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Geraubte Bücher

Heimo Gruber

Geraubte Bücher - Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit.
Herausgegeben von Murray G. Hall, Christina Köstner und Margot Werner.
Wien:
Österreichische Nationalbibliothek 2004. 189 Seiten
ISBN 3-01-000035-9

In seinem Essayband Eine Reise in das Innere von Wien steigt der Schriftsteller Gerhard Roth auch in die Tiefen der Österreichischen Nationalbibliothek hinab und entdeckt dort einen Raum mit dem unheimlichen Namen „Sarg", in dem nicht erfasste Bücher lagern. Dass der Reportageband von Roth zugleich den 7.Teil des Zyklus Archive des Schweigens bildet, passt von der Titelgebung gut zur Herkunft jener Bücher. Roth unternahm diesen Ausflug in die Nationalbibliothek im Herbst 1989. Was sich ihm in jenem Raum gleichsam als gefrorene Geschichte präsentierte, begann mittlerweile beschämend spät auszuapern.
Das Kunstrückgabegesetz 1998 über die Rückgabe von Kunstgegenständen aus den österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen (BGBl 181/1998) bildete auch für die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) die Grundlage, in ihren Beständen nach Raubgut der Nationalsozialisten zu suchen. Diese Provenienzforschung wurde im Dezember 2003 abgeschlossen. In der Folge entscheidet ein im Bildungsministerium eingerichteter Beirat über die Restitution der Bestände an die Erben der Beraubten; wo solche nicht vorhanden sind, werden die Objekte dem Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus übergeben. (Siehe dazu Ernst Bacher: Warum erst jetzt? Warum so spät?Provenienzforschung und Restitution seit 1998, S.54ff.)
Es war naheliegend, diese längst überfälligen Schritte auch als öffentliches Zeichen der Übernahme von historischer Verantwortung zu dokumentieren. Den Beginn bildete die Ausstellung Geraubte Bücher, die ab 10.Dezember 2004 im Prunksaal der Nationalbibliothek zu sehen war. Eine umfassende, von Murray G. Hall und Christina Köstner erarbeitete Geschichte der Nationalbibliothek während der NS-Zeit soll im Frühjahr 2006 im Böhlau Verlag unter dem Titel „....allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern....". Eine österreichische Institution in der NS-Zeit erscheinen.
Der vorliegende Band Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer Vergangenheit bietet mit 14 Beiträgen und einem Vorwort der ÖNB-Generaldirektorin Johanna Rachinger einen guten Einstieg in die Thematik und diente zugleich als Ausstellungskatalog.
Als die Nationalbibliothek nach dem „Anschluß" zur drittgrößten Bibliothek des Deutschen Reiches avancierte, konnte sie bereits auf eine mehrjährige Erfahrung mit literarischer Säuberungspolitik zurückblicken, wie es Murray G. Hall im Beitrag „I AB 59-63" Zur Rolle der Nationalbibliothek in der Liquidierung sozialdemokratischer Bildungseinrichtungen ab 1934 (S.15ff.) beschreibt. Der ÖNB war dabei die Aufgabe einer Sammelstelle aller aus den Büchereien und Bibliotheken des Ständestaates entfernter Bücher zugekommen.
Paul Heigl, der als früher und fanatischer österreichischer Nationalsozialist bereits im deutschen Bibliothekswesen (Preußische Staatsbibliothek Berlin) tätig gewesen war, übernahm im März 1938 die Leitung der Nationalbibliothek. Er verfolgte eine aggressive Expansionspolitik, die vor forciertem Buchraub nicht zurückschreckte, was Christina Köstner in ihrem Aufsatz „Für Jürgens bleiben auf jeden Fall Massen!" Die Erwerbungspolitik der Nationalbibliothek zwischen 1938-45 (S.30ff.) deutlich dokumentiert. Jener zitierte Jürgens war Leiter der Reichstauschstelle in Berlin und Nutznießer von Dubletten, die Heigl aus den Raubbeständen großzügig an andere Bibliotheken verteilte.
Heigl verfügte über ein dichtes Netz von Beziehungen und wurde meistens von sich aus aktiv, wenn er etwa den Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung Adolf Eichmann um Beschlagnahme und Zuweisung der Exlibris-Sammlung von Marco Birnholz bat. In anderen Fällen bot auch die Gestapo der NB Bücher an. Die Opfer waren jüdische Privatpersonen und Institutionen, Einrichtungen wie Freimaurerlogen, tschechische Kulturvereinigungen und Gesandtschaften von Ländern, die von der Wehrmacht überfallen wurden. Die kostbarsten in die NB gelangten Bestände beraubter Privatpersonen stammten von Fritz Brukner, Gottlieb Kaldeck, Oscar und Gerhard Ladner, Heinrich Schnitzler, Moriz Kuffner und Alphonse de Rothschild. Ab 1941 erhielt Heigl die Vollmacht zum Beutezug am Balkan, wo die Nationalbibliothek und Universitätsbibliothek Belgrad, die Werschetzer Bischofsbibliothek und der Verlag von Geca Kon geplündert wurden. Und schließlich bediente sich Heigl noch 1944 an den in der Triestiner Synagoge lagernden Büchersammlungen aus Bibliotheken beraubter jüdischer Familien aus Triest und dem Friaul. Kurz vor der Befreiung Wiens entzog sich Heigl durch Selbstmord jeder weiteren Verantwortung.
