DIE SYNAGOGE ATZGERSDORF / LIESING
Mag. Heide LIEBHART
Baugeschichte
Die stetig wachsende Bevölkerung um 1900 brachte in den Gemeinden
in und um Liesing auch ein vielfältiges religiöses Leben mit
sich. Die zwei neuen Sakralbauten, die um 1900 für den Zuzug jüdischer
und protestantischer Einwohner gebaut wurden, standen zwar beide in Atzgersdorf,
aber nahe der Grenze zu Liesing und erfüllten somit eine grenzüberschreitende
Funktion für beide Gemeinden.
Für die Israeliten von Liesing und Umgebung wurde um 1900 von dem
im Jahre 1886 gegründeten Bethausverein Minjan ein Tempelgebäude
in Atzgersdorf in der Karlsgasse 390 (heute Wien 23, Dirmhirngasse 112)
errichtet. Vereinsvorstand zur Zeit des Baus war der Liesinger Rechtsanwalt
Dr. Adolf Ettinger aus der Ernst-Häckel-Gasse Nr. 1 (heute Wien 23,
Haeckelstraße) in Liesing. Das Baukomitee bestand aus den Herren
Jakob Paganek, dem früheren Vereinsvorstand, Adolf Fuchs, Josef Grün
und Leonhard Weiß.
BAUPLAN DER SYNAGOGE IN ATZGERSDORF
(KOPIE: A. HALLWACHS)
Mit dem Bau wurde Stadtbaumeister Leonhard Bauer beauftragt und der Bau
nach den Plänen des Wiener Architekten Richard Esriel ausgeführt.
Die Bewilligung des Baus auf der Parzelle Nr. 484/3 der Katastralgemeinde
Atzgersdorf in der Karlsgasse erfolgte laut Erlass der k. k. n. ö.
Statthalterei vom 23. August 1900, Zahl 75300. Der bei der Kommission
am 19. September 1900 von der k. k. Bezirkshauptmannschaft Hietzing Umgebung
"ex commissione" erteilte Benützungskonsens (Kollaudierung)
wurde von der k. k. Statthalterei mit dem Erlass vom 9. Oktober 1900,
Zahl 85923, bestätigt.
Das Gebäude
Die Fassade war im römischen Stil gehalten, einstöckig und
von zwei kleinen Türmen mit
Kuppeldächern flankiert. In der Frontmitte war eine Widmungstafel
angebracht mit der Inschrift: "Zur Ehre Gottes erbaut im Jahre 1900
zur Feier des 70. Geburtsfestes unseres Allergnädigsten Kaisers Franz
Joseph I."
Vor dem Gebäude zur Straßenseite befand sich ein kleiner Vorgarten,
durch den man zu den beiden Eingängen gelangte, die durch ein Vestibül
in das Tempelinnere führten.
Der Innenraum war in den Herrenraum, der die gesamte Höhe des Gebäudes
einnahm und 120 Sitze fasste, und einen ebenso viele Sitze umfassenden
Frauenraum im 1. Stock unterteilt.
Unterhalb der Frauenabteilung befand sich die Wohnung des Religionslehrers
und ein kleinerer Sitzungssaal, in dem unter anderem auch der Unterricht
abgehalten wurde.
In einem kleinen Seitentrakt war die Wohnung des Hausmeisters untergebracht.
An den rückwärtigen Teil des Gebäudes war ein kleiner Garten
angeschlossen.
1922 erfolgten ein südseitiger Anbau und teilweiser Umbau der Vorderfront.
Fast alle zur Straßenseite gerichteten Fenster wurden durch den
äußeren Zubau bzw. durch innere Verbauungen verschlossen. Ebenso
wurde der schöne Glasrosettenstern im Giebel des Hauptdaches zugemauert
und durch einen schlichten Aufputzstern ersetzt. Der Eingang im linken
Turm wurde ebenfalls verschlossen und das linke Gartentor war durch Sträucher
verwachsen.
Die Zerstörung
Die Synagoge wurde am 9. November 1938 in Brand gesetzt. Zeitzeugen berichten
davon, dass man den Feuerschein vom Maurer Berg aus weit über Atzgersdorf
und Liesing sah.
Mit 11. November 1938 wurde in der Amtsstelle der Bezirkshauptmannschaft
Mödling - Liesing folgendes vermerkt: "Am 10. November 1938
zerstörte ein von unbekannten Tätern gelegter Brand das Bethaus
der Israelitischen Kultusgemeinde, Atzgersdorf, Karlsgasse 390. Die Nachschau
der Baukommission vom 11. November ergab, dass das bestehende Mauerwerk
infolge Einsturzgefahr die Bewohner des angebauten Pförtnerhauses
bedroht." Die Kommission beschloss infolge, die Baureste abtragen
zu lassen, und der Erlös des Materialverkaufs wurde zur Kostendeckung
herangezogen, da laut Bericht "kein Eigentümer erreichbar"
war.
Am 24. November 1938 erging ein dementsprechender Bescheid mit dem Auftrag
der "sofortigen Demolierung der Brandruine der ehemaligen Synagoge
Atzgersdorf, Karlsgasse" an die Kultusgemeinde.
