"SEINE SPOREN IM KOSOVO VERDIENEN..."
Ein Altösterreicher als Albanienkenner: Alfred Ritter Rappaport v.
Arbengau (1868-1946)
William D. Godsey, Jr.
Es wird den heutigen diplomatischen Vertretern der Großmächte
zweifellos schwerer fallen, die Lage auf der Balkanhalbinsel einzuschätzen
und zu beurteilen, als seinerzeit den Vertretern der österreichisch-ungarischen
Monarchie.
Im Allgemeinen mussten sich die Staatsmänner und Diplomaten
in Wien, besonders ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, ständig mit
dem Balkan auseinandersetzen, nicht zuletzt deswegen, weil das Habsburgerreich
gemeinsame Grenzen mit Serbien, Rumänien und Montenegro hatte und
die damaligen russischen Bestrebungen, die nationalen Konflikte auf dem
Balkan für die eigenen Zwecke auszunützen, den Status Österreich-Ungarns
als Großmacht schwer bedrohten. Schon im 18. Jahrhundert erkannte
die Kaiserin Maria Theresia die Bedeutung des Nahen Ostens für den Aussenhandel und die Aussenpolitik ihrer Staaten, indem sie die Orientalische
Akademie in Wien gründete. Diese Institution sollte zukünftigen
Vertretern der Interessen der Monarchie in jener Region eine fundierte
Spezialausbildung bieten. Im Laufe der Zeitwurde die Akademie auf diesem
Gebiet führend in Europa.
Ausser der allgemeinen geopolitischen Bedeutung der Region für die
Monarchie gab es ganz spezifische Gründe warum genaue Balkankenntnisse
für die diplomatischen Vertreter Österreich-Ungarns unerlässlich
waren. Mit dem osmanischen Reich hatten die Habsburger im 17. und im 18.
Jahrhundert wiederholt Verträge gechlossen, wodurch die Monarchie
auf Grund sogenannter Kapitulationen das Kultusprotektorat über die
katholischen Einwohner türkischer Gebiete ausüben durfte. Bis
zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten diese Kapitulationen eine neue aussenpolitische
Bedeutung gewonnen: man sah darin ein Werkzeug des politischen Einflusses
in den an den Süden der Monarchie angrenzenden türkischen Provinzen,
namentlich in Albanien, sowie ein Mittel, die Festsetzung fremder Mächte
an der Ostküste der Adria zu verhindern. Um die auf Grund der Verträge
gewonnenen Rechte wahrzunehmen und in Macht und Einfluss umzusetzen, bedurfte
der Ballhausplatz Beamter, vor allem im konsularischem Dienst, die sich
auf dem Balkan sprachlich, geographisch, historisch, kulturell und wirtschaftspolitisch
zu bewegen wussten. Vor 1914 dürfte sich, was Balkankenntnisse und
die Wissenschaft über jene Länder, insbesondere Albanien, betrifft,
kein Staatsgebilde so hervorgetan haben wie Österreich-Ungarn. Mit
dem Zerfall der Monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs, ging Österreich
und Europa nicht nur dieses tradierte Wissen langsam verloren, sondern
es verblasste auch allmählich die Erinnerung daran. Die Besetzung
Österreichs 1938 durch das Deutsche Reich mit ihren verheerenden
Folgen für die Wissenschaft versetzte dem endgültig den Todesstoß.
Auf dem Gebiet der Aussenpolitik hatten sich vor 1918 drei Altösterreicher
durch ihre Albanienkenntnisse ganz besonders ausgezeichnet: Ludwig v.
Thálloczy (1854-1916), Theodor Anton Ippen (1861-1935) und Alfred
Ritter Rappaport v. Arbengau (1868-1946).
Heutzutage wird Thálloczy hauptsächlich durch seine Tätigkeit
in der Vorkriegszeit als Chef der bosnisch-herzegowinischen Landesverwaltung
und im Kriege als österreichisch-ungarischer Zivilgouverneur in Serbien
in Erinnerung behalten. Weniger bekannt sind seine regen wissenschaftlichen
Forschungen und seine zahlreichen Veröffentlichungen zur Geschichte
Albaniens. Im Jahr seines Todes gab er ein zweibändiges Werk unter
dem Titel Illyrischalbanische Forschungen heraus. Noch unmittelbarer an
der Albanienpolitik Österreich-Ungarns war Theodor Anton Ippen beteiligt,
der es bis zum Ersten Weltkrieg zum titulierten Sektionschef im k.u.k.
