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Demographie – Demokratie - Geschichte

Elisabeth Kübler

BRUNNER, José (Hg.) Demographie – Demokratie - Geschichte (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 2007, Bd. XXXV). Göttingen: Wallstein Verlag 2007.
408 S. Euro 45,30.-
ISBN 978-3-8353-0135-1

Migrationsströme, die Alterung der Gesellschaft bei gleichzeitigem Geburtenrückgang in bestimmten Gesellschaftssegmenten und medial aufgebauschte oder verkürzt dargestellte demografische Prognosen führen zu bevölkerungspolitischen Debatten, in denen Panikmache oft vor sachlichen Argumenten kommt.

Das vom Minerva Institut für deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv herausgegebene Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 2007 befasst sich mit den Zusammenhängen von Demografie, Demokratie und Geschichte in Deutschland und Israel, wobei nicht nur verschiedene Zeiträume angesprochen werden, sondern auch AutorInnen unterschiedlicher Disziplinen und politischer Positionierungen zu Wort kommen.

Mit dem in Deutschland ausgebildeten Soziologen und zionistischen Aktivisten Arthur Ruppin eröffnet Etan Bloom eine Reihe ideologiekritischer Auseinandersetzungen mit der zionistischen Bevölkerungspolitik in Israel. Moshe Sicron setzt mit der vorstaatlichen Periode und der Rolle des staatlichen Central Bureau of Statistics ab 1948/49 fort, während Anat Leibler auf die Indienstnahme der Bevölkerungsstatistik für die Zu- und Aberkennung der israelischen Staatsbürgerschaft im Zuge der ersten Knesset-Wahlen fokussiert. In der Tradition Arthur Ruppins stehend analysiert Sergio Della Pergola, einer der bekanntesten und auch politikberatend tätigen Statistiker Israels, die Auswirkungen von Mischehen zwischen aschkenasischen und orientalischen JüdInnen in Israel beziehungsweise zwischen JüdInnen und NichtjüdInnen in den Vereinigten Staaten. Am anderen Ende des ideologischen Spektrums steht Yoav Peled, der in der – laut offiziellen Angaben aus Sicherheitsgründen – partiellen Verweigerung des Rechts auf Familienzusammenführung zwischen PalästinenserInnen mit israelischer Staatsbürgerschaft und jenen aus den besetzten Gebieten, sowie im vor allem von der Partei Israel Beitenu voran getriebenen Entwurf der Grenzverschiebung im Wadi Ara das Abdriften der israelischen Demokratie in eine „Ethnokratie" (S. 362) befürchtet. Einen Österreich-Bezug stellt Fred A. Lazin mit seiner Untersuchung der oft über Wien erfolgten Auswanderung von JüdInnen aus der Sowjetunion und den dabei teils divergierenden Interessen Israels und jüdischer Organisationen in den USA her.

Der Bogen der Beiträge, die sich mit Deutschland beschäftigen, spannt sich von der preußischen Konfessionsstatistik (Michael C. Schneider), pseudowissenschaftlichen Debatten zur „jüdischen Rasse" im 19. Jahrhundert (Veronika Lipphardt), der Einführung sexologischer Erklärungsmuster in die Bevölkerungswissenschaft durch Julius Wolf (Ursula Ferdinand), über nationalistische und rassistische Debatten zur „Vergreisung" im 20. Jahrhundert (Thomas Bryant) und zur „Volksgesundheit" in der Weimarer Republik (Matthias Weippert) bis hin zur disziplinhistorischen Auseinandersetzung mit der Bevölkerungswissenschaft im und nach dem Nationalsozialismus (Bernhard vom Brocke, Alexander Pinwinkler) und der Instrumentalisierung von Migration aus den östlichen Bundesländern (Christian Saehrendt) sowie der Toten unter den vertriebenen Deutschen aus Mittelost- und Südosteuropa (Ingo Haar). Besonders aktuell ist die Erwiderung Christoph Butterweges auf die Aufsätze von Herwig Birg und Josef Schmid, die anhand mathematischer Modelle den Untergang „der Deutschen" herbei reden, während sie Aspekte wie würdevolles Altern, faire Integrationschancen für MigrantInnen und gerechtere Verteilung innerhalb der und nicht lediglich zwischen den Generationen ausblenden.

Sich der Gefahren der Beliebigkeit bei der Zusammenstellung der Aufsätze und unangemessener Gleichsetzungen bewusst, vermerkt Joséy Brunner im Vorwort, dass es um das Aufzeigen genereller Wechselwirkungen von Politik und Bevölkerungswissenschaft im modernen Staat und die daraus folgenden Einflüsse beispielsweise auf administratives Handeln, soziale Sicherungssysteme und familienpolitische Maßnahmen gehe. Eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den Vergleichsländern sieht Brunner dahin gehend, dass „beide mit Stolz auf ihre historischen Errungenschaften seit 1948/49 hinweisen, repräsentiert durch die Schaffung einer demokratischen und wohlfahrtsstaatlichen Ordnung. Dieses historische Selbstverständnis als säkulare westliche Demokratie fußt auf dem Selbstbild eines durch (relativ) niedrige Geburtenraten charakterisierten, gebildeten Mittelstandes, der sich von sich rascher vermehrenden Minderheitengruppen bedrängt fühlt." (S. 18). Der Herausgeber benennt das Fehlen von Beiträgen, die sich explizit mit muslimischer Zuwanderung in Deutschland einerseits und mit dem Wachstum der orthodox-jüdischen Bevölkerungsgruppe in Israel andererseits beschäftigen, denn auch als Desiderat. Es ist außerdem hinzuzufügen, dass die traumatischen Folgen des Holocaust für Israels bevölkerungspolitische Überlegungen an keiner Stelle ausreichend untersucht werden.

Das Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 2007 hinterlässt den Eindruck, dass zwar viele wichtige Diskussionspunkte angerissen werden, es jedoch den LeserInnen überlassen bleibt die jeweils sehr spezialisierten Forschungsergebnisse in einen breiteren Kontext einzuordnen. Abgerundet wird der Sammelband durch essayistische Buchbesprechungen und Exposées israelischer Dissertationsvorhaben im Bereich der deutsch-jüdischen Geschichte (und Gegenwart).

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