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JUDEN IM GETTO LITZMANNSTADT

Alfred Gerstl

Andrea Löw
Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten.
Göttingen: Wallstein Verlag 2006.
584 Seiten mit 24 Abbildungen, gebunden. Euro 47,30 Euro.
ISBN 3-8353-0050-4

Auch wenn sie nicht Herren über ihr eigenes Schicksal waren, so wollten die im Getto Litzmannstadt lebenden Juden doch zumindest die Wahrheit über ihr Leben und Sterben selbst überliefern. Ganz bewusst schrieben sie deshalb ihre Berichte und Tagebücher für „zukünftige Historiker". Auch die jüdische Verwaltung des Gettos richtete eigene Abteilungen ein, die der Dokumentation der Ereignisse im Getto dienten. Gestützt auf diese Quellen, ist es die große Leistung des hervorragenden Buches „Juden im Getto Litzmannstadt" von Andrea Löw, das Leben und den Alltag im Getto zu schildern, in dem es zu innerjüdischen Konflikten ebenso wie zu Liebesbeziehungen kam.

Ausführlich schildert die Autorin, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen, den Forschungsstand über Litzmannstadt. Da die relevante Literatur überwiegend in polnischer oder jiddischer Sprache verfasst wurde, war sie im Westen lange Zeit relativ wenig bekannt. Hinzu kam natürlich die Teilung Europas nach 1945, die dem wissenschaftlichen Austausch über die Blockgrenzen nicht eben förderlich war. Eine zusätzliche Problematik liegt in der von ideologischen und persönlichen Überzeugungen bestimmten Einschätzung der Rolle des Judenrates des Gettos, namentlich von dessen Leiter Mordechai Chaim Rumkowski.

Das in Lodz gelegene Getto Litzmannstadt – nach Warschau das zweitgrößte von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg errichtete Getto – bestand von 1940 bis 1944; in ihm lebten bei seiner Einrichtung über 160.000 Menschen. Ab Sommer 1944 deportierten die Nationalsozialisten die letzten im Getto lebenden Juden – knapp 70.000 – nach Auschwitz-Birkenau.

Vor 1939 zählte Lodz circa 230.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger, knapp ein Drittel aller Einwohner. Sie hatten großen Anteil daran, dass Lodz sich nach 1850 zum europäischen Zentrum der Textilindustrie entwickeln konnte. Neben den Juden waren die deutschen Einwohner die sozioökonomisch führende Bevölkerungsgruppe, während die Polen meist Industriearbeiter waren. Wie überall in Europa gab es neben einer kleinen Elite gut assimilierter, der deutschen Kultur zugeneigten Juden aus der Mittel- und Oberschicht eine viel größere Gruppe traditioneller und orthodoxer Juden, die teilweise auf soziale Unterstützung ihrer reicheren Glaubensgenossen angewiesen waren. Entsprechend waren auch die politischen Einstellungen der Juden in Lodz sehr unterschiedlich.

Die Nationalsozialisten hatten dem Getto eine Scheinautonomie zugestanden, weshalb der Judenrat für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung zuständig war. Auch die Lebensmittelversorgung, die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung, die Sicherstellung des Unterrichts, die Herausgabe einer eigenen Währung, die Organisation des Postwesens, das Vorgehen gegen Schmuggel oder die Zuteilung der Arbeitskräfte an die für den deutschen Bedarf produzierenden Betriebe (überwiegend in der Textilindustrie) oblagen der Behörde. Gegen die Maßnahmen des Judenrates, der den Mangel verwalten musste, regte sich häufig Protest der Gettobewohner.

Im Juni 1944 beschlossen die Nationalsozialisten die Auflösung des Gettos Litzmannstadt, und die ersten Deportationen setzten ein. Ab August 1944 wurden die meisten Getto-Bewohner nach Auschwitz verschickt. Auch Rumkowski kam in Auschwitz ums Leben. Fest steht nur, dass er unmittelbar nach seiner Ankunft ermordet wurde; ob von der SS oder von Juden aus Litzmannstadt, die sich an ihm rächen wollten, ist jedoch ungeklärt.

Niemals vergessen. Dass man sich auch in Zukunft an das Schicksal der Juden im Getto Litzmannstadt erinnern wird, dass man sich an den Alltag der im Getto Lebenden erinnert, der neben existenziellen Bedrohungen buchstäblich auch alltägliche Erlebnisse wie Arbeit, Liebe, Kultur umfasste – dazu leistet Andrea Löw mit der Aufarbeitung der im Getto verfassten Erinnerungen einen wichtigen Beitrag: Sie hat den Opfern ihre Stimme zurückgegeben.

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