Nikolaus Scholik
Gerald Stourzh
Gibt es die Stunde Null? Wie kam es zu Staatsvertrag
und Neutralität? Studienverlag Innsbruck
Preis: Euro 9,90 (A)
ISBN 3-7065-4160-2, 112 Seiten
1945 und 1955: Geschichte lernen und lehren
Das Gedenkjahr 2005 hat in vielerlei
Hinsicht Interessantes hervorgebracht; aus dem
tagespolitischen Gezänk natürlich nicht ausgeklammert,
sind dennoch vielerorts Bemühungen und Anstrengungen
unternommen worden, dieses runde Jubiläum würdig zu
begehen. Von Ausstellungen, Literaturkoffern über
Vorträge und Gedenk-sitzungen – ganz Österreich
versuchte, über das gemeinsam Erreichte stolz zu sein.
Es blieb dem renommierten Historiker
Gerald Stourzh überlassen, einen zwar nicht im
Rampenlicht stehenden, aber umso wichtigeren Beitrag zu
leisten: der im Studienverlag erschienene, erste Band
der Reihe „Österreich – Zweite Republik" setzt sich nach
zwei Vorträgen des Autors im Gedenkjahr zu diesem Thema
mit den Schlüsseldaten der Zweiten Republik, der so
genannten Stunde Null 1945 und dem Staatsvertrag 1955,
auseinander. Während das Fragezeichen im Untertitel beim
zweiten, kürzeren Teil noch berechtigt sein mag, ist es
in Hinblick auf den nach wie vor bestehenden
Historikerstreit um die Bedeutung oder Berechtigung,
1945 als Stunde Null der Zweiten Republik zu betrachten,
Zeichen einer sehr persönlichen Haltung des Autors als
Zeitgenosse zu deuten. Geschichte, so auch in der
Vorbemerkung des Herausgebers zu lesen, stellt einen
dauerhaften Prozess der Fragestellung und im Ansatz
kritikbewussten Aufarbeitung der Vergangenheit dar.
Mythos soll von Wahrheit, Interessensgebundenheit von
Losgelöstheit und intellektueller Redlichkeit getrennt
werden.
Diesen Vorgaben verpflichtet, hat
sich Stourzh dem nicht ganz einfachen dualen
Themenkomplex in doppelter Hinsicht gewidmet: als
Zeitzeuge und Historiker. Werden doch so diffizile
Fragen wie die Entnazifizierung, die Rolle der Jahre
1933 bis 1938 im Prozess bis und nach 1945, die
Aufarbeitung der Jahre unter nationalsozialistischer
Herrschaft und der Umgang mit dem damals, vor allem der
jüdischen Bevölkerung Österreichs aufgezwungenem Unrecht
und Leid mit persönlichem Engagement, profundestem
historischem Wissen und einer positiven Kraft und
Objektivität dargelegt, die als beispielhaft gelten
darf. Dabei geht Stourzh insbesondere im
Kapitel 1/"1.3 Das Ende der NS-Herrschaft" auf die
Kernfrage des Rassismus und Antisemitismus ein – sowohl
als junger Zeitzeuge, als auch als Historiker. Das
Verhalten der jungen Republik gegenüber den
Vertriebenen, den Opfern des Holocaust und des
Nationalsozialismus in diesen ersten Jahren ihres
Bestehens wird von ihm, bemüht um historisches
Verständnis und Übersicht, klar und ungeschminkt
dargestellt, wobei sowohl die schon damals nicht so
wahr-genommenen Bemühungen um Darstellung und Diskussion
zur Katastrophe der jüdischen Bevölkerung Österreichs,
als auch die negativen Seiten des partiell- kollektiven
„Schlussstrich-Ziehens", klar aufgezeigt werden.
Es ist Stourzh somit gelungen, diese
so schwierigen Jahre auf dem Weg zur Überwindung der
mitverantwortlichen Vergangenheit und Schaffung eines
korrekten Geschichts- und Verantwortungsbewusstseins
Österreichs und in Österreich sowohl als Zeitzeuge als
auch als Historiker lebendig und spannend
nachzuzeichnen.
Der systematisch gegliederte, grafisch und von der
Klarheit her vorbildlich gestaltete erste Band der neuen
Buchreihe stellt ein großes Versprechen dar. Vor allem
die Jugend dieses Landes sollte und müsse sich über
diese Zeit und ihre Bedeutung für die Zweite Republik
und ihre Gegenwart besser informieren – warum nicht die
kühne Idee äußern, dass dieser Band, diese Reihe in die
Pflichtlektüre an den Maturaklassen aller
österreichischen höheren bildenden Schulen aufgenommen
werden sollte? Vermutlich wird aber, und auch diesem
Kapitel widmet sich Stourzh, eine „machiavellistische
Behörde" das nicht goutieren oder gar realisieren
wollen. Sind aber dann nicht auch wir, die Generation
der Eltern, verpflichtet, im Sinne der Holschuld in der
Demokratie unseren jugendlichen Söhnen und Töchtern
diesen Band zum Geschenk zu machen, um derart zu
informieren und letztlich zu Kenntnis, Verständnis und
vor allem Festigung ihres demokratischen Bewusstseins
nachhaltig beizutragen?