ALLES MILLIONÄRE UND HAUSIERER!
Eine sozialgeschichtliche Betrachtung der Wiener Juden im 19. Jahrhundert.
Tina WALZER
Ein unterschätztes Kapitel
Zwischen den allseits bekannten Epochen jüdischer Geschichte in
Wien, jener der Hoffaktoren einerseits, jener der Künstlerwelt des
fin de siècle andererseits, liegt eine relativ unbeachtete Zeitspanne
eingebettet. Eine Zeit, die uns, wenn wir ihre Dynamik verstehen, nicht
nur das späte 19., sondern vor allem das 20. Jahrhundert näherbringen
kann.
Die Jahre 1792 (das Jahr der Erteilung des sogenannten Toleranzediktes
durch Joseph II.) und 1867 (die Einrichtung des ersten Staatsgrundgesetztes
in Österreich) mögen den Rahmen für eine Betrachtung der
Lebenswelt jener Juden bilden, die damals nach Wien kamen, um zu arbeiten,
um Familien zu gründen, um am gesellschaftlichen Leben in der Reichshaupt-
und Residenzstadt Anteil zu nehmen. Ihre Bemühungen, Erfolge wie
Misserfolge stellen die Basis für jede weitere Entwicklung in der
Geschichte der Juden in Wien bis 1938 dar.
Die Betrachtung der Geschichte ist insoferne von Bedeutung, als bewusst
wahrgenommene Traditionen und Brüche Einsichten in die Probleme der
Gegenwart eröffnen.
Zum Beispiel Migration: Was bedeutet es, festzustellen, dass sich die
Beweggründe für die jüdischen Einwanderer nach Wien von
jenen nichtjüdischer Einwanderer auf weite Strecken nicht grundsätzlich
unterschieden?
Wir haben es einerseits mit dem Phänomen eines Einwanderungsbooms
nach Wien zu tun, der sich durch die epochalen Veränderungen, die
die industrielle Revolution auf wirtschaftlichem, aber auch auf sozialem
Gebiet im Laufe des 19. Jahrhunderts mit sich brachte, erklärt. Andererseits
gab es sehr wohl Motive, die sich genuin aus der Geschichte der Juden
in der Habsburgermonarchie, aber auch aus jüdischen Traditionen entwickelten.
Was bedeutet es für eine gesellschaftliche Minderheit, sei sie nun
religiös, national, kulturell oder wie auch immer definiert, sich
dem Phänomen der Assimilierung gegenüberzusehen? Welche Traditionen
blieben erhalten, welche wurden zugunsten einer Integration in die umgebende
Gesellschaft aufgegeben? Lauter Fragen, die sich jedem von uns bei der
immer wieder notwendigen Auseinandersetzung mit dem Thema Identität
aufdrängen.
Eine Stadt wächst
Während der langen Regierungszeit Franz Josephs I. fanden dramatische
Bevölkerungsbewegungen innerhalb des Habsburgerreiches statt. Juden
zogen vor allem aus Galizien, aus Böhmen und aus Mähren weg
nach Wien, aber auch nach Budapest.
Unter den Juden aus den östlichen Provinzen des Habsburgerreiches
ist ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Massenauswanderung
festzustellen. In dieser Zeit wuchs Wien zu einer Stadt mit dem, nach
Warschau und Budapest, dritthöchsten jüdischen Bevölkerungsanteil
in Europa an.
Der Höhepunkt der Immigration lag zwischen 1857 und 1869.
In dieser Periode wurden die restriktiven Einwanderungsbestimmungen sukzessive
beseitigt. Mit dem Staatsgrundgesetz 1867 wurde auch de iure die bürgerliche
Gleichheit aller österreichischen Juden mit allen anderen Bevölkerungsgruppen
garantiert.
Die Tolerierten
In Wien lebten ab dem Toleranzedikt Josefs II. bis 1848 sogenannte "tolerierte"
Juden.
