Friederika Richter: Berta Camilla
Sara von Hartlieb.
Eine außergewöhnliche Wiener Jüdin und Wladimir von
Hartlieb. Herausgegeben von Erhard Roy Wiehn.
Hartung-Gorre Verlag, Konstanz 2006.
178 Seiten
ISBN 3-86628-057-2
EUR 14,90.-
Animiert von einem rätselhaften
Gedicht, das ihr Freund in einem Bericht seines Onkels
Wladimir von Hartlieb fand, macht sich die Malerin
Friederika Richter daran, die Lebensgeschichte der darin
genannten, ihr völlig unbekannten Frau nachzuzeichnen.
Bei dieser handelt es sich um Berta Camilla („Milla")
Sara von Hartlieb.
1879 im ungarischen Szombathely als
Berta Nussbaum in eine jüdische Familie geboren, wuchs
sie bei ihrem Onkel und ihrer Tante im burgenländischen
Rechnitz auf; ihr Vater hatte die Familie bei ihrer
Geburt verlassen. 1891 zog sie mit ihrer Mutter nach
Wien, um das Gymnasium zu besuchen. 1900 brachte Milla
ihre Tochter Ernestine zur Welt – unehelich. Sie ließ
ihre Tochter evangelisch taufen, nachdem sie selbst zum
evangelischen Glauben übergetreten war. Bei Ernestines
Vater handelte es sich um Oberstleutnant Ernst Hazay; er
verunfallte 1914. (Den Namen Hazay nahm Milla erst 1928
an.)
Milla galt als eine ausgesprochen
schöne Frau, und dank ihres guten Geschmacks, den sie im
Modegeschäft ihres Verwandten bewies, gelang es ihr,
Zugang zur besseren Gesellschaft zu erlangen: Eine
Kundin, die Gräfin Hozy, wählte sie als Gesellschafterin
aus. Gleich bei ihrer ersten gemeinsamen Auslandsreise
nach Monte Carlo 1914 packte Milla im Casino das
Spielfieber.
Im Casino, nämlich in Velden am
Wörther See, war es auch, wo sie im Jahre 1926 den
Dichter Wladimir von Hartlieb (1887–1951) kennen lernte,
den sie im November 1933 heiratete. Vermutlich
verschwieg sie ihm, dass sie jüdischer Abstammung war:
Wladimir von Hartlieb verspürte bis ungefähr 1940 – in
diesem Jahr verhängte das NS-Regime wegen seiner Ehe mit
einer Jüdin ein Publikationsverbot gegen ihn – große
Sympathien für den Nationalsozialismus, und Zeit seines
Lebens hielt er an seiner Judenfeindschaft fest. Aus
seinen Tagebuchaufzeichnungen während des Krieges geht
hervor, dass er zwar das NS-Regime kritisierte, sich
ideologisch indes nicht läuterte, sondern den
Nationalsozialismus aus anderen Motiven kritisierte:
„Niemand kann heute das sogenannte
nationalsozialistische Regime mehr verabscheuen als
derjenige, der seinerzeit dessen Sieg herbeiwünschte,
weil er in der jüdischen Vorherrschaft ein
unerträgliches Übel sah, dem durch gerechte und
vernünftige Maßnahmen abgeholfen werden mußte.
Ich, der ich selbst in dieser Lage war, muß sogar sagen,
daß der Nationalsozialismus an niemandem ein größeres
Verbrechen beging als an diesen Anhängern und
Mitkämpfern, die er auf eine noch härtere Folter warf
als die Juden selbst; denn sicherlich ist die moralische
Folter härter als die physische."
Nach Millas kurzzeitiger Internierung
wegen regimekritischer Aussagen nach dem „Anschluss"
schien es dem Paar ratsam, sich scheiden zu lassen.
Dennoch setzte sich Hartlieb für Milla auch nach der
Scheidung (und seiner erneuten Heirat 1941) ein, so als
sie 1940 für 9 Monate verhaftet wurde. 1942 wurde sie
nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 21. November
desselben Jahres starb.
Der Aufwand, den Richter für ihre
Recherchen betrieb, war enorm: Wladimir von Hartlieb
hinterließ neben seinen veröffentlichten Werken
unzählige Tagebücher, Briefe und Entwürfe, die es in der
Österreichischen Nationalbibliothek zu sichten galt.
Das Buch ist engagiert geschrieben,
doch erkennt man am mitunter zu schwulstigen Stil, dass
Richter keine „gelernte" Schriftstellerin ist.
Bemerkenswert sind Richters Illustrationen, wobei sie
voll und ganz auf Fantasie und Intuition setzen musste –
es ist kein Foto von Milla von Hartlieb überliefert.
Insgesamt schafft Richter es, ein sympathisches Porträt
vorzulegen, das an eine Wiener Jüdin erinnert, die ein
unkonventionelles und nicht einfaches Leben geführt hat,
das 1942 von den Nazis gewaltsam beendet wurde.
Genauso bemerkenswert ist aber auch
das – alles andere als sympathische – Bild, das sich
aufgrund der ausgewählten Tagebuch-Einträge von Wladimir
von Hartlieb ergibt. Es zeigt ihn als einen aufmerksamen
und teils auch kritischen Beobachter der NS-Zeit, der
aber ob seiner ideologischen Verblendung den Balken im
eigenen Auge nicht sehen konnte.