Babylonische Gefangenschaft und "Risorgimento"
Zum 100. Todestag von Giuseppe Verdi
Giuseppe Verdi _ ein (nicht nur) künstlerisches
Phänomen
Es gibt nur wenige Komponisten, deren Werke heute nicht mehr aus
dem internationalen Opernrepertoire wegzudenken sind. Giuseppe Verdi
(1813-1901) zählt zu ihnen. Darüber hinaus gilt Verdi
mit seinen 26(!) Opern als der wohl erfolgreichste und populärste
Opernkomponist schlechthin. In die Geschichte Italiens ging er vor
allem auch als "Maestro della rivoluzione" ein, dessen
Name zum Anagramm für die politische Parole "Vittorio
Emanuele Re D'Italia" ("Vittorio
Emanuele, König von Italien") wurde. Galt doch Viktor
Emanuel II., der König von Piemont-Sardinien, als besonderer
Hoffnungsträger der italienischen Einigungsbewegung. Er sollte
schließ-lich im Jahre 1861 als Viktor Emanuel I. den Thron
des geeinten Italien besteigen.
Verdi nahm in gewisser Weise die Rolle einer "Galionsfigur"
des Widerstandes gegen die Habsburgermonarchie ein. Die Zeitgenossen
hörten und verstanden die in seinen Opern (mehr oder weniger)
versteckten Freiheitsappelle.
Bezeichnend die Worte des Komponisten Luigi Dallapiccola,
der in späteren Jahren über die Bedeutung Verdis schrieb:
"Niemals, weder zuvor noch danach, stand das Volk in so tiefem,
so entscheidenden Einklang mit einem Komponisten" (Wagner 2001,
30). Besonders Verdis "martialisch-aggressiven und schwungsvollen"
Chören sollten in den Jahren des "Risorgimento" (=ital.
"Wiederaufstieg", Titel einer vom Grafen Cavour seit 1847
herausgegebenen Zeitung, später Bezeichnung für die italienische
Einigungsbewegung) auf den Straßen "als Fanale der Unabhängigkeitsbewegung"
(Fath 2000) ertönen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Feststellung
kaum übertrieben, dass Verdi "als moralische und künstlerische
Instanz eine singuläre Rolle" (Fath 2000) spielte.
"Die Wahrheit nachzubilden, ist verdienstvoll -die Wahrheit
zu erfinden ist viel besser"
Mit seiner Oper "NABUCCO" vertonte Verdi
ein Thema aus der jüdischen Geschichte und machte das Sehnen
des jüdischen Volkes in der "Babylonischen Gefangenschaft"
zu einem Symbol für den italienischen Widerstand gegen die
Fremdherrschaft der Habsburger, wie sie durch den Wiener Kongress
(1814-15) zementiert wurde. Mit dem am 9. März 1842 in Mailand
uraufgeführten "Nabucco" sollte Verdi zugleich sein
Durchbruch als international anerkannter Opernkomponist gelingen.
Die Premier gipfelte "in nicht enden wollenden Ovationen"
(Pahlen 1999, 154). Verdi selbst bestätigte 1879 in einem autobiographischen
Bericht: "Mit dem "Nabucco' begann mein eigentlicher Weg
als Opernkomponist" (Pahlen 1999, 139). Die Oper "Nabucco"
wird heute jedenfalls als ein quasi "Geniestreich" angesehen,
"als das plötzliche Aufleuchten einer ungewöhnlichen,
ja riesigen Begabung, der die höchsten Ziele erreichbar sind"
(Pahlen1999, 173).
Unmittelbar vor seinem großen Erfolg hatte
Verdi allerdings schwere Schicksalsschläge zu erleiden. In
den Jahren 1838 und 1839 starben seine beiden Kinder (jedes im Alter
von nur einem Jahr!), 1840 folgte ihnen des Komponisten erste Gattin
Margherita ins Grab. Dazu brachte ihm seine zweite Oper "Un
giorno di regno" ("König für einen Tag",
Uraufführung 1840 in Mailand) einen katastrophalen Misserfolg
und Verdi trug sich in jenen Tagen bereits mit dem Gedanken, die
musikalische Karriere zu beenden. Nach dem Fiasko, das Verdi mit
seiner zweiten Oper erlitten hatte, versuchte Bartolomeo Merelli,
der Direktor der Mailänder Scala, den Komponisten mental aufzurichten.
Verdi später in seinem autobiographischen Bericht: "Merelli
ließ mich rufen und behandelte mich wie einen launischen Jungen!