Erklärtes Ziel dieser Zuwanderungspolitik war es, nur vermögende
Personen mit ihren Familienangehörigen in den Besitz einer speziellen
Aufenthaltsgenehmigung zu setzen.
Wien war ein attraktives Zuwandererziel. In der Reichshaupt- und Residenzstadt
war der persönliche Freiraum ungleich größer als in den
Kleinstädten der Provinzen, die soziale Mobilität versprach
wirtschaftlichen wie auch gesellschaftlichen Aufstieg, in Handel und Wirtschaft
war ein aktiveres und freieres Engagement möglich.
Von 1792 bis 1848 gab es das "Judenamt", dessen Aufgabe es
war, die jüdischen Wanderungsbewegungen zu überwachen und insbesondere
unbegüterte Juden durch bürokratische Schikanen von der Niederlassung
in Wien abzuhalten.
Ihnen erteilte die Stadtverwaltung prinzipiell keine Ansiedlungserlaubnis.
Reisende mussten eine Leibmaut entrichten, die dann im frühen 19.
Jahrhundert durch die sogenannte "Bollettentaxe" ersetzt wurde.
Dem Sinn nach blieben die Bestimmungen gleich: Nicht tolerierte Juden
mussten für jeden Tag ihres Aufenthaltes zahlen, mit dem Hintergedanken,
ihren Aufenthalt in Wien möglichst zu verkürzen.
Auf Umwegen nach Wien
Naturgemäß gab es die unterschiedlichsten Bemühungen,
solche Bestimmungen zu umgehen. Als sogenannter "Schutzjude"
konnte man unter dem Schutz eines Tolerierten, das heißt als sein
Dienstbote oder Familienmitglied, gemeldet werden. Für dieses Entgegenkommen
kassierten die Tolerierten nicht unbeträchtliche Summen - ein ertragreiches
Nebengeschäft.
Die unterschiedlichsten Vorwände, die einen längeren Aufenthalt
in Wien notwendig erscheinen lassen sollten, führten zum gewünschten
Erfolg. Beispielsweise benötige man einen Wiener Arzt zur Heilung
einer schweren Krankheit, oder christlichen Unterricht zur Vorbereitung
auf die Konversion. Viele ließen sich an der Universität Wien
als Studenten einschreiben, andere ihren Aufenthalt im Gefängnis
freiwillig verlängern, um ihre Geschäftstätigkeit verfolgen
zu können.
Am erfolgversprechendsten indessen war der Erwerb der türkischen
Staatsbürgerschaft, denn Untertanen des osmanischen Reiches unterlagen
seit dem Frieden von Passarowitz im Jahr 1718 keinerlei Aufenthalts- oder
Handelsbeschränkungen in den Ländern der Habsburgermonarchie.
Die Zuwanderung und die Politik
Im Vormärz gab es also ein ständiges Einsickern von Immigranten
nach Wien, zunächst aus Böhmen und Mähren, dann auch aus
Ungarn. Letztere kamen vor allem aus Oberungarn, der heutigen Slowakei,
und ganz besonders aus Preßburg sowie aus den westungarischen Gemeinden
im heutigen Burgenland, besonders aus Mattersdorf. Die westungarischen
Juden hatten gute Beziehungen zu den Wiener Beamten und waren am erfolgreichsten,
wenn es darum ging, eine Aufenthaltsverlängerung zu erwirken.
Aufgrund politischer Ereignisse oder sozialer Veränderungen änderte
sich die Einwanderungsstärke aus den verschiedenen Herkunftsländern.
Das in dieser Hinsicht entscheidende Jahr war 1848. Politische Veränderungen
zogen rechtliche Veränderungen nach sich, und die Einwanderungsstärke
schwankte sehr stark, je nach den politischen Bedingungen in den Herkunftsländern.
Wer kam nach Wien, woher und wieso?
