eine neue Dynamik. Die Gespräche mit
Mordechai stoßen Jonas auf das Kernproblem der Tragödie
des deutschen Judentums, in der sich erneut seine eigene
Familientragödie abzeichnet. So wie das deutsche
Judentum aufgrund der Assimilation seine Bindung zur
Tradition verloren hatte und sich auf die Suche nach
neuen Wurzeln begeben musste, so sieht Jonas die
existentielle Notwendigkeit, einer väterlich verordneten
Traditionslosigkeit entgegentreten zu müssen. Der
Fortschrittsglaube des deutschen Judentums erwies sich
im Hinblick auf die Shoa als Illusion. Die Jecken
können ihren Akzent nicht loswerden. Die deutsche Kultur
ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Man hat sie
umgebracht, aber sie lassen sich`s nicht austreiben.
Jonas` eigene Wurzelsuche beginnt mit dem
Geschichtsstudium, erstreckt sich über die Bemühung,
sich mit dem jungen Staat Israel zu identifizieren, von
dessen Bewährungsprobe, dem Sechs-Tage-Krieg, er
aufgrund einer Allergie ausgeschlossen ist, und mündet
in seine Ernennung zum Professor für Geschichte an der
Hebräischen Universität. Ihn treibt die Vergangenheit
Etwas, was nicht mehr da ist. Seine Suche ist eine
Flucht eine Flucht in die Bewältigung der
Vergangenheit durch die Vergangenheit selbst, durch die
Erforschung der Geschichte des Judentums, die dem leisen
Credo des Romans zufolge an einem Ort der Welt unbedingt
geboten ist in Zion. Insofern weiß sich der säkulare
Protagonist wieder in die religiöse Tradition des
Judentums einzureihen.
Die letzten Kapitel des Romans schildern, wie die Eltern
Jonas, Überlebende der Shoa, aus familiären Gründen ihre
Vorbehalte gegen den kommunistischen Staat aufgeben,
nach Israel ziehen und hier ihr Leben beschließen. Damit
präsentiert sich der Roman im weitesten Sinne als
eine Familiengeschichte mit Widerhaken, an deren Ende
trotz der zahlreichen Differenzen zwischen den
Familienmitgliedern nicht das Scheitern, sondern das
Überleben steht, das seine optimistische Fortsetzung in
der Enkelgeneration erlebt.
Durch den Verzicht auf eine Handlung, einer künstlichen
Konstruktion, die den Leser durch Spannung an den Text
fesseln möchte, lenkt Hessing die Aufmerksamkeit auf die
bohrenden Fragen des Subtextes. Zwar umfasst der streng
chronologisch aufgebaute Roman etwa fünfzig Jahre Zeit-
und Familiengeschichte, präsentiert sich jedoch als ein
Lückentext, da zumeist kurze Zeitabschnitte
aneinandergereiht werden. Die Herausforderung des Lesers
besteht nun darin, die wichtigen Details, die scheinbar
beiläufig erzählt, zwischen der Schilderung alltäglicher
Tätigkeiten verborgen sind, in die komplexe Struktur des
Subtextes einzuordnen. Widmet sich der Leser dieser
spannenden Arbeit, die über das ganze Buch verstreut
eingeflochtenen Puzzelteile zu sammeln, so fügen sie
sich zu einem Bild zusammen, in dem sich die wichtigen
Daten und Diskurse der europäisch-jüdischen und
israelischen Geschichte abzeichnen.
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