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„Jossel
Rackower" Felix Schneider
Rudolf Pesch
Anna Maria Jokl und der „Jossel Rackower"
von Zvi Kolitz
Mit einem „Geleitwort" von Itta Shedletzky und der
„Nachbemerkung eines Philologen" von Norbert Oellers
WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2005
206 Seiten, broschiert
Preis: Euro 22,50
ISBN 3-88476-787-9
Ein Buch, vielmehr eine Dokumentation
des Theologen und Historikers Rudolf Pesch, geschrieben
einzig und allein mit dem Ziel, verschobene Relationen
im „Ringen um die Authentizität des Schöpferischen"
wieder zu Recht zu rücken. Die Materie ist schwierig und
die Komplexität des literarischen Streits, der im
Zentrum der mehr als 200 Seiten abgehandelt wird, in
einer Kurzrezension auch nur annähernd nachzuvollziehen,
geradezu unmöglich. Dabei geht es nicht um das Ansehen
des Autors selbst. Dieser fungiert lediglich als
Fürsprecher. Es geht um das literarische Vermächtnis der
2001 verstorbenen jüdisch-österreichischen
Schriftstellerin Anna Maria Jokl - und um eigentlich
vielmehr als das - es geht um Wahrheitsfindung und
Wahrheitsverdunkelung.
Doch der Reihe nach:
Am 25. September 1946 veröffentlicht
der Journalist Zvi Kolitz anonym in der kleinen
argentinischen Zeitung „El Diario Israelita" in Buenos
Aires in jiddischer Sprache einen Text, der von Anna
Maria Jokl später einmal als „Essenz aus dem Schmelzofen
eines sechsmillionenfachen Todes" bezeichnet werden
sollte. Die Rede ist von der Erzählung „Jossel Rackower
spricht zu Gott". Es ist dies die fiktive Geschichte des
Ghettokämpfers Jossel Rackower, der im Warschauer
Aufstand 1943 gegen die deutschen Besatzer auf
verlorenem Posten und in Erwartung des sicheren Todes zu
Gott spricht. Der von Gott mit einem Schicksal hiobschen
Ausmaßes geprüfte Jossel verlangt „Rechenschaft von
Gott, da die Strafe alles Maß der Sünde übersteigt"
(Anna Maria Jokl). Die erschütternde Erzählung endet
jedoch mit einem Bekenntnis, dass literarisch
seinesgleichen sucht: Jossel spricht zu Gott: „Und das
sind meine letzten Worte an Dich, mein zorniger Gott: es
wird Dir nicht gelingen! Du hast alles getan, damit ich
nicht an Dich glaube, damit ich an Dir verzweifle! Ich
aber sterbe, genau wie ich gelebt habe, im felsenfesten
Glauben an Dich." (Übersetzung Anna Maria Jokls , 1955)
Der fulminante, aber versteckt
publizierte Text geriet zuerst in Vergessenheit, bis er
erneut 1954 in Tel Aviv (und kurz darauf auch in
München) - wiederum anonym und auf jiddisch -
veröffentlicht wurde. Erst jetzt kam die
Schriftstellerin mit Kolitz´ Werk in Kontakt und machte
sich sogleich daran, diesen ins Deutsche zu übersetzen
und damit der deutschsprachigen Öffentlichkeit
zugänglich zu machen. Durch fehlende Autorenschaft für
ein authentisches Dokument aus dem Warschauer Ghetto
gehalten, avancierte der „Jossel" innerhalb kürzester
Zeit zum Mythos. Zvi Kolitz hatte seine Erzählung von
1946 ganz bewusst auf den 23. April 1943 „vordatiert",
um die Authentizität (die bei gleichzeitiger Anonymität
ungewollt für solche Verwirrung sorgen sollte) noch zu
steigern. Groß war daher die Überraschung und auch das
öffentliche Misstrauen, als sich Zvi Kolitz 1955 als
Autor zu dem Text bekannte. Die Tatsache, dass es sich
in Wahrheit um kein historisches Dokument handelte,
enttäuschte vor allem jene, die die Erzählung bereits
als einen dokumentarischen Meilenstein der Geschichte
des Holocaust begriffen hatten, der sich nun als - wenn
auch brillante - Fiktion herausstellte. Anna Maria Jokl
nahm sofort Kontakt zu Zvi Kolitz auf und stellte sich
in weiterer Folge demonstrativ hinter den in einer
ersten Reaktion von vielen angefeindeten Autor und sein
Werk.