Aus Westeuropa kamen zu allererst Großhändler aus bereits
wirtschaftlich und gesellschaftlich bestens etablierten Familien nach
Wien. Als sogenannte "Hoffaktoren" - Finanziers der Kaiser -
wurden sie von Verwaltungsbeamten an den Wiener Hof geholt, sie finanzierten
Kriege und verwalteten ungeheure Geldmengen. Selbst nach der Vertreibung
der Juden aus Wien 1670 behielten sie weiterhin das Recht, sich in Wien
aufzuhalten.
Portrait Samson Wertheimer,
Jüdisches Museum Wien.
Samuel Oppenheimer und Samson Wertheimer waren die bekanntesten Wiener
Hoffaktoren, aus deren Umkreis viele für unseren Zeitraum interessante
Familien wie etwa die Arnsteins hervorgingen.
Die mährischen Juden waren im 19. Jahrhundert die größte
Gruppe innerhalb der Wiener jüdischen Bevölkerung. Es waren
selten vermögende Stadtbürger, die sich zur Übersiedlung
nach Wien entschlossen, oft aber Einzelpersonen aus Landjudengemeinden.
Das gilt in erster Linie für die Zuwanderer aus Mähren - Nikolsburg
wäre besonders zu nennen. In den Städten Böhmens hingegen
hielt sich der Auswanderungsenthusiasmus in Grenzen.
Übersicht über die Zuwanderung von Juden nach Wien
Auffällig viele Wiener Kaufleute stammten aus Preßburg, damals
in Ungarn gelegen. Neben der geographischen Nähe, die gegenüber
Budapest ein entscheidender Faktor bei der Auswahl des Übersiedlungszieles
gewesen sein mag, ist die Ursache dieses Phänomens in politischen
Zusammenhängen zu finden. Das, was Regime im Zuge eines erzwungenen
politischen Kurswechsels so gerne als gerechten Volkszorn bezeichnen,
war nichts anderes als das Resultat einer gezielten populitstischen Aufhetzung
der Bevölkerung durch nationalistische Politiker.
Opfer des Nationalstaates
In Zusammenhang mit der Revolution und der radikalen Magyarisierungspolitik
1848 kam es zu pogromartigen Ausschreitungen gegen die Preßburger
Juden. Das Ghetto wurde verwüstet, viele seiner Bewohner flüchten
nach Wien unter den kaiserlich-obrigkeitlichen, deutschbewussten Schutz.
Der Kaufmann Sigmund Mayer, später eine bekannte Persönlichkeit
im Wiener jüdischen Leben, gehörte zu jenen Pogromflüchtlingen
und schildert in seiner Autobiografie sehr eindrücklich die Ereignisse
in Preßburg und weitere Schwierigkeiten in Wien.
Auf der Wartebank
Eine zweite Besonderheit stellt der Zuzug aus den Sieben Gemeinden dar.
Viele jener Wiener Juden, die 1670 vertrieben worden waren, hatten sich
in nächster Nähe zur Reichshaupt- und Residenzstadt angesiedelt,
gleich hinter der österreichischen Grenze auf ungarischem Herrschaftsgebiet.
Sie kamen, kaum war die Ansiedlung wie erwartet erleichert, wieder nach
Wien zurück.
Türkische Juden
Aus dem osmanischen Reich kam eine besondere Gruppe nach Wien, besonders
ob der grundlegend anderen Ausgangsbedingungen für eine Niederlassung
in Wien. Es handelte sich um sephardische Juden, Kaufleute, spezialisiert
auf Fernhandel. Als Untertanen des Sultans hatten sie das Recht, sich
in Wien aufzuhalten. Bald entwickelte sich ein in ganz Mittel- und Osteuropa
blühender Orienthandel mit Wien als Zentrum. Die Wiener sephardischen
Juden bekamen 1736 das Recht zugesprochen, Synagogen zu bauen, als jüdische
Gemeinde wurden sie 1778 anerkannt. Das geschah immerhin beinahe ein halbes
Jahrhundert vor der Gründung des Stadttempels. Bis in die 1840er
Jahren gab es in Wien rund 100 sephardische Haushalte, die Familien stellten
eine bedeutende Gruppe dar. 1890 wurde diese Gemeinde, die bis dahin selbständig
existiert hatte, in die IKG Wien eingegliedert.
