Nachdem ich 1996 in meinem Buch über
die Juden im Waldviertel noch bedauernd feststellen
musste, dass leider keine aktuellen Gesamtdarstellungen
über das niederösterreichische Judentum und dessen
Verfolgung vorliegen, kann diese Aussage heute
erfreulicherweise revidiert werden. Das sehr aktive
„Institut für die Geschichte der Juden in Österreich" in
St. Pölten kam bzw. kommt inzwischen der nahe liegenden
Aufgabe nach, sich auch der Geschichte seines
Heimatbundeslandes zu widmen. Von der auf vier Bände
angelegten Geschichte der Juden in Niederösterreich
liegen nunmehr zwei Teile vor, die die Neuzeit und Jahre
der nationalsozialistischen Herrschaft behandeln. Das
Mittelalter und die Blütezeit vom Toleranzpatent bis in
die Erste Republik werden in zwei weiteren Büchern
behandelt werden. Aufgrund der Forschungssituation, die
mit dem Begriff „Lücke" nur verniedlichend zu
beschreiben werden, können sich die Autoren auch nicht
auf die Auswertung und Zusammenfassung vorhandener
Literatur stützen, sondern müssen zu einem wesentlichen
Teil Quellenarbeit leisten. Dass dafür vom
Forschungsfond, vom Land Niederösterreich und
zahlreichen anderen Institutionen Mittel zur Verfügung
gestellt wurden, sei daher eigens dankbar vermerkt.
Während aber für das Mittelalter
manche ältere und für das 20. Jahrhundert relative viele
Spezial- bzw. Lokalstudien vorlagen, gelang es Barbara
Staudinger durch die Auswertung zahlreicher
Herrschaftsarchive ein nicht nur inhaltlich, sondern für
den heutigen Leser auch geographisch überraschend
dichtes jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit
nachzuzeichnen. Wenngleich hier noch weitere
Archivrecherchen möglich und sinnvoll sind, erstaunt es
doch, in Niederösterreich jüdischen Bewohner in nicht
weniger als 74 Siedlungen nachweisen zu können. Während
eine gewisse Bevölkerungskonzentration in den
„Speckgürteln" von Wien und Krems nahe liegend ist und
auch die Siedlungshäufigkeit in den an Mähren und Ungarn
mit ihren grossen jüdischen Gemeinden grenzenden
Bezirken (und nicht im Alpengebiet) logisch anmutet,
verrät der Blick auf die im Vorsatz befindliche
Landkarte eine besondere Intensität an jüdischen
Ansiedlungen im Grenzgebiet von Waldviertel und
Weinviertel, also zwischen Weitersfeld und Langenlois
auf der einen sowie Großkadolz und Sierndorf auf der
anderen Seite. Staudinger erklärt dies mit einer
Vorliebe für die Ansiedlung an den über den Manhartsberg
führenden Handelswegen (S. 59). Vielleicht wäre hier
aber doch auch ein Blick auf die Individualität bzw.
Sozialstruktur der jeweiligen Herrschaftsbesitzer – sei
es landesfürstlich (verpfändet?) oder adelig (z.B.
Liechtenstein, Kurz, Verdenberg) - sinnvoll, da die im
Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmende Akzeptanz
jüdischer Händler entweder generell mit dem Austausch
der Adeligen im Zuge der Gegenreformation oder speziell
mit dem dabei zum Zuge kommenden Aufsteigern aus dem
bürgerlichen Milieu zusammenhängen könnte. Ganz sicher
wird man aber den im Rahmen dieser historischen
Entwicklung feststellbaren merkantilistischen Trend zur
Vergrößerung der Gutsherrschaften sowie zu mehr
Eigenwirtschaft (Fisch- und Schafzucht, Bier- und
Getreideverkauf, Glasproduktion und Holzhandel) dafür
verantwortlich machen können, dass die
Herrschaftsbesitzer an einer über die Juden laufenden
überregionalen Handelsinfrastruktur besonderes Interesse
hatten (siehe dazu S. 211ff: „Tuche, Wolle und Wein: die
Handelsgüter"!) .
Die Autorin zeigt zunächst die
juristischen Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in der
Frühen Neuzeit auf und beleuchtet dann die
geographisch-historische Entwicklung in
Niederösterreich, die wesentlich von der Situation in
Wien bzw. den angrenzenden Ländern geprägt war; so
ließen sich etwa im 16. Jahrundert die aus Laibach/Ljubljana
vertriebenen Juden in Eggenburg nieder. Umgekehrt
wanderten die Wiener und niederösterreichischen Juden
nach ihrer Vertreibung 1670/71 in die angrenzenden
Länder der Habsburgermonarchie weiter. Auch hier wäre
vielleicht die Frage nach einer „Umsiedlung" innerhalb
derselben Herrschaftsinhaber sinnvoll. Der zweite
Abschnitt des Buches (S. 79-163) stellt die einzelnen
jüdischen Gemeinden von Achau bis Zwölfaxing vor. Zur
wichtigsten Gemeinde in Langenlois erschien parallel
auch eine Monographie von Peter Rauscher.
