Dirk Rosenstock: Die unterfränkischen
Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und
sozialgeschichtliche Quelle. Würzburg: Schöningh Verlag
2008 (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg,
Band 13)
352 Seiten, Euro 25,50.-
ISBN: 978-3-87717-797-6
Würzburg – Unterfranken, ein
Regierungsbezirk im nördlichen Bayern, wies zeitweise
die dichteste jüdische Besiedlung in Deutschland auf. Im
19. Jahrhundert erlangte die „Würzburger Orthodoxie" mit
ihrer vermittelnden Position im innerjüdischen
Reformstreit weltweites Ansehen. Die später gegründete
Israelitische Lehrerbildungsanstalt war eine der
führenden Einrichtungen ihrer Art mit Ausstrahlung nach
ganz Europa.
1987 wurden im früheren Würzburger
Markuskloster mehr als 1.500 Grabsteine und
Grabsteinfragmente von Bürgern jüdischen Glaubens aus
der Zeit zwischen 1126 und 1346 gefunden. Diese weltweit
größte Sammlung jüdischer Grabsteine aus dem Mittelalter
fand mit der Fertigstellung des Museums und
Kulturzentrums „Shalom Europa" im Dezember 2006 einen
neuen permanenten Platz. Seit seiner Eröffnung kamen
mehr als 10.000 Besucher in das Haus. In Zusammenarbeit
mit der Ronald S. Lauder Foundation New York werden in
Würzburg Schabbat- Programme und religiöse
Fortbildungskurse angeboten; außerdem ist in den neuen
Räumen ein ebenfalls von der Lauder-Stiftung geförderter
Informationsdienst untergebracht, das Ephraim-Gustav-Hoenlein-Projekt,
das Juden deutscher Herkunft bei der Rekonstruktion
ihrer Familiengeschichte hilft.
Einen wesentlichen Baustein zur
Erforschung regionaler Familiengeschichte und
gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnis der
jüdischen Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts liefert
der nun erschienene Band „Die unterfränkischen
Judenmatrikeln von 1817", den das Stadtarchiv Würzburg
herausgegeben hat. Auf knapp 200 Seiten finden sich die
transkribierten Listen der Landgerichte von Alzenau bis
Zeil, alter und neuer Name, Erwerbszweig, Stand, Alter,
Vermögen sowie das Ausstellungsjahr des Schutzbriefes.
Diesen doch eher regionalgeschichtlich relevanten Daten
wurde eine 79-seitige Einführung vorangestellt, die mit
einem weit über die Region, ja weit über Bayern hinaus
reichenden Interesse rechnen darf. Dirk Rosenstock,
eigentlich Vor- und Frühgeschichtler, umreißt zunächst
allgemein die Namensproblematik, zeichnet dann die
Voraussetzungen und Vorgeschichte des bayerischen
Judenediktes von 1813 nach, um schließlich die Umsetzung
des Matrikelparagraphen ab Ende 1816 zu beschreiben. Auf
die Überlieferungsgeschichte (Abgabe 1943/45 an das
Würzburger Staatsarchiv) folgt ein zusammenfassendes
Kapitel zur jüdischen Namenskunde.
Bereits 1781/82 hatte Kaiser Joseph
II. für seine österreichischen Erblande das „Allgemeine
Toleranz-Edikt" erlassen, 1787 folgte der Nachtrag,
jeder Jude solle „seinen eigenen beständigen
Geschlechtsnamen in deutscher Sprache" führen. In
Russland galt Ähnliches ab Ende 1804, in Frankreich und
dem Königreich Westphalen ab 1808. Die Königreiche
Württemberg und Hannover folgten 1828, am Ende dieser
Entwicklung standen Sachsen, Nassau und das Herzogtum
Oldenburg (1834, 1841 und 1852). In Bayern, ab 1806
Königreich, ab 1814/15 um die fränkischen Gebiete und
damit um eine ein in Altbayern so gut wie nicht
existierende jüdische Bevölkerung erweitert, erfolgte
der Erlass eines Ediktes 1813.
Vorangegangen waren 1812 Überlegungen
zur Namensneuregelung im Großherzogtum Franken, die
jedoch nicht in die Tat umgesetzt wurden. Galt bisher
die Bestimmung, die Niederlassung durch den Kauf eines
Schutzbriefes zu ermöglichen, sollte nun an dessen
Stelle ein Matrikel treten; allerdings diente auch
dieses dazu, unerwünschte Personen an der Niederlassung
zu hindern. In Bayern hatte das zur Folge, dass die Zahl
der Juden nicht nur stagnierte, sondern – vor allem
durch Auswanderung – sogar sank.
Ziel des „Edikts über die
Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im
Königreich Bayern" war die Einbindung der Juden in den
Staat Bayern. Die vorgeschriebene Annahme bürgerlicher
Familiennamen durch die Juden stand „im Zusammenhang mit
der allgemeinen Judenemanzipation und der damit
einhergehenden Neuregelung des Verhältnisses zwischen
den sich reformierenden Staaten und der in vormodernen
Zuständen verharrenden Judenschaft", so Rosenstock.
Voraussetzung für die individuelle Erfassung des
einzelnen Bürgers war seine eindeutige namensmäßige
Zuordnung. An die Stelle des bisher verwendeten
Vornamens, dem jener des Vaters oder des Ehemanns
beigefügt wurde, traten nun Vor- und Nachnamen. Damit
sollten Verwechslungen ausgeschlossen werden. Beide,
alter und neuer Name, sind auf den Erfassungsbögen
festgehalten, die damit gewissermaßen zum Scharnier
zwischen zwei Epochen, und damit zu einer zentralen
Quelle genealogischer Forschung werden. Gemeinsam mit
den bereits publizierten Unterlagen aus dem Staatsarchiv
Nürnberg (Die Judenmatrikel 1813-1861 für Mittelfranken,
2003) und den derzeit von der Gesellschaft für
fränkische Familienforschung ausgewerteten
oberfränkischen Beständen im Staatsarchiv Bamberg wird
sich künftig noch deutlicher abzeichnen, wie groß die
regionalen Unterschiede jüdischer Namen gewesen sind.
Führen in Unterfranken die Namen Strauß, Stern, Frank,
Schloß, Kahn und Adler die Häufigkeitsliste an, so sind
dies in Mittelfranken Gut(h)mann, Cohn/Kohn, Uhlmann,
Meyer (mit Varianten) sowie Rosenfeld(er). Zu beachten
bleibt allerdings, dass beileibe nicht alle Familien
erfasst wurden, vor allem wenn sie keinen Schutzbrief
vorweisen konnten. Als Beispiel führt Rosenstock Abraham
Kissinger aus dem unterfränkischen Weinort Rödelsee an,
den ältesten bekannten Vorfahren des früheren
amerikanischen Außenministers Henry Kissinger.
Die Matrikeln zählen, wie eingangs
erwähnt, nicht allein die jüdische Bevölkerung eines
Kreises und späteren Regierungsbezirks auf, sondern
geben mit den Nachweisen über deren „Nahrungserwerb"
Auskunft über gesellschaftliche und wirtschaftliche
Zusammenhänge in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Damit wird diese Publikation auch zu einer
unverzichtbaren Quelle volkskundlicher Forschung in
Europa.