Ministerium des Äußern brachte. 1912 erstellte er eine ethnographische
Karte der albanischen Gebiete der Türkei, die der nach London zur
Botschafterkonferenz u.a. zur Regelung der Frage der albanischen Unabhängigkeit
entsandten Delegation als Grundlage dienen sollte. Im Übrigen war
keine der diplomatischen Vertretungen in London so gut und so genau über
die nationalen Verhältnisse Albaniens informiert wie die österreichisch-ungarische.
Ippens Albanienvorliebe kam durch seine wissenschaftlichen Arbeiten noch
deutlicher zur Schau als bei Thálloczy. Zwischen 1892 und 1932
veröffentlichte er mehr als zwei Dutzend Aufsätze in drei Sprachen
(Deutsch, Albanisch und Französisch), welche die verschiedensten
Aspekte der Geschichte von Albanien, von den dortigen Siedlungen durch
die Römer bis zum österreichischen Kultusprotektorat, behandelten.
Seine Leistungen wurden in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine
Dissertation - allerdings an einer deutschen Universität (München)
- gewürdigt.
Im Vergleich zu Thálloczy und Ippen ist der Mitarbeiter des Letzteren
im k.u.k. Außenministerium, Alfred Rappaport, unverdienterweise
fast völlig in Vergessenheit geraten. Obwohl Rappaport die Erhebung
in den Adelsstand erlangte und seine Karriere als Sektionschef beendete,
erscheint sein Lebenslauf nicht einmal, wie bei Ippen, in den einschlägigen
biographischen Lexika. Wie Ippen stammte Rappaport aus der jüdischen
Bevölkerung der Monarchie. Während Ippen aus dem böhmischen
Raum kam, lagen Rappaports väterliche Wurzeln in Galizien. Zur Zeit
seiner Geburt (am 16. Juni 1868 in Wien) arbeitete sein aus Lemberg gebürtiger
Vater, Eugen Barach-Rappaport (1836-1914), als Eisenbahninspektor. Eugen
dürfte aus gehobenen Verhältnisse gekommen sein, da sein Vater,
Dr. med. Ascher Barach-Rappaport, seinen Lebensunterhalt als Arzt verdiente.
Eine familiäre Verbindung zwischen unseren Rappaports und der berühmten
aus Lemberg stammenden Gelehrtenfamilie gleichen Namens, deren hervorragendsten
Mitglieder Salomon Juda Löb Rappaport (1790-1867), Moriz Rappaport
(1808-1880) und der gleichfalls geadelte Arnold Edler Rappaport v. Porada
(1840-1907) waren, kann nicht ausgeschlossen werden. Mütterlicherseits
gehörte Alfred Rappaport einer aus Wien stammenden jüdischen
Juweliersfamilie an.
Sein Großvater, Salomon Johann Nepomuk Goldschmidt (1810?-1855),
arbeitete in der Tradition seiner Familie als Juwelier und besaß
auch die Pacht der k.k. Opalgruben.
Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts sind bei den Rappaports Zeichen
sowohl von Assimilierung als auch von Angst vor dem aufkeimenden Antisemitismus
bemerkbar. Ab 1848 optierten immer mehr wohlhabende Juden für die
Assimilation, eine Entwicklung die sich nach dem Aufkommen der antisemitischen
Bewegung in den 70er Jahren noch beschleunigte.
Eugen Rappaport, der sich seit jener Zeit nur noch des einen Familiennamens
bediente, war zeitweise Bankier und Vertreter mehrerer österreichischer
Versicherungsgesellschaften in Konstantinopel, wo er sich mit seiner Familie
niederließ. Bis zu seiner Pensionierung stieg er zum Chefinspektor
der kaiserlichen osmanischen Eisenbahnen auf und erhielt sogar den Titel
"Bey". Mit der habsburgischen Konsularvertretung in Konstantinopel,
die ihn als Berater heranzog, stand er in enger Verbindung. Seinen Sohn
Alfred ließ er allerdings in der Heimat, im Jesuitengymnasium zu
Kalksburg bei Wien ausbilden. Das Bekenntnis zum jüdischen Glauben
stellte damals kein Hindernis dar, ein katholisches Gymnasium zu besuchen.