Sephardischer Grabstein auf dem jüdischen Friedhof Währing.
Foto Tina Walzer
Unten und oben, mittendrin
Josef Roth fasste in seinem Text "Juden auf Wanderschaft" (1927)
die gängigen Klischees zur Berufsstruktur und den Aufstiegschancen
der Wiener Juden zusammen. Aber war die angeblich typische Entwicklung
vom Handelsberuf zu den künstlerischen und den freien Berufen innerhalb
der Wiener jüdischen Bevölkerung weit verbreitet? War die Entwicklung
vom Handel zur Großindustrie wirklich so typisch? Tatsächlich
bezieht Roth seinen Text auf die Situation im 2. Bezirk, die eingeschränkte
Wahrnehmung erzeugt ein düsteres Bild.
Sicher, Juden zählten innerhalb der Wiener Bevölkerung zunächst
zu den armen Bevölkerungsgruppen, wie alle anderen Einwanderer auch.
Meist in der zweiten Generation setzte sich ein Prozess der Verbürgerlichung
durch, und es begann ein relativ starker Aufstieg in wirtschaftliche und
gesellschaftliche Mittelschichten, aber auch in Oberschichten.
Zu Beginn des Jahrhunderts stellte sich die Sozialstruktur der Wiener
Juden in vier Schichten dar. Zur untersten zählten ländliche
Juden, die vom Hausieren, vom Geld- und Viehhandel lebten, zur zweiten
Unterschicht all jene, die im Klein- und Hausgewerbe tätig waren.
Zur Mittelschicht gehörten die eigentlichen Stadtjuden, Händler
und Geldleute.
Die schmale Oberschicht bestand in früher Zeit aus den Hoffaktoren,
später aus Bankiers. Sie bildete den Grundstock des städtisch-großbürgerlichen
Judentums.
Innovative Berufsstrukturen
Handel und Geldwesen blieben die dominanten Wirtschaftssektoren. Sehr
stark entwickelte sich die Industrie, in erster Linie in den Bereichen
Textil sowie Nahrungsmittel. Ein in der zweiten Jahrhunderthälfte
entstehender neuer Berufszweig war sehr stark jüdisch dominiert,
jener der Privatbeamten. Er galt als prestigeträchtig, und er bot
gute soziale Absicherungen.
Die bürgerliche Gleichstellung eröffnete den Zugang zum Bildungswesen.
Der Einstieg in die freien Berufe war die längste Zeit durch Gesetze
verhindert gewesen. Am einfachsten war es, sich als Arzt zu betätigen,
später kamen die Berufsfelder der Juristen und der Lehrer hinzu.
Ab den 1860er Jahren schließlich besserte sich die Lage zusehends.
Ende des
19. Jahrhunderts war in Wien ein guter Teil der Studenten jüdischer
Herkunft.
Tolerant?
Die Berufmöglichkeiten waren, wie könnte es anders sein, von
gesetzlichen Rahmenbedingungen abhängig, die sich im Laufe des 19.
Jahrhunderts mehrmals fundamental änderten. Man kann also den Versuch
unternehmen, diesen Zeitraum in mehrere Abschnitte zu unterteilen. Zwischen
1784 und 1848 galten, je nach persönlichen Präferenzen des jeweils
Herrschenden mehr oder weniger, die Bestimmungen des josephinischen Toleranzpatentes.
Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution folgend
hatte Joseph II. den Plan gefasst, Juden in eine - im Habsburgerreich
erst zu schaffende - bürgerliche Gesellschaft eingliedern zu wollen.