Der dritte Teil des Buches bietet
dann sozusagen die Sicht von innen oder von unten, da
hier die Institutionen der jüdischen Gemeinden, ihrer
Steuerleistung und Wirtschaftsstruktur, aber auch das
religiöse, soziale und familiäre Leben der Juden auf dem
Lande präsentiert und analysiert wird. Ein wichtiger
Bereich ist dabei dem jüdisch-christlichen Zusammenleben
gewidmet, wobei sowohl wirtschaftliche Kooperation als
auch antisemitische Konfrontation behandelt werden.
Zusammenfassend kann also gesagt
werden, dass mit dem Buch von Barbara Staudinger eine
wissenschaftlich ebenso profunde wie gut lesbare Arbeit
vorliegt, die eine wichtige Lücke der
niederösterreichischen Landesgeschichte schließt.
Gleiches lässt sich auch vom vierten
Band der Reihe behaupten, dessen Autor Christoph Lind ja
schon mit seiner Geschichte der jüdischen Gemeinde von
St. Pölten eine wichtige Vorarbeit geliefert hat.
Allerdings geht es in der vorliegenden Arbeit in erster
Linie um die gesetzlichen und institutionellen
Rahmenbedingungen jüdischen Lebens zwischen 1938 und
1945 und weniger um individuelle Schicksale. So spannt
sich der Bogen vom Einmarsch der Nazis und dem
Wirksamwerden der die Juden ausgrenzenden „Nürnberger
Gesetze" am 20. Mai 1938 über das Schicksal der
Kultusgemeinden, der jüdischen Vereine, Stiftungen und
Friedhöfe bis zu den „Arisierungen", dem Verlauf des
Novemberpogroms, der Zwangsarbeit (vorwiegend
ungarischer Juden) in Niederösterreich und der
Vertreibung sowie Deportation der Juden aus
Niederösterreich.
Der Hauptteil des Buches ist den
einzelnen Gemeinden gewidmet von Amstetten bis Wiener
Neustadt. Hier wird zunächst die Vorgeschichte der
jeweiligen Kultusgemeinde referiert, dann werden die
allgemein-gesetzlichen bzw. institutionellen Ereignisse
während der Nazizeit beschrieben. In diesem Zusammenhang
kommt natürlich vorwiegend das Schicksal der jüdischen
Funktionäre zur Sprache, in den Kapiteln über
Hetzkampagnen der Lokalzeitungen oder „Arisierungen"
werden aber auch immer wieder individuelle Vorkommnisse
und persönliche Leidensgeschichten anderer Betroffener
genannt. Aber es ist, wie gesagt, nicht das Anliegen der
Untersuchung, das Leben der Juden in Niederösterreich
anhand von einzelnen Biographien oder
Familiengeschichten abzuhandeln. Diese Funktion erfüllen
u.a. zwei gleichzeitig im selben Verlag erschienene
Bücher, nämlich jene über die jüdische Bevölkerung in
Baden und Wiener Neustadt. Am Ende jedes
Gemeindekapitels wird über die Entwicklung nach 1945
berichtet. Hier erfährt man von der Rückkehr einzelner
Überlebender (z.B. des Schriftstellers Albert Drach in
Mödling, S. 166), über erfolgreiche, wenn auch meist
langwierige Rückstellungen oder Entschädigungszahlungen,
die Schwierigkeiten der Friedhofspflege sowie über das
vielfach unrühmliche Ende auch nicht beschädigter
Synagogen oder Zeremonienhallen: so wurden die Bauten in
Hollabrunn erst bzw. noch 1999, Krems 1978, Mistelbach
1979, Mödling 1987, Neunkirchen 1984 und Klosterneuburg
1991 abgerissen. Dazu fügt sich die Schilderung der
meist ebenso unrühmlichen Diskussionen über die
Errichtung von Denkmälern oder Gedenktafeln, die nicht
nur von FPÖ-Mandataren abgelehnt wurden. Dem steht nur
die Neugründung der Kultusgemeinde Baden mit der
Wiedererrichtung einer Synagoge sowie die Gründung des
St. Pöltner Institutes in der schön renovierten und auch
kunsthistorisch bedeutsamen ehemaligen Synagoge der
Stadt gegenüber.
Der Band enthält auch eine Reihe
informativer Abbildungen, sei es von Personen, Bauten
oder auch Ereignissen und bietet insgesamt über die
Landesgeschichte hinaus auch einen Beitrag zu Geschichte
der Shoah. Als Mangel zu kritisieren ist jedoch das – im
Unterschied zum 2. Band – im Buch von Lind fehlende
Namensregister, das vor allem Ahnen-, Familien-,
Restitutions- und Lokalforschern das Auffinden einzelner
Persönlichkeiten sehr erleichtert hätte, vor allem dann,
wenn diese nicht am Hauptort der Kultusgemeinde ansässig
waren bzw. umgezogen sind oder wenn der Wohnort einer
bestimmten Person überhaupt nicht bekannt ist.