Er wollte nicht gelten lassen, dass ich wegen eines Misserfolges
die Flinte ins Korn werfen wollte. Doch ich blieb hart, so dass
Merelli mir den Vertrag mit den Worten zurückgab: "Höre
mich an, Verdi! Ich kann dich natürlich nicht mit Gewalt zum
Komponieren zwingen, aber mein Vertrauen in dich in keineswegs geringer
geworden. Wer weiß, ob du nicht eines Tages dich entschließen
wirst, doch wieder die Feder zur Hand zu nehmen. Dann brauchst du
mich nur zwei Monate vor dem Beginn einer neuen Saison zu benachrichtigen,
und ich verspreche dir, dass deine Oper aufgeführt werden wird!"
(Pahlen 1999, 148). Es war schließlich auch der Impresario
der Mailänder Scala, der Verdi das Textbuch zu "Nabucco"
in die Hände spielte. Zuvor hatte es der Komponist Otto Nicolai
noch abgelehnt, den Text von Temistocle Soleras zu vertonen ("ein
ewiges Wüten, Schimpfen, Schlagen und Morden"). Verdi
hingegen zeigte sich vom Stoff angesprochen.
Der Librettist Soleras selbst hatte sich an einem
1836 in Paris uraufgeführten Stück von Auguste Anicet-Bourgeois
orientiert, welches die Eroberung Jerusalems durch den babylonischen
Herrscher Nebukadnezar im sechsten Jahrhundert v. Chr. und das anschließende
Exil ("Babylonische Gefangenschaft") thematisierte. Auch
die Handlung des "Nabucco" (Kurzfassung des ursprünglichen
Titels "Nabucodnosor") orientiert sich auf (sehr) freie
Art und Weise an diesem historischen Ereignis der jüdischen
Geschichte. Vor dem Hintergrund des biblischen Themas geht es um
menschliche Leidenschaften, wie Liebe, Machtgelüste und Größenwahn.
Dennoch hatten für Verdi dies zeigten nicht zuletzt Diskussionen
mit dem Librettisten _ die persönlichen Gefühle der Handlungsträger
auf der Bühne "gegenüber dem wahren Sinn des Dramas:
dem Schicksal zweier Völker und dem Kampf zweier Gottheiten"
zurückzutreten (Pahlen 1999, 153). Das Stück endet auf
fulminante Weise mit der Offenbarung der "Macht Jehovas, des
Königs der Könige" (Fath 2000).
Zum geschichtlichen Hintergrund: dem historischen
Nebukadnezar war es im Jahre 598 v. Chr. gelungen, den babylonischen
Herrschaftsbereich auf das Königsreich Juda auszuweiten. Als
sich der neue König von Juda gegen die Fremdherrschaft auflehnte,
führte dies 587 zur Zerstörung Jerusalems und zur Verschleppung
der Juden nach Babylon. Die Eroberung des babylonischen Reiches
durch den Perserkönig Cyrus brachte dem jüdischen Volk
schließlich im Jahre 538 die Freiheit. _ Das Drama "Nabucco"
stellt den religiösen Konflikt, das quasi "Ringen"
zwischen der babylonischen Gottheit Baal und dem jüdischen
Gott Jahwe (oder Jehova) in den Mittelpunkt. Der "Kampf"
endet (zumindest bei Solera/Verdi) mit dem vollständigen Sieg
Jehovas und der Bekehrung der Baal-Anhänger (worüber die
Historie freilich schweigt).
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass in "Nabucco"
alles, was um den historischen Kern des "Babylonischen Exils"
herum geschildert wird, dichterischer Phantasie entspringt. Hier
gelten Verdis eigene Worte: "Die Wahrheit nachzubilden, ist
verdienstvoll. Doch die Wahrheit zu erfinden, ist viel besser"
(Pahlen 1999, 169).
Das Wechselspiel von Historie und Fantasie, die
Übersteigerung der Leidenschaft machen ebenso wie die "Raffung"
der Zeiten "Nabucco" zu einem Werk der romantischen Oper,
"die ihre Herrschaft über das Opernschaffen zu Anfang
des 19. Jahrhunderts erreicht" _ jedoch in Italien nicht jene
Verbreitung fand wie nördlich der Alpen (Pahlen 1999, 175).