Diese Überlegungen liefen deklariertermaßen auf eine möglichst
vollständige Assimilation hinaus, ganz im Sinne einer Gleichheit
aller Bürger.
Als ersten Schritt versuchte nun Joseph II., möglichst viele diskriminierende
Sonderrelungen für Juden abzuschaffen, bzw. durch weniger ausgrenzende
zu ersetzen. Juden sollten, um eine Umbildung der Gesellschaft zu erreichen,
aus den als "unproduktiv" abqualifizierten Handelsberufen zu
den "produktiven" Handwerks-berufen hinüberwechseln.
Von besonders menschenfreundlichen Beweggründen in der josephinischen
Politik sprechen zu wollen, hieße das Wesen des aufgeklärten
Absolutismus verkennen und hält einer Prüfung durch die Realität
auch gar nicht stand. Ausschlaggebend für Josephs II. Reformpolitik
waren ökonomische Motive.
Emanzipiert?
Die Zahl der in Wien lebenden Juden war nun, wenn auch höher als
die Handvoll Hoffaktorenfamilien bis dahin, nach wie vor beschränkt.
Nur vermögende Juden, von denen die staatlichen Verwaltungsbehörden
annahmen, dass sie der Staatswirtschaft dienten, wurden in Wien zugelassen.
Die zeitgenössische Zuwanderungspolitik übte sich zwar in einer
Förderung von Handel und Industrie, brachte die Zulassung von Juden
zu allen Schulen, brachte aber auch das Verbot, die hebräische Sprache
in öffentlichen Angelegenheiten zu verwenden. Heftige Reaktionen
waren die Folge. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung wurde die
Kritik an der Aufgabe kultureller Traditionen, aber auch des Glaubens
immer lauter. Christliche Handwerker und Kleingewerbetreibende waren gegen
diese Art von Assimilationspolitik, denn sie fürchten die entstehende
Konkurrenz.
Als Folge des josefinischen Aufklärungskurses hatte sich um 1800
eine jüdische Bevölkerungsgruppe in Wien entwickelt, die ganz
und gar nicht repräsentativ für die soziale Zusammensetzung
der jüdischen Bevölkerung im Rest der Monarchie war, denn sie
bestand fast ausschließlich aus Großhändlern und jenen,
die unter ihrem "Schutz" in Wien leben durften.
Grab des Großhändlers Siegfried Philipp Wertheimer auf dem
jüdischen Friedhof Währing.
Foto Tina Walzer
Was weiter geschah...
Die josefinische Gesetzgebung wurde unter Josephs Nachfolgern, unter
Franz II. und besonders unter der Regierung Metternich, schrittweise zurückgenommen,
die alten Beschränkungen zu einem guten Teil wieder eingeführt:
Aufenthaltsverbote, Berufsbeschränkungen, unverhältnismäßig
hohe Steuern, und so weiter. Nach wie vor begünstigt blieb eine schmale
großbürgerliche jüdische Gruppe, welche die einander abwechselnden
Regime finanziell unterstützte. So gelangte die Familie Rothschild
zu ihrem Adelstitel, das Bankhaus Salomon Rothschild hatte nämlich
die Regierung Metternich in deren skandalerschütterter Spätphase
unterstützt - als Anerkennung winkte die prestigeträchtige Adelsverleihung.
Die wachsende Masse der Wiener Juden aber war sozial wie rechtlich diskriminiert
und blieb es auch weiterhin.
Wappen der geadelteten jüdischen Familie Wertheimstein.
Original ÖStA
Revolution
Ganz übersehen lässt sich nicht, dass jene Unternehmer - Bankiers
und Großkaufleuten - die Grundlage für die kapitalistische
Wirtschaftsordnung schufen und gleichzeitig den Boden für eine Entwicklung
der bürgerlichen Gesellschaft erst vorbereiteten - damit auch für
die Revolution von 1848. In dieser Volkserhebung wurde versucht, die Interessen
breiter Bevölkerungsschichten öffentlich durchzusetzen - für
die demokratiepolitisch hoffnungslos unterentwickelte Habsburgermonarchie
ein Novum, das die Obrigkeiten dermaßen erschreckte, dass sie die
Protestierer mit militärischer Hilfe gewaltsam zum Schweigen brachte.
