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Zwei wichtige Bücher zur Geschichte der Juden in N.Ö.

Friedrich Polleroß

Barbara Staudinger, „Ganze Dörffer voll Juden". Juden in Niederösterreich 1496-1670 (Geschichte der Juden in Niederösterreich Bd. 2), Wien: Mandelbaum Verlag 2005, 300 Seiten,
Preis: Euro 24,90,
ISBN 3-85476-165-1

Christoph Lind, „Der letzte Jude hat den Tempel verlassen". Juden in Niederösterreich 1938-1945 (Geschichte der Juden in Niederösterreich Bd. 4), Wien: Mandelbaum Verlag 2004, 324 Seiten,
Euro 24,90, ISBN 3-85476-165-4

Nachdem ich 1996 in meinem Buch über die Juden im Waldviertel noch bedauernd feststellen musste, dass leider keine aktuellen Gesamtdarstellungen über das niederösterreichische Judentum und dessen Verfolgung vorliegen, kann diese Aussage heute erfreulicherweise revidiert werden. Das sehr aktive „Institut für die Geschichte der Juden in Österreich" in St. Pölten kam bzw. kommt inzwischen der nahe liegenden Aufgabe nach, sich auch der Geschichte seines Heimatbundeslandes zu widmen. Von der auf vier Bände angelegten Geschichte der Juden in Niederösterreich liegen nunmehr zwei Teile vor, die die Neuzeit und Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft behandeln. Das Mittelalter und die Blütezeit vom Toleranzpatent bis in die Erste Republik werden in zwei weiteren Büchern behandelt werden. Aufgrund der Forschungssituation, die mit dem Begriff „Lücke" nur verniedlichend zu beschreiben werden, können sich die Autoren auch nicht auf die Auswertung und Zusammenfassung vorhandener Literatur stützen, sondern müssen zu einem wesentlichen Teil Quellenarbeit leisten. Dass dafür vom Forschungsfond, vom Land Niederösterreich und zahlreichen anderen Institutionen Mittel zur Verfügung gestellt wurden, sei daher eigens dankbar vermerkt.

Während aber für das Mittelalter manche ältere und für das 20. Jahrhundert relative viele Spezial- bzw. Lokalstudien vorlagen, gelang es Barbara Staudinger durch die Auswertung zahlreicher Herrschaftsarchive ein nicht nur inhaltlich, sondern für den heutigen Leser auch geographisch überraschend dichtes jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit nachzuzeichnen. Wenngleich hier noch weitere Archivrecherchen möglich und sinnvoll sind, erstaunt es doch, in Niederösterreich jüdischen Bewohner in nicht weniger als 74 Siedlungen nachweisen zu können. Während eine gewisse Bevölkerungskonzentration in den „Speckgürteln" von Wien und Krems nahe liegend ist und auch die Siedlungshäufigkeit in den an Mähren und Ungarn mit ihren grossen jüdischen Gemeinden grenzenden Bezirken (und nicht im Alpengebiet) logisch anmutet, verrät der Blick auf die im Vorsatz befindliche Landkarte eine besondere Intensität an jüdischen Ansiedlungen im Grenzgebiet von Waldviertel und Weinviertel, also zwischen Weitersfeld und Langenlois auf der einen sowie Großkadolz und Sierndorf auf der anderen Seite. Staudinger erklärt dies mit einer Vorliebe für die Ansiedlung an den über den Manhartsberg führenden Handelswegen (S. 59). Vielleicht wäre hier aber doch auch ein Blick auf die Individualität bzw. Sozialstruktur der jeweiligen Herrschaftsbesitzer – sei es landesfürstlich (verpfändet?) oder adelig (z.B. Liechtenstein, Kurz, Verdenberg) - sinnvoll, da die im Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmende Akzeptanz jüdischer Händler entweder generell mit dem Austausch der Adeligen im Zuge der Gegenreformation oder speziell mit dem dabei zum Zuge kommenden Aufsteigern aus dem bürgerlichen Milieu zusammenhängen könnte. Ganz sicher wird man aber den im Rahmen dieser historischen Entwicklung feststellbaren merkantilistischen Trend zur Vergrößerung der Gutsherrschaften sowie zu mehr Eigenwirtschaft (Fisch- und Schafzucht, Bier- und Getreideverkauf, Glasproduktion und Holzhandel) dafür verantwortlich machen können, dass die Herrschaftsbesitzer an einer über die Juden laufenden überregionalen Handelsinfrastruktur besonderes Interesse hatten (siehe dazu S. 211ff: „Tuche, Wolle und Wein: die Handelsgüter"!) .

Die Autorin zeigt zunächst die juristischen Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit auf und beleuchtet dann die geographisch-historische Entwicklung in Niederösterreich, die wesentlich von der Situation in Wien bzw. den angrenzenden Ländern geprägt war; so ließen sich etwa im 16. Jahrundert die aus Laibach/Ljubljana vertriebenen Juden in Eggenburg nieder. Umgekehrt wanderten die Wiener und niederösterreichischen Juden nach ihrer Vertreibung 1670/71 in die angrenzenden Länder der Habsburgermonarchie weiter. Auch hier wäre vielleicht die Frage nach einer „Umsiedlung" innerhalb derselben Herrschaftsinhaber sinnvoll. Der zweite Abschnitt des Buches (S. 79-163) stellt die einzelnen jüdischen Gemeinden von Achau bis Zwölfaxing vor. Zur wichtigsten Gemeinde in Langenlois erschien parallel auch eine Monographie von Peter Rauscher.