Nachdem die Geschichte in der
deutschen Übersetzung von Anna Maria Jokl bereits
mehrfach – wenn auch eher unspektakulär - veröffentlicht
worden war, nahm im Jahre 1993 der Schriftsteller Paul
Badde die fiktive „Geburt" des Jossel Rackower zum
Anlass und erklärte seine Absicht, anlässlich des
50-jährigen „Jubiläums" die Übersetzung noch einmal
veröffentlichen zu wollen. Anna Maria Jokl jedoch
verweigerte ihm die Genehmigung zum Abdruck ihrer
Übersetzung, weil sie Angst hatte, den Text am Ende
zwischen bunter Hochglanz-Werbung wieder zu finden.
Dieser Umstand bewog den bereits in Zeitnot geratenen
Paul Badde, sich um eine eigene Übersetzung des Textes
zu bemühen. Dies geschah laut Autor im Rahmen einer
Reihe ungünstigster Umstände, da Badde zum fraglichen
Zeitpunkt weder das Original (oder eine vollständige
Kopie davon) besaß, noch selbst des Jiddischen mächtig
war. Trotzdem konnte seine Übersetzung termingerecht im
„Magazin" der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 23.
April 1993 abgedruckt werden. Das Ergebnis erregte indes
den Zorn Anna Maria Jokls.
Die Schriftstellerin äußerte in
weiterer Folge den Verdacht, dass es sich bei Baddes
Übersetzung, die (laut Baddes eigenen Angaben) in nur
wenigen Tagen entstanden und zu hohem Prozentsatz (laut
Pesch zu ca. 4/5) mit der Übersetzung Jokls identisch
war, zum Grossteil um eine (fehlerhafte) Fälschung
handelte – was Paul Badde wenig überraschend zurückwies.
Ein Plagiatsverdacht stand im Raum, der auch nach Jokls
Tod (2001) nicht verstummen wollte.
Worum geht es? Es geht um Fairness.
Rudolf Pesch (und seine Mitstreiter) wollen in erster
Linie Gerechtigkeit ob der Pionierleistung der „große
alte Dame aus Jerusalem" (Norbert Oellers). Es kann kein
Zweifel bestehen, dass es Anna Maria Jokl war, die den „Jossel
Rackower" durch ihre erste Übersetzung einer großen
(deutschsprachigen) Öffentlichkeit zugänglich gemacht
hat. Dies belegt auch ihr intensiver textbezogener
Briefverkehr zu Thomas Mann oder etwa Richard von
Weizsäcker und natürlich dem Autor Zvi Kolitz selbst, um
nur einige zu nennen. Die zahlreichen kommerziellen
Veröffentlichungen des „Jossel" durch Paul Badde (seit
1993 nicht weniger als fünf) passen da in das von Jokl,
Pesch und anderen Persönlichkeiten gezeichnete Bild,
Paul Badde wolle – bei geringer eigener schöpferischer
Leistung - Anna Maria Jokls Arbeit zumindest
marginalisieren, wenn nicht gar „verdunkeln".
Ein intensiver, ja stellenweise
minutiös-kriminalistischer Versuch der Wahrheitsfindung
und Richtigstellung ist nun Inhalt des vorliegenden
Bandes. Die Dokumentation Rudolf Peschs ist ob ihrer
Fülle von Querverweisen, Zeitzeugen und akribisch -
zusammengetragener Chronologie der Ereignisse von
geradezu erdrückender Plastizität und man fragt sich
automatisch, wie man damit umgehen soll. Abgesehen von
den überaus schwierigen Beziehungen, die die handelnden
Parteien (mitsamt ihren involvierten Partnern) im Rahmen
ihres Streits auszeichnet, ist es aber für den Kritiker
– in letzter Konsequenz – unmöglich, zu einem
endgültigen Urteil zu gelangen, ohne eben die
Standpunkte beider Parteien detailliert zu kennen.
Obgleich, es würde wohl ein eigenes Bändchen füllen,
alle bei Rudolf Pesch verzeichneten Verdachtsmomente
entkräften zu wollen. Eine Rechtfertigung Paul Baddes
steht freilich noch aus – wir dürfen sie mit Spannung
erwarten.
Welchen Standpunkt der Leser aber
auch immer beziehen mag: Was bleibt, ist die im Band
enthaltene Synopse, der vollständig abgedruckte Text des
„Jossel Rackower", original in jiddischer Sprache und –
parallel dazu - die beiden Übersetzungen von Jokl (1956)
und Badde (1993) zum Zwecke des direkten Vergleiches mit
ausführlichem Kommentar.
Wie ein Fels in der Brandung steht
dieser Text und ungeachtet der Querelen rund um seine
Entdeckung und Übersetzung bleibt er literarisches
Urgestein, das uns alle überdauern wird. Sein hiobscher
Charakter macht uns hilflos in unserer Welt des
Überflusses, beschämt uns ob unserer eigenen banalen
Probleme. Es gibt wenige Texte, die so nachhaltig
erschüttern wie diese Erzählung.
„Jossel Rackower spricht zu Gott"
gehört in jedes Schulbuch.
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