Ein Opernchor wird zur Freiheitshymne
Dass sich nach dem "Nabucco" Verdis Popularität
innerhalb Italiens "wie ein Lauffeuer" verbreiten konnte,
ging zu einem besonderen Teil auf den berühmten Chor der hebräischen
Sklaven zurück. "Diese Melodie drückte, wohl ohne
dass ihr Komponist es geahnt hätte, die Sehnsüchte seines
eigenen Volkes aus, hier waren insgeheim die Wünsche der jungen
Italiener nach einem einheitlichem, geeinten, brüderlichen
großen Vaterland Italien ausgedrückt." Hinter dem
Bild der Freiheitssehnsucht des jüdischen Volkes aus längst
vergangenen Tagen konnten die italienischen Patrioten der Mitte
des 19. Jahrhunderts ihre eigenen nationalen und liberalen Forderungen
transportieren. "Man sang von Zion und dachte an Italien, man
sang vom Heimatlied, das so schön und verloren war,
und man sehnte sich danach, das verlorene, in zahlreiche
Kleinstaaten zerrissene Italien zusammenzufügen zur großen
Heimat. Die Melodie war so eingängig, dass sie auch ohne Begleitung
auf den Straßen gesungen werden konnte. Und wer konnte das
verbieten? Tatenlos mussten die Besatzungsmächte zuhören,
wenn irgendwo aus italienischen Kehlen das Va, pensiero
zum Himmel stieg" (Pahlen 1999, 157).
Es war der Text des späteren Gefangenenchors,
der Verdi besonders fesselte, nachdem ihm Merelli das Textbuch überreicht
hatte. Dazu der Komponist in seinem autobiographischen Bericht:
"Daheim angekommen, warf ich das Manuskript mit einer heftigen
Bewegung auf den Tisch und blieb in Gedanken versunken davor stehen.
Beim Aufprall hatte sich das Buch geöffnet; meine Augen fielen,
ich weiß nicht mehr wie, auf die Seite, die da aufgeblättert
vor mir lag. Und ich las: ,Va, pensiero, sull' ali dorate ...' Ich
überfliege auch die folgenden Verse und bin tief beeindruckt,
um so mehr als dies fast genau aus der Bibel stammt, die ich immer
sehr gerne gelesen hatte" (Pahlen 1999, 149).
Der Text des berühmten "Gefangenenchores"
im Wortlaut (deutsche Übersetzung): "Zieht, Gedanken,
auf goldenen Flügel, / Zieht, Gedanken, ihr dürft nicht
verweilen! / Lasst euch nieder auf sonnigen Hüglen, / Dort,
wo Zions Türme blicken ins Tal! / Um die Ufer des Jordan zu
grüßen, / Zu den teuren Gestaden zu eilen, / Zur verlorenen
Heimat, der süßen, / Zieht Gedanken, lindert der Knechtschaft
Qual! / Warum hängst du so stumm an der Weide, / Goldene Harfe
der göttlichen Seher? / Spende Trost, süßen Trost
uns im Leide / und erzähle von glorreicher Zeit. / Singe, Harfe,
in Tönen der Klage / Von dem Schicksal geschlag'ner Hebräer.
/ Als Verkünd'rin des Ew'gen uns sage: / Bald wird Juda vom
Joch des Tyrannen befreit" (Pahlen 1999, 99).
Wurde Giuseppe Verdi bei den Wahlen zum italienischen
Nationalparlament im Jahre 1861 zum Abgeordneten gewählt, so
sollte auch Themistocle Solera, der Librettist des "Nabucco"
und Schöpfer der Verse des Gefangenenchores, die politische
Laufbahn (vorübergehend) einschlagen. Als Geheimagent der italienischen
Patrioten vermittelte er zwischen dem Grafen Cavour (einem der treibenden
Kräfte der italienischen Einigungsbewegung) und dem französischen
Kaiser Napoleon III. Der Sieg französischer und piemontesischer
Truppen über die Österreicher bei Solferiono 1859 leitete
schließlich die Entstehung eines geeinten und unabhängigen
italienischen Staates ein. Solera selbst nahm im neuen Italien zunächst
die Position eines Polizeipräsidenten (unter anderem in der
nunmehrigen Hauptstadt Florenz) ein (Pahlen 1999, 162).
Am 27. Januar 1901 starb Guiseppe Verdi in Mailand
im Alter von 88 Jahren. Nach einer provisorischen Beisetzung erfolgte
die Bestattung Verdis und seiner zweiten Gattin Giusppina "unter
ungeheurer Anteilnahme der Bevölkerung und unter höchsten
Ehrenbezeugungen der Behörden" (Pahlen 1999, 188).
Anlässlich seines Begräbnisses ertönte
der Gefangenenchor aus "Nabucco", der "zu einer Freiheitshymne
der Italiener geworden war" (Wagner 2001, 30).
Zitierte Literatur:
Fath 2000 = Rolf Fath, Reclams Kleiner Verdi-Opernführer
(Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2000).
Pahlen 1999 = Giuseppe Verdi: Nabucco. Textbuch
(Italienisch _ Deutsch).
Einführung und Kommentar von Kurt Pahlen unter
Mitarbeit von Rosmarie König (Mainz: Atalntis-Schrott 1999).
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