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Flüchtlingskinder - Erinnerungen
Cornelia Niedermeier
Claire Felsenburg: Flüchtlingskinder.
Erinnerungen. Vorwort von Elfriede Jelinek. Wien:
Theodor Kramer Gesellschaft und Aktionsradius Augarten
2002.
Die beeindruckenden Erinnerungen von Claire Felsenburg
Preis: Euro 18,-/ SFr 27,-. In Österreich
ISBN 3-901602-17-8,196 Seiten.
Claire Felsenburg, verheiratet mit
Elfriede Jelineks „Onkel-Cousin" Walter, kam 1914
dreijährig nach Wien: als Flüchtlingskind aus Lemberg.
Ihre Erinnerungen sind nun als Buch erschienen.
Wien - Wer hin und wieder Elfriede
Jelineks Homepage aufblättert, stößt dort seit längerem,
fremd zwischen Rubrizierungen wie „Aktuelles", „Texte
zum Theater" oder „Texte zu Österreich", auf ihren
Namen: „Claire Felsenburg".
Claire Felsenburg war, so erfahren
wir Lesenden, verheiratet mit Elfriede Jelineks „Onkel"
(der eigentlich ein um vieles älterer Cousin war), dem
Journalisten Walter Felsenburg. Und Claire Felsenburg,
die 1911 als Clara Sontag in Lemberg zur Welt kam, drei
Jahre, bevor der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und das
Herannahen der Russischen Armee ihre Eltern, Jetty und
Mauricy Sontag, wie Zehntausende anderer galizischer
Juden in die Flucht trieb. Im stinkenden Viehwaggon
gelangten sie bis nach Wien.
In Elendsquartieren
Vierzig Jahre nahm sie sich Zeit für
die Aufzeichnungen über eine Kindheit und Jugend in den
Elendsquartieren der Wiener Brigittenau, über eine
zwanzigjährige Anstrengung, festen bürgerlichen Boden zu
gewinnen, nach der Flucht - und, was niemand damals
ahnte - vor der nächsten Flucht, 1938. Clara Felsenburg,
die sich seit ihrer Emigration über England in die USA
Claire nannte, verfasste die Aufzeichnungen für ihre
Familie, die im fernen Amerika, vom Leben ihrer
europäischen Vorfahren wenig wusste.
Dank Elfriede Jelineks Vermittlung
und der Mitarbeit von Rosemarie Schulak und Konstantin
Kaiser erschienen ihre Erinnerungen unter dem Titel
„Flüchtlingskinder" nun aber im Verlag der Theodor
Kramer Gesellschaft - was ein Glück ist, denn in der
geradlinigen Schlichtheit ihrer blank geputzten Sprache,
im Bemühen um Korrektheit, in der unliterarischen
Authentizität sind die Erinnerungen Claire Felsenburgs,
die im Juli dieses Jahres gestorben ist, eines der
beeindruckendsten Bücher dieses Winters.
Kapitel für Kapitel begleitet sie die
Eltern von Lemberg nach Wien, in ungeheizte Wohnungen,
bestehend aus nur einem Zimmer, in denen es an allem,
selbst an Matratzen, mangelte. In denen hungrige Ratten
durch die Dielen des Holzbodens drangen und den Finger
des neugeborenen Babys benagten. In denen die Mutter es
dennoch vollbrachte, eine öffentliche Suppenküche zu
organisieren, zur Speisung anderer Flüchtlinge.
In denen eine Schneiderwerkstatt
improvisiert wurde und nachts die Kinder, bald waren es
fünf, auf provisorischen Lagern schliefen. In denen oft
das Geld nicht für Strom reichte und manchmal nicht für
die Miete. Aus denen sie delogiert wurden, sich auf der
Straße wiederfanden, behelfsmäßig in einer
Gefängniszelle nächtigten. In denen es Jetty Sontag aber
gelang, diesen fünf Kindern eine behütete, glückliche
Kindheit mit langen Augarten-Nachmittagen zu
ermöglichen.
Neben der detailgenauen Beschreibung
der Flüchtlingssituation im zwanzigsten Wiener
Gemeindebezirk, wo in jenen Jahren Tausende das Los der
Sontags teilten, sind Claire Felsenburgs Erinnerungen
nämlich vor allem eines: die von großer Liebe diktierte
Würdigung dieser mutigen Frau.
Zwanzig Jahre lang hatte Jetty Sontag - von den
orthodoxen Eltern wegen ihrer Heirat noch in Lemberg
verstoßen, vom jähzornigen Mann in Wien geschieden -
erstaunlich trickreich gegen Armut und die Wiener
Bürokratie gekämpft. Bis 1938. Vor den
Nationalsozialisten war sie, von ihren Kindern gerufen,
nach Brüssel geflüchtet. Jahrelang hielt sie sich
versteckt, wurde schließlich aber entdeckt. 1944 starb
sie in Auschwitz. Ihre Kinder haben alle den Krieg
überlebt. (DER STANDARD, Printausgabe, 4.12.2002)
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