Ein Klischee entsteht
In den 1830er Jahren begann sich neben dem Großbürgertum bereits
eine demokratisch orientierte jüdische Intelligenz herauszubilden.
Juden waren durchschnittlich besser ausgebildet als die christliche Bevölkerung,
und sie zeichneten sich durch eine größere berufliche Flexibilität
aus. Politisch schien ein Engagement auf Seiten der Opposition zum absolutistischen,
konservativ-reaktionären Regime der gesellschaftlichen Etablierung
förderlich. Einige dieser akademisch geschulten Intellektuellen waren
an der Ausformulierung von Forderungen und an der Planung der Revolution
von 1848 beteiligt, etwa Adolf Fischhof, Sekundararzt am AKH. Dieses aktive
Engagement für die Durchsetzung bürgerlicher Rechte wurde schnell
zum politisch eingesetzen Argument reaktionärer Kreise; es brachte
den Wiener Juden den Ruf ein, ein "gefährliches umstürzlerisches
Element" zu sein - ein antisemitisches Klischee, das sich bis ins
20. Jahr-hundert fortsetzt.
Auf und ab
In einem legistischen Intermezzo, dem Verfassungsentwurf von Kremsier,
wurden wesentliche Elemente der josefinische Verordnungen wieder aufgenommen.1851
allerdings führte der neue Herrscher, Franz Josef I., die neoabsolutistische
Herrschaftsform ein, und nahm die Entschlüsse des Kremsierer Exilreichstages
zurück. Eine eklatante Verschlechterung der Stellung der Juden innerhalb
der österreichischen Gesellschaft war die Folge.
Beruflich bedeutete das, dass zum Beispiel der Zutritt zu Staatsämtern
und der Beamtenlaufbahn wieder stark erschwert war.
Mit den militärischen Niederlagen der Monarchie in Italien 1859 war
schließlich das Ende des Neoabsolutismus gekommen. Eine neue Gesetzgebung
brachte endlich die staatsrechtliche Gleichstellung für jüdische
Bürger.
Gerade in beruflicher Hinsicht war das eine große Erleichterung.
Aufgehoben wurde etwa die alte Zunftverfassung, sodass nun auch Juden
Handwerksmeister werden konnten und volle Gewerbefreiheit genossen.
Wohnen
Die Wiener jüdische Bevölkerung konzentrierte sich im großen
und ganzen auf den 1., 2. und
9. Bezirk, mit großen sozialen Unterschieden innerhalb der Bezirke.
Im 1. Bezirk lebten die vermögenden Angehörigen des Großhandels
und der freien Berufe. Wohnen stand unter der Prämisse der Repräsentation:
es ging um gesellschaftlichen Status und darum, der Annäherung an
die christliche Umgebung auch räumlich Ausdruck zu verleihen. Gerade
für wohlhabende, assimilationsorientierte Bürgerfamilien war
die Suche nach der räumlichen Nähe zu anderen Juden kein Motiv
bei der Wohnungswahl.
An der Ringstraße sowie am Schwarzenbergplatz sieht man heute noch
die Palais, die sich die assimilierten großbürgerlichen jüdischen
Familien hatten bauen lassen. Sie spielten damit eine höchst aktive
Rolle bei der baulichen Gestaltung der Ringstraße, die ja als Manifest
des großbürgerlich-liberalen Aufschwunges der "Gründerzeit"
gedacht war. Im Herrengassen-viertel, das ganz allgemein von Adeligen
und von hohen Beamten bewohnt war, siedelten sich jüdischerseits
Freiberufler und Großhändler an, ebenso im Schottengassenviertel,
das ansonsten dominiert war von mittleren Beamten und größeren
Gewerbebetrieben.