Nichtsdestoweniger trat Alfred 1883 im Alter von 15 Jahren aus der jüdischen
Kultusgemeinde aus und wurde im selben Jahr mit Bewilligung der k.k. Bezirkshauptmannschaft
Hernals in Wien nach römisch-katholischem Ritus getauft.
Sein Austritt aus der Kultusgemeinde mag wohl mit seiner Entscheidung
zusammengehangen haben, eine Karriere im auswärtigen Dienst der Monarchie
einzuschlagen. Juden war der Zugang zum Aussenamt formell keineswegs versperrt,
doch hatten sie seit den 70er Jahren nicht wirklich die Möglichkeit,
dort führende Stellen einzunehmen. Die Zeiten in denen ein Karl Ritter
v. Weil (1806-1878) als gläubiger Jude am Ballhausplatz unter Fürst
Felix Schwarzenberg in den Hofratsrang aufsteigen konnte waren vorbei.
Selbst der Enkel Weils, Otto Ritter v. Weil (1861-1924) erlangte seinen
Sektionschefposten im Aussenministerium erst nach der Konvertierung. 1886
bewarb sich Alfred Rappaport erfolgreich um die Aufnahme in die Orientalische
Akademie. Die Verbindungen seines Vaters und die Ortsansässigkeit
der Familie in Konstantinopel, wo er bereits Erfahrungen mit dem Orient
gesammelt hatte, dürften ihm bei der Bewerbung von Vorteil gewesen
sein. Er war der deutschen, französischen, italienischen und englischen
Sprache mächtig und konnte auch Kenntnisse im Türkischen vorweisen.
Rappaport verbrachte die Jahre 1886 bis 1891 in der Akademie und trat
nach seinem Militärdienst, im November 1892 als Konsulareleve in
das k.u.k. Konsularkorps ein.
1893 kam er beruflich zum ersten Mal auf albanisches Gebiet: er wurde
nach Scutari im damaligen türkischen Albanien (heute Shkoder in Albanien)
versetzt. Dort fing er an, sich auf Albanien zu spezialisieren: ein Schritt,
der seine ganze Karriere prägen und ihn zu einem der bedeutendsten
Albanienkenner des 20. Jahrhunderts machen sollte. Er hatte nun reichlich
Gelegenheit, seine Albanienkenntnisse zu vertiefen, da er dort vier Jahre
hindurch in dienstlicher Verwendung stand. Ende 1896 beklagte sich der
junge Rappaport beim Außenministerium über die Einsamkeit und
Schwierigkeiten, welche seine lange Dienstverwendung in Scutari für
ihn bedeutete: "Ganz abgesehen von den schweren Entbehrungen sozialer
und intellektueller Natur, welche der mehrjährige Aufenthalt an einem
der civilisirten Welt so entrückten Orte, inmitten einer gänzlich
barbarischen Bevölkerung mit sich bringt, war ich während meiner,
so ungewöhnlich langen hiesigen Verwendung, auch was das rein materielle
Leben betrifft, argen Privationen ausgesetzt." Am Ende seiner Zeit
in Scutari diente er sogar unter Theodor Anton Ippen, der ihn wegen sei-ner
"Local- und Personalkenntnis" länger in Scutari behalten
wollte.
1897 erhielt Rappaport seinen ersten selbständigen Posten und zwar
in der Stadt Prizren im Kosovo, damals auch türkisches Gebiet, wo
er bis November 1899 als Leiter des dortigen k.u.k. Konsulats verblieb.
Wegen verschiedener Verkehrsstörungen musste die Fahrt von Scutari
nach Prizren durch die Berge zu Pferde zurückgelegt werden. Die äußerst
schlechte Verkehrsverbindung zwang Rappaport sogar seine Möbel und
sonstige Einrichtungsgegenstände in Scutari zu veräussern, da
ihr Transport nach Prizren kaum durchzuführen gewesen wäre.
Nach einer mehrtägigen Reise, die aus Sicherheitsgründen teilweise
mit einem bewaffneten Begleiter gemacht werden musste, traf er am 19.
April 1897 in Prizren ein und am gleichen Tag übernahm er die Amtsleitung.
Rappaports Leben im Kosovo entsprach keineswegs den Vorstellungen von
einem eleganten Diplomatenleben um die Jahrhundertwende, sondern eher
dem eines Soldaten im Felde. Kurz nach seiner Ankunft in Prizren bat er
das Außenministerium in Wien, ihm die Kosten für "Reitzeug,
Feldbett, wasserdichte Mäntel und Decken u. dgl." zurückzuerstatten.