1942 wurden auf dem Grundstück Notwohnungen durch den Liesinger Baumeister
Leopold Schumm errichtet. In seinem Kostenvoranschlag gab er eine Beschreibung
des verödeten Grundstückes: "Die Fundamente für den
Wohnraum sind vorhanden, weil an dieser Stelle ein abgetragener Teil des
Judentempels stand. 5558 Mauerziegel von der Demolierung des Judentempels
sind noch vorhanden."
Versuche zur Errichtung einer Gedenktafel
Erster Versuch
1988 wurde der SPÖ-Antrag, eine Gedenktafel in der Dirmhirngasse
112 zur Erinnerung an die Atzgersdorfer Synagoge zu errichten, mit den
Stimmen von SPÖ, ÖVP und den Grünen gegen die Stimmen der
FPÖ in der Liesinger Bezirksvertretung angenommen. Die Inschrift
sollte zusätzlich auch in hebräischer Sprache abgefasst werden.
Zweiter Versuch
1989 wurde die Aufstellung dieser Gedenktafel auf einen späteren
Zeitpunkt verschoben, da eine Neubebauung des Grundstückes Dirmhirngasse
112 durch den Eigentümer geplant war und eine Tafel baubedingt wieder
hätte entfernt werden müssen.
Dritter Versuch
1993 berichtete Bezirksvorsteher Wimmer (SPÖ), dass sich die Firma
Kerkoc nach der Errichtung eines Verwaltungsgebäudes auf diesem Grundstück
mit der Aufstellung einer Gedenktafel einverstanden erklärte.
Vierter Versuch
2000 wurde im Verlauf der Veranstaltungsreihe "Liesing 2000 - Liesinger
Gesprächsrunden" eine Veranstaltung mit dem Titel "Die
jüdische Gemeinde: Eine Liesinger Spurensuche" abgehalten. Das
rege Interesse der LiesigerInnen an dieser Thematik zeigte sich auch durch
erneute Nachfragen zur Aufstellung einer Gedenktafel an der Stelle der
zerstörten Synagoge Atzgersdorf. In der Gesprächsrunde wurde
auch die Auflegung einer Unterschriftenliste zu einer neuerlichen Initiative
zur Errichtung einer Gedenktafel angeregt. Diese Bemühungen haben
bis jetzt noch keinen Erfolg gezeigt.
Ein kurzer historischer Rückblick auf die jüdische Gemeinde
Liesing
Die israelitischen Bewohner der Stadt Liesing und ihrer umliegenden Gemeinden
gehörten zur Kultusgemeinde Mödling, die im Jahre 1892 durch
Loslösung von der Kultusgemeinde Wien - Sechshaus konstituiert wurde.
Die Kultusgemeinde Mödling umfasste den Gerichtsbezirk Mödling
mit Ausnahme der Gemeinde Gumpoldskirchen, den Gerichtsbezirk Liesing
sowie den politischen Bezirk Bruck a. d. Leitha.
Präsidenten dieser Kultusgemeinde waren: Dr. Siegfried Ragga, Joél
Singer, Nathan Löwit, Fabrikant in Perchtoldsdorf, Ignaz Lelai,
Dr. Ernst Moser, Salamon Eisler, Josef Fischer, David Rosenfeld, Wilhelm
Drach, Hermann Smetana, Kommerzialrat u. Holzhandlung in Liesing, Fritz
Rosenberg und Dr. Alfred Eisler.
Als Rabbiner der Kultusgemeinde Mödling amtierten Dr. Leo Bardowicz
und Dr. Albert Schweiger.
Den Religionsunterricht in Liesing erteilten um 1900 M. Altenberg und
später M. Lewinson.
Als Kantoren fungierten die Herren M. Altenberg, Österreicher, Noteles,
Tauber, M. Lewinson, Ignaz Falk und Josef Benedikt.
Schließlich sei noch bemerkt, dass, bevor 1900 das Tempelgebäude
in der Karlsgasse errichtet worden war, von 1867 - 1876 sich der Betsaal
im Haus Liesinger Gasse 11 (heute Wien 23, Fröhlichgasse 12) befunden
hatte.
In den Jahren bis zur Errichtung des Tempelgebäudes war der Betsaal
im Haus Atzgersdorf, Karlsgasse 4 (heute Wien 23, Dirmhirngasse 112) untergebracht.
Der israelitische Religionsunterricht wurde von 1867 - 1876 im Haus Liesinger
Gasse 13 (heute Wien 23, Fröhlichgasse) erteilt. Laut den Gesamtbevölkerungsda-ten
vom 31. Dezember 1900 waren im politischen Bezirk Hietzing und Umgebung
insgesamt 471 Israeliten ansässig. Eine Aufgliederung der Volkszählungsdaten
von 1890 bis 1934 veranschaulicht die Zahlen für Liesing und Umgebung.
Nach den jeweiligen Volkszählungsergebnissen zählte man im Jahr
1890 in Liesing 61 Israeliten, 1900 waren es 67, 1910 57, 1923 66 und
1934 87 Israeliten. Für die umgebenden Gemeinden Mauer und Atzgersdorf
wurden 1934 169 bzw. 137 Israeliten gezählt.
DIE EHEMALIGE SYNAGOGE IN ATZGERSDORF NACH IHREM UMBAU IM JAHRE 1922.
DAS HAUS DER FIRMA KERKOC ANSTELLE DER EHEMALIGEN SYNAGOGE IN ATZGERSDORF.