Martina Thiele: Publizistische
Kontroversen über den Holocaust im Film. 2.,
überarbeitete Auflage. Berlin: LIT Verlag 2007.
570 Seiten; Euro 34,90
ISBN: 978-3-8258-5807-0.
Seit den 1940er Jahren sind
Regisseurinnen und Regisseure unterschiedlichster
nationaler, kultureller und religiöser Sozialisation
bemüht, die Vernichtung der europäischen Juden
angemessen ins Bild zu setzen. Die Palette reicht von
Dokumentarfilmen wie Todesmühlen (D/USA 1945,
Hanus Burger und Georg Salmony) über Spielfilme wie
Die Passagierin (PL 1963, Andrzej Munk) bis hin zu
satirisch-komödiantischen Annäherungen wie Der große
Diktator (USA 1940, Charlie Chaplin) und Mein
Führer (D 2006, Dani Levy). Diese Visualisierungen
rufen meist heterogene Reaktionen hervor, stehen sie
doch in einem multipolaren Spannungsfeld, das sich aus
den Filmschaffenden, den Überlebenden des Holocaust, den
als Vermittlungsinstanzen fungierenden unterschiedlichen
Medienorganen, dem akademischen Diskurs und dem Publikum
als eigentlicher Adressat künstlerischer Kreativität
konstituiert.
Die Kommunikationswissenschafterin
Martina Thiele rückt in ihrer voluminösen Monografie,
die im Jahr 2000 an der Universität Göttingen als
Dissertation approbiert wurde und seit kurzem in einer
zweiten, überarbeiteten Auflage des Berliner LIT
Verlages vorliegt, jene intermediäre Ebene des
öffentlichen Diskurses ins Blickfeld, der zum
überwiegenden Teil in den Printmedien ausgetragen wird.
Unter primärer Berücksichtigung der sogenannten
Meinungsführermedien, zu denen Thiele Vertreter der
Tages- und Wochenpresse wie „Frankfurter Allgemeine",
„Süddeutsche Zeitung" und „Der Spiegel" zählt, begibt
sie sich auf die Spuren der titelgebenden
publizistischen Kontroversen rund um sechs exemplarische
Filmproduktionen. In ihrer Auswahl kapriziert sie sich
nicht allein auf allseits bekannte, uniforme Filme zum
Holocaust, sondern spannt ihren analytischen Bogen
gattungs- und länderübergreifend. Dass Thiele dabei
ausschließlich von Männern hergestellte Visualisierungen
thematisiert, trübt den Gesamteindruck ein wenig, gäbe
es doch mit Wanda Jakubowska, Agniezka Holland, Ruth
Beckermann und anderen über nationale Grenzen hinaus
bekannten Regisseurinnen aufschlussreiche Beispiele
weiblichen Filmschaffens zum Thema, die der Arbeit eine
zusätzliche Dimension verleihen könnten. In der
chronologischen Auseinandersetzung mit visuellen
Holocaustrepräsentationen widmet sich die Autorin
folgenden Produktionen: Morituri (D 1948, Eugen
York), Nacht und Nebel (F 1955, Alain Resnais),
Mein Kampf (Schweden 1960, Erwin Leiser),
Nackt unter Wölfen (DDR 1963, Frank Beyer), Ein
Tag (BRD 1965, Egon Monk), Holocaust (USA
1978, Marvin Chomsky), Der Prozess (BRD 1984,
Eberhard Fechner), Shoah (F 1985, Claude
Lanzmann) und Schindlers Liste (USA 1993, Steven
Spielberg).
Anhand eines fixen Analyserasters
rekapituliert die Verfasserin für jeden Film zunächst
Entstehungsbedingungen sowie Produktionsdaten, gibt eine
kurze Einführung in den Inhalt und zu den an den
jeweiligen Produktionen beteiligten Personen. Der daran
anschließende Hauptteil stellt das erkenntnisleitende
Herzstück der Untersuchung dar. Bei der Erläuterung der
Resonanz der einzelnen Werke lässt die Autorin
empirische Fakten über Sendedaten, Reichweite,
Zustimmung oder Ablehnung seitens des Publikums sowie
Informationen zu Wiederausstrahlungen im deutschen
Fernsehen bzw. auf Filmfestivals einfließen, die ein
anschauliches Sittenbild der jeweiligen Epoche und ihrer
Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den
nationalsozialistischen Verbrechen liefern. Der Nukleus
der Arbeit ist jedoch unzweifelhaft die explizite und
umfassende Darlegung der publizistischen Kontroverse
rund um jeden der angeführten Filme und ihre
(Langzeit-)Folgen für den akademischen, journalistischen
und öffentlichen Diskurs. Dass Martina Thiele nicht
ausschließlich jene bereits genannten
Meinungsführermedien heranzieht, sondern auch kleinere
Spartenblätter in ihre Analyse einfließen lässt,
verleiht dem Werk eine zusätzliche Qualität. Das
Beispiel des antisemitisch motivierten Zitates aus der
„Deutschen Soldatenzeitung" zum Film Nacht und Nebel
sei angeführt: „Wer die Kräfte sind, die an einer
ausschließlich gegen Deutschland gerichteten
Einseitigkeit interessiert sind, wissen wir." (Seite
194).
Das Buch bietet detaillierte
Einblicke in die öffentliche Auseinandersetzung mit
Holocaustrepräsentationen im Film, indem es die
Kontroversen und die an ihr beteiligten Personen in
ihren jeweiligen historischen Kontext setzt. Mitunter
scheint sich die Autorin derart von ihrem Thema
mitreißen zu lassen, dass sie für kurze Zeit den Weg der
kritischen Analyse verlässt und sich auf den wackeligen
Boden der moralischen Wertungen begibt. „Dann sind da
noch NS-Propagandafilme, zu denen ohne Zweifel Leni
Riefenstahls Reichsparteitagsfilme gehören und so
schreckliche und bis heute zu Recht verbotene Filme wie
Jud Süß und Der ewige Jude." (Seite 208).
Bei Formulierungen wie diesen bedürfte es semantischer
Konkretisierungen, in diesem Fall, was die Autorin durch
das Wort „schrecklich" als analytisch-deskriptive
Kategorie eines Films auszudrücken beabsichtigt.
Eine wünschenswerte dritte Auflage
des erhellenden Buches sollte zum Anlass genommen
werden, mit den verbliebenen Tipp- und Drucksatzfehlern
aufzuräumen und ein aufgrund des Umfangs des Werkes
hilfreiches Film- und Personenregister anzulegen.