Es gab in Prizren kein internationales Telegraphenamt, was die Verbindung
zur Aussenwelt stark beeinträchtigte. So musste Rappaport die Geschäfte
in seinem Jurisdiktionsbereich zu Pferde erledigen. Trotz dieser Schwierigkeiten
konnte er nach Wien berichten, dass er "mit den hiesigen Behörden
und sämtlichen Kreisen der albanischen Bevölkerung in freundschaftliche
Beziehungen [getreten war] und zwischen den betreffenden Persönlichkeiten
und diesem k.u.k. Amte ein intimeres Verhältnis [geschaffen hatte]."
Eine dreijährige Zuteilung nach Bagdad (1900-1903) war die einzige
Unterbrechung seines Spezialeinsatzes auf dem Balkan und hinterließ
in seiner Karriere keine bedeutenden Spuren. Schon 1903 kehrte er auf
die Balkanhalbinsel zurück, diesmal nach Mazedonien. Dort verbrachte
er fünf Jahre: zuerst als Stellvertreter des österreichischen
Zivilagenten, dann als Leiter des Konsulats in Uesküb (heute Skopje),
zuletzt mit der Führung der Geschäfte des Zivilagenten betraut.
In diesen Verwendungen nahm er wesentlichen Anteil an der Verwirklichung
des zwischen Österreich-Ungarn und Russland vereinbarten und dem
Sultan aufoktroyierten Mürzsteger Programms (1903). Dieses zielte
- durch die Ausführung von Verwaltungs- und Justizreformen im türkischen
Mazedonien unter der Aufsicht von Vertretern der Großmächte
- auf die Beruhigung der für die Stabilität Europas gefährlichen
Lage auf dem Balkan und auf die Erhaltung des territorialen Status quo.
Seine Erinnerungen an die Jahre in Mazedonien hat Rappaport in der Zwischenkriegszeit
in seinen 1927 in Paris erschienen Memoiren festgehalten: Au pays des
martyrs. Notes et souvenirs d'un ancien consul général d'Autriche-Hongrie
en Macédonie (1904-1909).
In einem Vortrag 1908 an Kaiser Franz Joseph bezeichnete der damalige
Außenminister, Alois Freiherr v. Aehrenthal die Arbeit Rappaports
in der Reformaktion in Uesküb als "hervorragend". Ende
1909 sah sich der Minister dazu veranlasst, Rappaport, "welcher einer
der besten Kenner des Orients, insbesondere Albaniens, ist, als Subreferenten
für die albanischen Angelegenheiten in die Zentralleitung des Ministeriums
des Äußern einzuberufen, wo selbst er so vortreffliche Dienste
leistete, das ihm sowohl im politischen Referate für die orientalischen
Angelegenheiten als auch im kirchenpolitischen Referate die Stellung des
Stellvertreters des Referentes anvertraut werden konnte".
Am Ballhausplatz erlangte Rappaport unter Außenminister Leopold
Graf Berchtold (1912-1915) die Stellung eines wichtigen Ratgebers für
Balkanangelegenheiten. Die ersten Monate Berchtolds waren sogar von der
Krise um die Unabhängigkeit Albaniens überschattet. Bei dem
Besuch des von den Großmächten auserwählten neuen Fürsten
von Albanien, Wilhelm Prinz zu Wied im Februar 1914 in Wien mussten ihn
Rappaport, Ippen und Thallóczy "mit ihren genauen Kenntnissen"
beraten. 1912 hatte Rappaport mit seiner Ernennung zum Generalkonsul I.
Klasse die höchste Stufe des konsularischen Dienstes erreicht. Danach
dauerte seine Verwendung in der Zentralleitung des Aussenministeriums
ohne Unterbrechung bis zum Ende der Monarchie.