Bereits im Frühjahr 1938 wurden in Wien 200 jüdische und „bewegungsfeindliche" Buchhandlungen und Verlage geschlossen. Da Beschlagnahmungen und Abtransporte unkoordiniert erfolgten und von verschiedenen Organisationen – SA, SS, SD, Gestapo und NSDAP-Gliederungen – durchgeführt wurden, etablierte das Propagandaministerium ab September 1938 die Bücherverwertungsstelle in der Dorotheergasse. (Siehe dazu den Beitrag von Grit Nitzsche: Die Bücherverwertungsstelle Wien, S.61ff.) Mit der Leitung wurde der Leipziger Bibliothekar Albert Paust betraut und sollte dafür sorgen, dass Sichtung und Ordnung der Bücher in effiziente Bahnen gelenkt wurde. Die beschlagnahmten Bücher wurden vor allem an Bibliotheken verteilt. Schon im November 1938 war das Lager der Bücherverwertungsstelle auf 300 000 Bände angewachsen, weshalb die Nationalbibliothek zusätzliche Räume in der Hofburg anbot und dadurch leichteren Zugriff auf die Bestände erhielt.
Mit dem größten auf österreichischem Gebiet lagernden Bestand geraubter Bücher hat sich Evelyn Adunka: Die Zentralbibliothek der Hohen Schule in Tanzenberg (S.71ff.) befasst. Der NS-Ideologe Alfred Rosenberg plante die Errichtung einer Parteihochschule für nationalsozialistische Forschung, Lehre und Erziehung. Diesem Konstrukt „Hohe Schule" war auch eine Zentralbibliothek zugedacht, deren wesentlicher Teil aus geraubten Bibliotheken bestand, die der „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg" in den von der Wehrmacht besetzten Ländern von jüdischen Einrichtungen und Gegnern des Nationalsozialismus geplündert hatte. Nach der beginnenden Bombardierung Berlins wurde die Zentralbibliothek (Gesamtbestand: 500 000 – 700 000 Bände) nach Kärnten (St.Andrä und Tanzenberg) evakuiert, von wo der größere Teil in den Jahren nach der Befreiung restituiert wurde. Der Rest gelangte in die Büchersortierungsstelle in Wien. Diese Einrichtung war Ende 1949 als Prüfstelle „herrenlosen" Buchgutes geschaffen worden und wurde von Alois Jesinger geleitet. Als Direktor der Universitätsbibliothek (UB) Wien während der NS-Zeit und 1945 Entlassener schien er für diese Aufgabe offensichtlich besonders prädestiniert gewesen zu sein. Das Gros der Bücher wurde der Universitätsbibliothek Wien zugeführt, ein kleinerer Teil der ÖNB und nur ca. 10 Prozent der 233 520 von der Büchersortierungsstelle gesichteten Bände wurden tatsächlich restituiert.
Die alte Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde IKG (siehe dazu Ingo Zechner: Die Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Entstehung – Entziehung – Restitution und so genannte „herrenlose" Bücher, S.82ff.) wurde abtransportiert und ist höchstwahrscheinlich zum größeren Teil beim Brand des Gebäudes des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin zerstört worden. 1954 nahm eine Bücherkommission der IKG ihre Arbeit auf und konstatierte, dass ca. 200 000 Bände aus Beständen der UB Wien, der ÖNB und einer Verwahrungsstelle des Finanzministeriums mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit aus ehemals jüdischem Besitz stammen. Daraufhin wurde 1956 ein Vergleich zwischen der IKG, dem österreichischen Staat und der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem geschlossen, der diese Buchbestände aufteilte. Die IKG übergab ihren Teil überwiegend der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek „..nicht zuletzt aus der Erwägung heraus, dass mehrere zehntausende österreichische Juden sich in Israel befinden" (S.98ff.), aber auch im damals vorherrschenden mangelnden Vertrauen in die Zukunft jüdischen Lebens in Österreich. Durch diesen problematischen Vergleich wurden elf Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus zum größeren Teil die UB Wien (vor allem Restbestände aus Tanzenberg) und mit einem geringeren Anteil die ÖNB nochmals zu Nutznießern der Einverleibung von Raubbeständen. Erst 2004 begann die UB Wien mit einer Provenienzforschung, die sie Peter Malina anvertraute.
Insgesamt sechs Fallstudien in diesem Band verknüpfen auf exemplarische Weise den Buch- und Kunstraub mit den Lebensgeschichten und Schicksalen der betroffenen Menschen, die – mit einer Ausnahme – alle in den KZ-Lagern der Nazis zu Tode kamen:
Mechthild Yvon: Der jüdische Albanologe Norbert Jokl und seine Bibliothek. Spielball zwischen Begehrlichkeit und akademischer Solidarität? (S.104ff.)