Bis heute erhalten hat sich das Textilviertel, entlang Wipplingerstraße,
Hohem Markt und Rotenturmstraße.
Textilhandel in der Seitenstettengasse.
Foto Bruno Frei, Wien
Die Mazzesinsel
Die höchste jüdische Bewohnerdichte ist im zweiten Bezirk festzustellen,
der die Leopoldstadt und die Brigittenau umfasste. Interessanterweise
ließen sich alle Neuzuwanderer zunächst im 2. Bezirk nieder.
Unterschiedliche soziale Schichten lebten hier zusammen im Bemühen,
das jüdische Gruppenbewusstsein zu stärken und so die Aufgabe
von Traditionen bis hin zur vollständigen Assimilation zu verhindern.
Die Wohnsituation war vor allem für die Zuwanderer aus dem Osten
der Monarchie verheerend. In winzigen Wohnungen lebten sechsköpfige
Familien und zusätzlich noch entfernte Verwandte oder fremde Untermieter,
bis zu 60 Personen hatten in Herbergen auf Strohsäcken ein hartes
Nachtlager, Obdachlose schliefen im Prater.
Während in der Binnenleopoldstadt, zwischen Taborstraße und
Augarten, ärmere Kleinhändler und Gewerbetreibende zu finden
waren, lebten wohlhabende Händler und Börsianer im Gebiet zwischen
Taborstraße und Praterstraße, an der Kanalfront. Gesellschaftliche
Aufsteiger zogen innerhalb des Bezirkes in "reichere" Wohngegenden,
oder sie wanderten in den 1. oder den 9. Bezirk ab.
Schauplatzwechsel
Besonders die Freiberufler zogen gerne in den 9. Bezirk um, wo sich in
Nähe zur Universität, zwischen Währingerstraße und
Porzellangasse, ein schmales jüdisches Siedlungsgebiet entwickelte.
Prominentes Beispiel ist wohl Sigmund Freud mit seiner Wohnung in der
Berggasse.
In den anderen Wiener Bezirken lassen sich keine jüdischen Siedlungschwerpunkte
erkennen.
Wohl lebten die geadelten jüdischen Familien mitunter im vom Adel
überhaupt bevorzugten vierten Bezirk, so die Rothschilds oder die
Gutmanns.
Jüdische Fabrikanten ließen sich zunächst im 6. und 7.
Bezirk, wo in den Hinterhöfen industrielle Fertigungsstätten
dominierten, nieder.
Ab den späten 1870er Jahren wurden die Außenbezirke 18 und
19 als Villengegenden beliebt. In dieser Zeit zogen die Wertheimsteins
in ihre Döblinger Villa.
Die Villa Wertheimstein in Döbling. Foto WSLA
Vom Gehilfen zum Angestellten
Der Beruf des Gehilfen war in seiner frühen Form eine Beschäftigung
in einem Geschäft oder einem Gewerbebetrieb. Bis zur Mitte des 19.
Jahrhunderts überwog diese Form unselbständiger Tätigkeit
innerhalb des Wiener jüdischen Berufsspektrums. Mit der industriellen
Weiterentwicklung der Wirtschaft kam es zur Gründung von Versicherungen,
Banken und ähnlichen wirtschaftsverwaltenden Institutionen. Damit
wurde eine völlig neue Berufsgruppe ins Leben gerufen, nämlich
jene der sogenannten "Privatbeamten", also Angestellten in privat
geführten Verwaltungseinrichtungen.
Familienplanung
Angehörige dieses Berufes wanderten in erster Linie ledig und in
jungen Jahren nach Wien zu mit dem Ziel, sich über die Anstellung
eine Existenz aufzubauen und dann selbständig einen Betrieb zu führen.
