Susanne Falk
Renate Welsh: Die schöne Aussicht
München: dtv 2005.
237 Seiten, Euro 14,00.-
ISNBN-3423244941
Rosa ist ein ungeliebtes Kind, das
Produkt einer Ehe zwischen einer unglücklichen und
lieblosen Mutter und eines alkoholkranken Vaters. Die
Mutter verschweigt ihre Schwangerschaft im Alter von
fünfzig Jahren, das Kind ist ihr peinlich; der Vater
ignoriert sie zunächst, später misshandelt er Rosa
schwer. Einzig der Bernhardiner der Familie gibt ihr das
Gefühl von Geborgenheit und Zuneigung. Als er stirbt,
zieht sich das Kind endgültig in sich zurück.
Rosas Familie betreibt ein Wirtshaus
im Wien der Zwischenkriegszeit, Bildung wird ihr
weitgehend vorenthalten. Als sie mit der Schule fertig
ist, gibt die Mutter sie gegen Rosas Willen in die Lehre
zu einer Weißnäherin. Ihre Lehrmeisterin, Frau Michalek,
nimmt im Laufe der Zeit die Rolle einer Ersatzmutter
ein. Gleichzeitig begegnet Rosa ihrer ersten Liebe,
Josef, mit dem sie abseits aller Tabus Glück und
erfüllte Sexualität erlebt. Doch Josef stirbt bei einem
tragischen Unfall und Rosa wird, nicht zuletzt auf
Wunsch ihrer Mutter, an einen älteren Witwer
verheiratet. Es ist das Jahr 1938 und die
Nationalsozialisten auch in Österreich auf dem
Vormarsch. Rosa verliert ihre Stellung, denn Frau
Michalek ist Jüdin und flieht vor den Nazis nach Prag.
Aus Verbundenheit zu Frau Michalek geht Rosa daher in
Opposition zu ihrer nationalsozialistischen Familie.
Überrascht stellt sie fest, dass auch ihr Ehemann
Ferdinand sich dem Widerstand angeschlossen hat. Nicht
zuletzt dadurch entwickelt sich die Beziehung von einer
Zweckehe zur großen Liebe. Doch Ferdinand wird verhaftet
und kommt schließlich 1944 um. Rosa sucht daraufhin
Anschluss bei den Ehefrauen anderer Widerstandskämpfer,
später bei den Trümmerfrauen Wiens. Die Gemeinschaft ist
fragil, denn auch hier verliert Rosa immer wieder
Vertrauenspersonen durch Krieg, Krankheit und Willkür.
Der größte Verlust ist jedoch ihr unfreiwilliger
Verzicht auf ein Kind, den sie ihr Leben lang nicht mehr
kompensieren kann.
Die Geschichte Rosas basiert
teilweise auf einer wahren Geschichte. Renate Welsh
entwirft mit ihrer Protagonistin das eindringliche
Portrait einer Frau, die in ihrer Sensibilität und ihrer
Einsamkeit zutiefst berührt. Der klare, nüchterne
Sprachstil von Welsh unterstützt den Gegensatz zwischen
der inneren Welt Rosas und der äußeren Welt einer
verrohten Gesellschaft meisterhaft. Die Sehnsucht Rosas
nach einem geborgenen Familienleben und die
wiederkehrende Zerstörung ihrer Hoffnung auf privates
Glück stehen stellvertretend für das Schicksal einer
verlorenen Generation. Rosa bleibt zudem die Übertragung
ihrer Sehnsüchte auf mögliche Nachkommen verwehrt – für
die Figur der Rosa ein untragbarer Verlust, den ihr
reales Vorbild in der Aufrechterhaltung einer fiktiven
Familie zu verarbeiten suchte. Unter den vielen Frauen-Schicksalsromanen
der letzten Jahre nimmt dieses Buch durch sprachliche
Qualität und das große Maß an Authentizität eine
herausragende Rolle ein.