Das Gedenkjahr 2005 bot Anlass für
zahlreiche Rückblicke auf 60 Jahre Republik, 50 Jahre
Staatsvertrag und 10 Jahre EU-Mitgliedschaft. Der
Innsbrucker StudienVerlag legte dazu in der Reihe
„Österreich – Zweite Republik: Befund, Kritik,
Perspektive" Bilanzen von führenden Experten aus
verschiedenen Disziplinen vor. Die Reihe entstand in
Zusammenarbeit mit Prof. Hubert Christian Ehalt, dem
unermüdlichen Leiter der Kulturabteilung der Gemeinde
Wien. Die kompakten, schön gestalteten Bände zeigen, das
Österreich nach 1945 nicht die in Festreden gerne
beschworene Erfolgsstory ist, die 1945 gewissermaßen bei
einer „Stunde null" anfangen konnte. Die Altlasten der
Vergangenheit, die sich durch die Zweite Republik
ziehen, werden in den Büchern vom Gerald Stourzh (siehe
die neben stehende Rezension) und Anton Pelinka, einer
der führenden heimischen Politikerwissenschafter,
beispielhaft deutlich.
Die Zweite Republik wurde – wie schon
die Erste – von den politischen Parteien gegründet. Die
Sozialisten und Konservativen, die beiden großen
politischen Parteien, hatten die Jahre der
nationalsozialistischen Diktatur nicht nur überdauert,
sondern konnten fast nahtlos an ihre Traditionen und ihr
jeweiliges Lager anknüpfen. Am größten war noch die
Veränderung des sozialistischen Milieus, hatten doch in
der Zwischenkriegszeit – nach dem Ausscheiden der
Liberalen aus dem politischen Wettbewerb – zwei Drittel
der österreichischen Juden für die Sozialdemokratische
Arbeiterpartei gestimmt. Entsprechend war der jüdische
Anteil unter den sozialistischen Intellektuellen ähnlich
hoch. Für die Zeit nach 1945 konstatiert Anton Pelinka
unter Verweis auf die jüngsten Studien zur Aufarbeitung
der Geschichte des Bunds sozialistischer Akademiker
durch Wolfgang Neugebauer: „An die Stelle von Juden
traten ehemalige Nationalsozialisten."
Kontinuität bestand auch bei der ÖVP,
die zwar im April 1945 in Abstimmung mit der Kirche das
„hohe C", die Bezeichnung „christlich-sozial", aus dem
Namen strich, um nicht allzu deutlich mit dem
Ständestaat identifiziert zu werden. Hochrangige Führer
aus der Zeit bis 1938 setzten in der Zweiten Republik
ihre Karriere jedoch nahtlos fort; Julius Raab ist nur
das prominenteste Beispiel. Insgesamt waren nur relativ
wenige Christlichsoziale von den Nationalsozialisten
verfolgt worden; und die meisten „Überläufer" zum
Nationalsozialismus konnten reintegriert werden. Darüber
hinaus bemühte sich natürlich auch die ÖVP, ehemalige
Nationalsozialisten in die Partei einzubinden.
Durch diese Taktik der beiden
Großparteien fehlte dem angesichts der von den
Alliierten verordneten Entnazifizierungsmaßnahmen erst
1949 zugelassen Verband der Unabhängigen das
traditionelle deutschnationale Führungspersonal. Noch
schlimmer wog natürlich, dass das Hauptziel der
Deutschnationalen seit Ende des 19. Jahrhunderts – der
Anschluss an Deutschland – durch die Katastrophe des
Nationalsozialismus nicht länger mehrheitsfähig war.
Umgekehrt erlebte die absolute Mehrheit der Bevölkerung
die Gründung der Zweiten Republik als positiv – was
natürlich wiederum positiv auf SPÖ und ÖVP abfärbte.
Angesichts des politischen Vakuums
nach 1945 und der negativen Erfahrung mit
Lagermentalität und Bürgerkrieg während der ersten
Republik errichten SPÖ und ÖVP eine Konsens- und
Konkordanzdemokratie. In dem sich etablierenden
Zweieinhalb-Parteiensystem spielten ÖVP und SPÖ eine
Rolle, wie sie Parteien in westlichen Demokratien
üblicherweise nicht zufällt. Nicht nur erreichten sie
bei Wahlen bis in die achtziger Jahre gemeinsam über 90%
der Stimmen. Durch eine Institution wie die
Sozialpartnerschaft teilten sie sich auch den Einfluss
auf die Steuerung des wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Prozesses. Die logische Folge dieses
übermäßigen Einflusses des Parteienstaates war der
Proporz – die wichtigsten gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Positionen wurden nach Parteibuch
vergeben.
Wie Pelinka hervorhebt, gab es
unmittelbar nach 1945 keine Alternative zum
Parteienstaat. Es fehlte sowohl an ausländischen
Investoren, welche in den Wiederaufbau investiert
hätten, als auch an einer politisch selbstbewussten
Zivilgesellschaft. Dies änderte sich erst ab den 70er
Jahren, als die junge, ökologisch und
postmaterialistisch eingestellte Generation begann, sich
in den neuen sozialen Bewegungen zu engagieren. Aus
diesen gingen die 1986 in den Nationalrat eingezogenen
Grünen vor.
Die junge Generation war es auch, die
erstmals den Mythos von Österreich als „erstes Opfer"
Nazi-Deutschlands – und damit den Post-1945-Konsensus –
hinterfragte.
Kristallisationspunkt der
Aufarbeitung der unbewältigten Vergangenheit wurde 1986
der Fall Waldheim. Es zeigte sich, dass, wie Pelinka
schreibt, der Narrativ von einem – jeweils klar
geschiedenen – roten, schwarzen und einem blau-braunen
Lager nicht aufrecht zu erhalten war. Vielmehr hatten
nach 1945 alle Parteien ehemalige Nazis in ihre Reihen
aufgenommen.
Die Entwicklung seit den 1980er
Jahren in Richtung mehr Pluralität ist auch eine
Verwestlichung, eine Europäisierung Österreichs – und
damit eine „Entaustrifizierung". Der Parteienstaat und
damit die Parteien haben an Macht und Einfluss verloren.
Paradoxerweise, so Pelinkas These, hat jedoch gerade
dieser Trend die Politikerverdrossenheit verstärkt – und
der Haider-FPÖ Auftrieb verliehen: Die
Patronage-Erwartungen, welche die Bevölkerung
traditionell mit Politik verbindet, konnten im Zeitalter
der Globalisierung von den Parteien nicht mehr erfüllt
werden. Die Frustration bleibt – gewechselt hat nur der
Adressat: Waren es gestern die „Altparteien", so ist es
heute die Europäische Union.
Anton Pelinkas kleines, aber feines
Buch ist allen an der österreichischen Politik und
Geschichte Interessierten zu empfehlen, die sich einen
Überblick über die Entwicklung des österreichischen
Parteienstaates und –systems und seine – sich zunehmend
abschwächenden – Besonderheiten verschaffen möchten.