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Ein Essay über Kafkas Rechtsphilosophie:
RECHT IST EIN PROZESS

Janko FERK

Franz Kafka hat selbst nur wenige Bücher zum Druck freigegeben und doch hat er die Literatur dieses Jahrhunderts stärker beeinflußt als jeder andere Schriftsteller. Seine Werke haben weltweite Wirkung erreicht. Die Kafka-Forschung hat seit den frühen sechziger Jahren vehemente Fortschritte gemacht und mittlerweile hat sich buchstäblich eine akademische Kafka-Industrie entwickelt. Vor allem die Wirkung des "Prozesses" ist enorm.

Mit seiner Deutung haben sich von Anfang an neben Germanisten vor allem Psychologen befaßt.
Der bundesdeutsche Germanist Theo Elm hat bereits im Jahr 1977 festgestellt, daß es seit dem Erscheinen der Werke rund elftausend Expertenmeinungen gibt.
Kafkas Werk spiegelt die Situation des Grundsatzfragen des Daseins bedenkenden Menschen. Sein Denken unterscheidet sich von Philosophie im strengen Sinn dadurch, daß es zwar erkenntniskritisch, nicht aber erkenntnistheoretisch ist. Und doch ist der "Prozeß" sozusagen das rechspeilosphilosophische Hauptwerk Kafkas.
Franz Kafka sucht die Wahrheit, obwohl ihm gleichzeitig bewußt wird, daß diese nicht erreicht werden kann. Die Sprache seiner Dichtung ist dabei gleichsam sein Denken.
Über alle seine Erkenntnisse könnte man einen Satz stellen:
"Wer seinem Urteil immer traut, muß nicht immer
recht haben, wer aber seinem Urteil nicht traut, hat wohl immer recht."
Kafka ist an Schopenhauer und Nietzsche geschult, wobei der letztere auf den Dichter den größeren Einfluß ausgeübt hat. Nietzsche ist in der Denkungsweise gewissermaßen ein Vorfahr Kafkas, wie dies der Germanist Erich Heller
konstatiert hat.
Kafkas "Strafsystem" zeigt sich dabei als Machtsystem und Nietzsches "Machtsystem" als Strafsystem. Natürlich ist in dieser Umkehrung eine Symmetrie erkennbar, in deren Schnittpunkt das Ich steht.
Dieses Ich ist - bei Nietzsche - Schauplatz von Machtkämpfen und bei Kafka - von Strafmächten. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden ist aber die Perspektive des Todes und die Differenz zwischen dem gnostischen und modernen Nihilismus.
Kafka war gnostisches Gedankengut vertraut und hat seine komplexe Beziehung zur Gnosis insbesondere der Kafkaforscher Walter H. Sokel nachgewiesen.
Eine von der Gnosis geprägte Denkstruktur und Sehweise ist dualistisch. Seine Arbeit ist deshalb durch zwei Fixpunkte determiniert: Einerseits durch den Tod als dem Schicksal des menschlichen Standes und andererseits dem unverlöschlichen Glanz.
Trotzdem steht neben der enormen Sekundärliteratur von zum Beispiel Beda Allemann über Hans Helmut Hiebel bis Theodore Ziolkowski eine Entdeckung bis heute aus, nämlich jene Franz Kafkas als Philosophen.
Der Frankfurter Germanist Hans Dieter Zimmermann hält ihn allein aufgrund seiner aphoristischen Aufzeichnungen für einen solchen ersten Rangs, der zur modernen europäischen Geistesgeschichte gehört. Zimmermann ist nur darin zu ergänzen, daß dem Werk weitgehend rechtsphilosophische Gedanken immanent sind.
Philosophisch war Kafka der Meinung, daß es nichts anderes gäbe als eine geistige Welt. Mit der "ewigen Entwicklung" beschreibt er ein Sein, das weder einen Anfang noch ein Ende hat, dabei setzt er einen religiösen Zeitbegriff, bei dem der Sündenfall als Anfang und das Jüngste Gericht als Ende dienen.
Der "Übergang" zwischen diesem Anfang und Ende ist unser Sein. Nach Kafka hat der Mensch die Erkenntnis von Gut und Böse, nicht jedoch die Kraft, nach ihr zu handeln. Dabei sind die Wurzeln des Philosophen Kafka in der jüdischen Mystik zu suchen.
Schon die einleitenden Gedanken Kafkas im "Prozeß" beweisen, daß dieser einen rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Hintergrund hat. Mit der Frage der Verhaftung Josef K.s wird jene der Rechtsstaatlichkeit angeschnitten, dabei steht Kafkas Gericht in einem assoziativen Zusammenhang mit der politischen Zeitproblematik. Der Autor greift auf die reale Rechtspraxis mit den Grundsätzen der österreichischen Strafprozeßordnung zurück. Alle Termini und Sachverhalte, die er in seinem Roman beschreibt, haben ihre Entsprechung in der zeitgenössischen Strafprozeßordnung. Das Strafrecht der österreichisch- ungarischen Monarchie war ein Vergeltungsrecht, dessen Verbesserungsbedürftigkeit bereits zum damaligen Zeitpunkt diskutiert wurde. Fast ultimativ sind die Legisten für Neuordnungen eingetreten. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß die Kodifizierungsthematik auch direkt in Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" eingeflossen ist. Er setzte sich mit der Kommission, die im Jahr 1912 den Entwurf eines Strafgesetzes erarbeitet hat, auseinander. Im Kapitel 111 seines Romans stellt Musil im Titel - klar und eindeutig - fest: "Es gibt für Juristen keine halbverrückten Menschen".
Bei seiner vielfältigen Erzählweise bedient sich der promovierte Jurist Kafka nicht nur des Handwerkszeugs seiner Profession, sondern auch der Erzählwelt und Gedanken des Chassidismus. Die epische Struktur ist ein Gebäude, das einen Grundstein in der jüdischen Identität hat.