Margot Werner: Raoul Korty – „Der Mann, der in drei Zimmern die Weltgeschichte eingefangen hat" (S.118ff.)
Thierry Elsen / Robert Tanzmeister: In Sachen Elise und Helene Richter. Die Chronologie eines „Bibliotheksverkaufs" (S.128ff.)
Sophie Lillie: „....Eine traurige, lange Geschichte...". Die Enteignung der Bibliothek und Kunstsammlung Oscar L.Ladner (S.139ff.)
Margot Werner: „Ex Bibliotheca Hugo Friedmann Vindobonensis" – Eine Spurensuche (S.149ff.)
Michael Wladika: Der Raub der Bibliothek von Stefan Auspitz (S.159ff.)
Die beraubten Opfer waren bedeutende WissenschaftlerInnen (Romanistin Elise Richter, Anglistin Helene Richter, Albanologe Jokl) und leidenschaftliche Sammler und Bibliophile (Korty, Ladner, Friedmann, Auspitz). Bei den geschilderten Beispielen ist anhand der Spuren der geraubten Objekte eine breite Palette des Umgangs mit Raubgut nach 1945 zu erkennen. Wo keine Erben Ansprüche anmeldeten, wurden Bibliotheken mit unverschämter Selbstverständlichkeit (ÖNB: Jokl-Bibliothek) im Bestand gelassen oder gar erst 1948 (mit dem Vermerk „während der Kriegszeit 1939-45 der Handschriftensammlung zugewiesen": Bibliothek Friedmann) inventarisiert. Andere Geschädigte hatten in den Rückstellungsverfahren einen bürokratischen Spießrutenlauf zu absolvieren, bevor ihnen eine vollständige Restitution bis zu ihrem Tod (Kunstsammlung Ladner) verwehrt wurde. Relativ rasche, wenn auch nicht komplette Rückgabe an Erben (Bibliothek Auspitz) gab es ebenso wie den skandalösen Fall eines sich über Jahrzehnte hinziehenden Rückstellungsverfahrens der Fotosammlung Raoul Kortys, die sich auch heute noch immer in einem Magazin der ÖNB befindet.
Margot Werner: Der Umgang der ÖNB mit ihrer NS-Vergangenheit (S.42ff.) gibt einen instruktiven Überblick über alle Restitutionsaktivitäten der ÖNB nach 1945. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde Ernst Trenkler zum Rückstellungsbeauftragten der ÖNB ernannt. 1944 sortierte derselbe Trenkler in Triest noch im Auftrag von Generaldirektor Heigl die in der dortigen Synagoge lagernden Buchbestände. Gemäß der Vermögensentziehungs-Anmeldungsverordnung von 1946 erstellte Trenkler eine Übersicht der beschlagnahmten Bibliotheken. Schwierig war die Aufnahme der von der Gestapo gelieferten vielen kleinen Bibliotheken anonymer Herkunft, die bereits inventarisiert waren. Noch in Magazinen befindliche und nicht eingearbeitete Bestände von ausländischen Gesandtschaften oder von kulturellen Institutionen aus besetzten Gebieten konnten relativ rasch zurückgestellt werden. Insgesamt wurden bis 1950 150 000 Druckschriften und mehr als 35 000 Sammlungsobjekte (Exlibris, Musikalien, Handschriften, Autographen) restituiert. In der Regel kamen dabei nur jene Geschädigten zu ihrem Recht, die aktiv ihren Rückstellungsanspruch geltend machten. Mehrere Jahrzehnte lang war dann Buchraub und Restitution kein Thema mehr. Der frühere Rückstellungsbeauftragte Trenkler wurde Leiter der ÖNB-Druckschriftensammlung und Autor einer 1973 erschienenen Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek von 1923 bis 1967.
Erst als Folge des Kunstrückgabegesetzes 1998 wurde ab 2002 mit einer gründlichen Überprüfung aller fraglichen Bestände (Generalautopsie) begonnen. Die Historikerin Margot Werner war die Koordinatorin dieser Provenienzforschung und hat einen mehr als 3000 Seiten umfassenden Bericht verfasst und der Kommission für Provenienzforschung vorgelegt: Insgesamt wurden 11 373 Signaturen Sammlungsobjekte und 14 133 Einzelbände Druckschriften als bedenkliche Erwerbungen bewertet.
In ihrem Vorwort zu diesem Buch meint die ÖNB-Generaldirektorin Johanna Rachinger: „Es geht aber nicht allein um die Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung. Entscheidend ist darüber hinaus, als öffentliche Institution endlich jenes Unrechtsbewusstsein zu entwickeln und auch öffentlich zu zeigen, das Jahrzehnte lang gefehlt hat."
Die Autorinnen und Autoren von Geraubte Bücher haben dazu einen gelungenen Beitrag geliefert.

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