Der dritte Teil des Buches bietet dann sozusagen die Sicht von innen oder von unten, da hier die Institutionen der jüdischen Gemeinden, ihrer Steuerleistung und Wirtschaftsstruktur, aber auch das religiöse, soziale und familiäre Leben der Juden auf dem Lande präsentiert und analysiert wird. Ein wichtiger Bereich ist dabei dem jüdisch-christlichen Zusammenleben gewidmet, wobei sowohl wirtschaftliche Kooperation als auch antisemitische Konfrontation behandelt werden.

Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass mit dem Buch von Barbara Staudinger eine wissenschaftlich ebenso profunde wie gut lesbare Arbeit vorliegt, die eine wichtige Lücke der niederösterreichischen Landesgeschichte schließt.

Gleiches lässt sich auch vom vierten Band der Reihe behaupten, dessen Autor Christoph Lind ja schon mit seiner Geschichte der jüdischen Gemeinde von St. Pölten eine wichtige Vorarbeit geliefert hat. Allerdings geht es in der vorliegenden Arbeit in erster Linie um die gesetzlichen und institutionellen Rahmenbedingungen jüdischen Lebens zwischen 1938 und 1945 und weniger um individuelle Schicksale. So spannt sich der Bogen vom Einmarsch der Nazis und dem Wirksamwerden der die Juden ausgrenzenden „Nürnberger Gesetze" am 20. Mai 1938 über das Schicksal der Kultusgemeinden, der jüdischen Vereine, Stiftungen und Friedhöfe bis zu den „Arisierungen", dem Verlauf des Novemberpogroms, der Zwangsarbeit (vorwiegend ungarischer Juden) in Niederösterreich und der Vertreibung sowie Deportation der Juden aus Niederösterreich.

Der Hauptteil des Buches ist den einzelnen Gemeinden gewidmet von Amstetten bis Wiener Neustadt. Hier wird zunächst die Vorgeschichte der jeweiligen Kultusgemeinde referiert, dann werden die allgemein-gesetzlichen bzw. institutionellen Ereignisse während der Nazizeit beschrieben. In diesem Zusammenhang kommt natürlich vorwiegend das Schicksal der jüdischen Funktionäre zur Sprache, in den Kapiteln über Hetzkampagnen der Lokalzeitungen oder „Arisierungen" werden aber auch immer wieder individuelle Vorkommnisse und persönliche Leidensgeschichten anderer Betroffener genannt. Aber es ist, wie gesagt, nicht das Anliegen der Untersuchung, das Leben der Juden in Niederösterreich anhand von einzelnen Biographien oder Familiengeschichten abzuhandeln. Diese Funktion erfüllen u.a. zwei gleichzeitig im selben Verlag erschienene Bücher, nämlich jene über die jüdische Bevölkerung in Baden und Wiener Neustadt. Am Ende jedes Gemeindekapitels wird über die Entwicklung nach 1945 berichtet. Hier erfährt man von der Rückkehr einzelner Überlebender (z.B. des Schriftstellers Albert Drach in Mödling, S. 166), über erfolgreiche, wenn auch meist langwierige Rückstellungen oder Entschädigungszahlungen, die Schwierigkeiten der Friedhofspflege sowie über das vielfach unrühmliche Ende auch nicht beschädigter Synagogen oder Zeremonienhallen: so wurden die Bauten in Hollabrunn erst bzw. noch 1999, Krems 1978, Mistelbach 1979, Mödling 1987, Neunkirchen 1984 und Klosterneuburg 1991 abgerissen. Dazu fügt sich die Schilderung der meist ebenso unrühmlichen Diskussionen über die Errichtung von Denkmälern oder Gedenktafeln, die nicht nur von FPÖ-Mandataren abgelehnt wurden. Dem steht nur die Neugründung der Kultusgemeinde Baden mit der Wiedererrichtung einer Synagoge sowie die Gründung des St. Pöltner Institutes in der schön renovierten und auch kunsthistorisch bedeutsamen ehemaligen Synagoge der Stadt gegenüber.

Der Band enthält auch eine Reihe informativer Abbildungen, sei es von Personen, Bauten oder auch Ereignissen und bietet insgesamt über die Landesgeschichte hinaus auch einen Beitrag zu Geschichte der Shoah. Als Mangel zu kritisieren ist jedoch das – im Unterschied zum 2. Band – im Buch von Lind fehlende Namensregister, das vor allem Ahnen-, Familien-, Restitutions- und Lokalforschern das Auffinden einzelner Persönlichkeiten sehr erleichtert hätte, vor allem dann, wenn diese nicht am Hauptort der Kultusgemeinde ansässig waren bzw. umgezogen sind oder wenn der Wohnort einer bestimmten Person überhaupt nicht bekannt ist.

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