Ein zentraler Gegenstand der Arbeit des Juristen ist die Sprache, weshalb das Thema "Recht und Sprache" ein klassisches der Rechtsphilosophie ist. Der Jurist ist während seines gesamten Berufslebens mit Wörtern, Sätzen und Texten konfrontiert. Zeit seines Lebens setzt er sich mit bestimmten Sprachprodukten auseinander und hat zwischen ihnen Verbindungen herzustellen.
Kafka selbst hat die sprachlichen Mittel ungemein bewußt eingesetzt. Im Gebrauch der rechtlichen Termini war er geschult und hat mit ihnen die forensische Spannung erzeugt.
Die Fachsprache des Rechts, die Kafka gebraucht, hebt sich von der Umgangs- und Volkssprache ab, gleichzeitig lastet ihr die Abstraktheit der Juristensprache an, die aber bei Kafka eher eine Zeitlosigkeit schafft.
Kafka setzt die innerlich gestaute Welt in Sprache um, sozusagen in ein kommunikables Medium. Durch seine Sprache relativiert er und statuiert Paradoxien. Er setzt jedoch keine abstrakten Gefüge zusammen, sondern stellt einen konkreten Helden, zum Beispiel Josef K., Karl Roßmann aus dem "Amerika"- Roman oder Gregor Samsa aus der "Verwandlung", in eine von Begriffen scheinbar normierte Welt. Als Autor erweitert er die Bedeutung der jeweils verwendeten Begriffe oder schafft überhaupt eine neue beziehungsweise andere.
Die Begriffe Verleumdung oder Verhaftung, wenn man auf den "Prozeß"- Beginn abstellt, oder Gericht und Untersuchung, suggerieren im wesentlichen einen anderen als rein strafprozessualen oder strafrechtlichen Hintergrund.
Kafka setzt durch seine Verschiebung die ursprüngliche und reale Semantik außer Kraft. Die Verhaftung, zum Beispiel, ist keine Festnahme mit Verwahrung, sondern ein inneres Verhaftetsein, eine fixe Vorstellung, der gefolgt wird.
Das Gericht ist zwar eine Einrichtung, die in Permanenz tagt, die von Kafka in ihrer Funktion aber weder räumlich noch sachlich entsprechend definiert wird. Er praktiziert keine Beschreibungsliteratur mit forensischen Begriffen; er schafft eine artifizielle Protokollsprache, in der er Begriffen oder Definitionen einen weiteren Sinn gibt. Die Rechtssprache engt ihn nicht ein, sondern eröffnet ihm neue Möglichkeiten der literarischen Artikulation.
Von der Sprache zum Recht überleitend ist zu sagen, daß ein umfassender Rechtsbegriff nur abstrakt und relativ unbestimmt definiert werden kann. Der deutsche Rechtsphilosoph Ralf Dreier sieht das primäre Interesse des Rechts im Problem der Gerechtigkeit, zu mal jeder Mensch ein mehr oder weniger ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl habe. Dabei lautet die Generalthese aller positivistischen Rechtstheorien, daß kein notwendiger Zusammenhang zwischen Recht und Moral bestehe. Eine Einigung über den Begriff des Rechts ist weder erzielt noch in Sicht. Die rechtswissenschaftliche Theoriediskussion geht davon aus, daß es mehrere Rechtsbegriffe geben kann, die gleichermaßen legitim und adäquat sind.
Den Glauben an einen eindeutigen Rechtsbegriff kennt nur das Frühwerk Kafkas. Einen solchen findet man irn Roman "Amerika", der "Prozeß" zeigt bereits eine "Differenzierung. Der "Rechtsstaat" mit seinen "gewöhnlichen Rechtssachen", wie sie Kafka nennt, wird abgegrenzt gegen die "unbekannte Rechtswissenschaft". Dem unbekannten Gericht im "Prozeß" ist ein unbekanntes "Recht" zugeordnet.
Das Gericht tagt, wie Kafka ausführlich und anschaulich beschreibt, "am Dachboden". Dabei bedarf Kafkas "Dachbodengericht" beziehungsweise "Dachbodenrecht" offensichtlich keines vorangegangenen Unrechts, um im Sinn eines Hoheitsanspruchs tätig zu werden.
Kafkas "Dachbodengericht" wird ohne eine formelle Anklageerhebung sozusagen "von der Schuld angezogen". Interpretiert man nun diese "Rechtsauffassung", so kommt man zum Schluß, daß der Angeklagte im "Prozeß" als personifiziertes Unrecht behandelt und bekämpft wird.
Kafka hat den Rechtsbegriff des öfteren problematisiert und ihn auch mit jenem der Macht verknüpft. Im "Prozeß" ist für ihn ein Rechtsweg nur auf dem Schleichweg möglich, zumal ein prozeßleitender Einfluß auf persönlichen Beziehungen und Indiskretionen basiert.
Wenn Franz Kafka gedanklich ausführt, daß die Macht den Zugang zum Recht verbauen kann, so meint er damit, daß dem Bestreben um Gerechtigkeit auch Erfolglosigkeit beschieden sein kann. Die Frage nach dem Recht oder Unrecht ist für Kafka daher durchaus eine quälende Existenzfrage.
Im "Prozeß" kommt Josef K. zum Schluß zu Tode. In Kenntnis des Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und damit auf ein auf "Gesetz beruhendes Gericht" wollte der Jurist Kafka den "klassischen" Justizirrtum samt einer Reihe von Rechtsverletzungen veranschaulichen. Sein Werk ist gleichzeitig ein Plädoyer gegen die Todesstrafe.
Neben dem Recht geht aus dem Werk der Gerechtigkeitsbegriff hervor, wobei es wiederum nicht nur einen, sondern mehrere gibt. Nach John Rawls, dem maßgebendsten 'zeitgenössischen Gerechtigkeitsphilosophen, hat jedermann gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. Der moderne Gesetzgeber richtet seine Rechtsordnung an der Idee der Gerechtigkeit aus und unterwirft die gesellschaftliche Ordnung einem ethischen Minimum.
Die Bedeutung des Gerechtigkeitsbegriffs, den Kafka bewußt literarisiert hat, geht im "Prozeß" aus dem Titorelli-Kapitel hervor, in dem der Maler gleichen Namens die allegorische Gerechtigkeitsfigur hinter einem sitzenden Richter stehend porträtiert.