Oft kamen junge Männer zu Familienangehörigen, um in deren
Betrieb mitzuarbeiten. Erst wenn er sich selbständig machen konnte,
wurde geheiratet, hier wieder in erster Linie mit aus Wien gebürtigen
Frauen, um den erreichten Status in Wien zu festigen.
Die Frage, ob junge Leute mit ihrer ganzen Familie zusammen nach Wien
kamen, stellt sich für diese frühe Phase der Angestelltentätigkeit
gar nicht, da ein Großteil dieser Angestellten ja nicht verheiratet
war. Es kam jedoch oft genug vor, dass Männer kurz nach der Hochzeit
nach Wien gingen, während ihre Ehefrauen bis zur gelungenen Etablierung
des Ehemannes in der Herkunftsgemeinde blieben und erst dann nach Wien
nachfolgten. Dies bedingt in der Statistik einen ständigen Überschuss
an ledigen jungen Männern unter den Wiener Juden, da der Zuzug nie
aufhörte. Sobald Ehefrauen nachkommen konnten, wurde an Kinder gedacht.
Dies erklärt das im Vergleich zu anderen Berufsgruppen höhere
Alter der Frauen von Angestellten bei der Geburt des ersten Kindes.
Ledige junge Frauen kamen nie alleine nach Wien, um hier Arbeit zu suchen.
Hingegen zogen Eltern mit ihren Töchtern nach Wien, um die Heiratschancen
für die Kinder zu verbessern. Eine baldige Verheiratung der Töchter
entlastete die Eltern ja finanziell, und in einer Großstadt war
die Wahrscheinlichkeit höher, geeignete Ehemänner zu finden,
die auch eine soziale Absicherung garantieren konnten.
Die Vielfalt jüdischen Lebens in Wien
Das Beispiel der jüdischen Angestellten zeigt, dass das übliche
Bild vom Juden als Händler in seiner Verallgemeinerung nicht zutrifft.
Es gab auch ganz andere Bereiche im jüdischen gesellschaftlichen
Spektrum.
Gerade die ideologisch so oft missbrauchte Polarisierung in "reiche
Juden - arme Juden" bedarf einer Korrektur, da die soziale Bandbreite
der Wiener Juden jedenfalls über Millionäre und Hausierer hinausreichte.
Dies scheint umso notwendiger, als die antisemitische Rhetorik genau diesen
angeblichen Sachverhalt immer als Hauptargument eingesetzt hat. Dass die
Realität jüdischen Alltags in Wien noch weit komplexer war,
als sich hier in gebotener Kürze darstellen ließ, darauf sei
hier noch einmal ganz deutlich hingewiesen.
Literaturhinweise
Steven Beller, Wien und die Juden 1867-1938,
Wien-Köln-Weimar 1993.
Leon Botstein, Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden
in der deutschen und österreichischen Kultur 1848 bis 1938,
Wien-Köln 1991.
Albert Lichtblau (Hg.), Als hätten wir dazugehört.
Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie.
Wien-Köln-Weimar 1999.
Sigmund Mayer, Die Wiener Juden 1700 - 1900. Kommerz, Kultur, Politik,
Wien-Berlin 1917.
Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, Köln 1985.
Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität,
Wien 1988.
Robert S. Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Franz Josephs. Wien 1999.
Mag. Tina Walzer, Studium der Geschichte, Germanistik
und der ungarischen Sprache, ist freie Mitarbeiterin am Institut für
Geschichte der Juden in Österreich und leitet das Forschungsprojekt
"Sozialgeschichte der Wiener Juden 1784-1874". In jahrelanger
Arbeit wurden biographische Daten zu mehr als 8000 Personen gesammelt.
Demnächst sollen diese Daten, die neben Geburts- und Sterbedaten
Angaben zu den Herkunftsorten, den Berufen, Wohnadressen und den Todesursachen
enthalten, auf
CD-ROM veröffentlicht werden. Damit wird umfangreiches Quellenmaterial
für Genealogie und Wissenschaft erstmals in leicht zugänglicher
Form zur Verfügung stehen.