Kafka gibt unmißverständlich zu verstehen, daß die Gerechtigkeit noch nicht ausgearbeitet, das heißt hergestellt ist. Das "Dachbodengericht" identifiziert die Gerechtigkeit mit der gemalten Siegesgöttin. Die Verschmelzung zweier Sinnbilder, nämlich der Gerechtigkeit und der Siegesgöttin, soll heißen, daß das "Dachbodengericht" den Verhafteten als eine Art Beute betrachtet. Letztlich verwandelt sich die Sieges- vor den Augen K.s zu einer Jagdgöttin.
Kafka gelingt damit eine überzeugende Darstellung des Verfolgungsablaufs mit entgegengesetzter Perspektive. Im eigentlichen wird K. veranschaulicht, daß er der Justiz zuerst unterliegt, dann angeklagt und schließlich exekutiert wird.
Die Abfolge der Figuren ist eine kongeniale Versinnbildlichung dessen, was K. zustößt und noch zustoßen wird. Die Metamorphose der Figur ist objektiv dadurch zu erklären, daß der Maler Änderungen an seinem Werk vornimmt; eine Veränderung tritt aber auch im Bewußtsein K.s ein. Kafka formuliert damit die Hilflosigkeit des Individuums vor der Gerechtigkeit, die unerreichbar scheint.
In Kafkas Welt des Schreckens wird die Angst zum Angriff und die Klage zur Anklage, und zwar gegen Hoffnungslosigkeit und Ungerechtigkeit. Zum Werkzeug wird dabei gerade die Sprache und der Aufbau jener Institution, der der Autor höchst skeptisch begegnet.
Dieses Jahrhundert hat Franz Kafka als Schriftsteller entdeckt, das nächste könnte in ihm einen Philosophen erkennen.


Wien: Manz 1999, 116 Seiten, ÖS 348.-
ISBN 3-214-06528-9

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