Im Krieg fungierte Rappaport als selbständiger Referent für
die albanischen Angelegenheiten sowie gleichzeitig als Stellvertreter
des Referenten für die Angelegenheiten des Krieges und für die
kirchenpolitischen Angelegenheiten. Wegen seiner Verdienste beantragte
das Außenministerium 1916 seine Erhebung in den österreichischen
Ritterstand. Bei der Auswahl seines Adelsprädikates konnte Rappaport
seine Albanienkenntnisse und seine Vorliebe für das Land in besonderer
Weise zum Ausdruck bringen. Er durfte drei akzeptable Prädikate vorschlagen,
von denen ihm eines nach Überprüfung durch das k.k. Innenministerium
verliehen werden sollte. Seine drei Vorschläge waren: "Drinek"
- gebildet aus dem Namen des Flusses Drin in Albanien, dann "Arbengau"
- gebildet aus dem mittelalterlichen Namen Arbanum, einer Gegend in Oberalbanien
und schließlich "Arward" - gebildet durch Umstellung des
Flussnamens Wardar in Mazedonien. Am 15. März 1916 wurde er von Kaiser
Franz Joseph in den Ritterstand erhoben und erhielt am 6. Mai desselben
Jahres nachträglich das Prädikat "Arbengau". So führte
er bis zur Abschaffung des österreichischen Adels 1919 den Namen
"Ritter Rappaport v. Arbengau".
Obwohl zahlreiche Angehörige des ehemaligen k.u.k. auswärtigen
Dienstes mit dem Zerfall der Monarchie in den Ruhestand traten, um nicht
der Republik Österreich dienen zu müssen, setzte Rappaport zunächst
seine Karriere fort.
Allerdings dürfte auch ihm die neu entstandene geographische Einteilung
Mitteleuropas nicht gefallen haben; seine Überzeugung, dass ein multinationales
Staatsgebilde die beste Lösung für das Zusammenleben der kleinen
Nationalitäten darstellte, hatte er bestimmt nicht abgelegt. In den
20er Jahren ist eine Wehmut nach der alten Ordnung und dem bunten Völkergemisch
bei ihm sehr deutlich spürbar. Auf der anderen Seite erhoffte er
sich von der Republik zweifellos die Möglichkeit einer höheren
Verwendung im auswärtigen Dienst, die ihm im früheren aristokratischen
Ministerium versagt geblieben war. Nach der Errichtung des neuen Staatsamtes
für Äußeres leitete er in der Tat die politische Abteilung
für Skandinavien, Russland und den Balkan. Während der Friedensverhandlungen
hat er nebstdem die Agenden der ad hoc errichteten Abteilung für
Angelegenheiten des Friedensvertrages und die Leitung eines Teiles der
politischen Sektion übernommen. 1920 avancierte er sogar zum politischen
Sektionschef und wurde dadurch der ranghöchste Beamte am Ballhausplatz.
Diese Tätigkeit dauerte jedoch nur wenige Monate und seine Hoffnungen
auf eine dauernde, seinen Fähigkeiten entsprechende Karri-ere gingen
nicht in Erfüllung. Vielmehr fiel er dem Antisemitismus der ersten
Republik zum Opfer: Es wurde ihm eröffnet, daß seine Stelle
im Zuge einer Neugliederung des Staatsamtes verloren gehen sollte. Trotz
seiner unbestreitbaren Qualifikationen bekam er als Ersatz nicht einmal
einen Auslandsposten. Den Grund dafür erfuhr er in einem Gespräch
mit dem damaligen Staatssekretär Karl Renner, der ihm "nach
langen Umschweifen" seinen angeblich jüdisch klingenden Namen
vorwarf. Renner meinte, dass seine Partei in dieser Hinsicht ohnehin allzu
"belastet" sei und er sie nicht noch mehr belasten wolle. Am
30. September 1920 wurde Rappaport im Alter von 52 Jahren, trotz seiner
heftigen Proteste zwangspensioniert. In einem Schreiben an das Staatsamt
für Äußeres drückte er seine Bitterkeit über
die ihm zuteil gewordene Behandlung aus. Zugleich bietet sein Brief einen
beißenden, wahrheitsgetreuen Kommentar über die damaligen Verhältnisse
und seinen eigenen Werdegang. Er schrieb:
"...daß der Herr Staatssekretär Dr. Renner mir meinen
ehrlichen Namen vorgeworfen und ihn als ein Hindernis meiner Laufbahn,
ja sogar als eine Belastung bezeichnet hat! Obwohl meine Familie schon
seit Anfang der sechziger Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts jede tatsächliche
Fühlung mit ihrem Ursprungslande [Galizien] verloren hat, obwohl
ich samt meinen Angehörigen katholisch und in Kalksburg erzogen bin,
habe ich weder hierin, noch in meiner Staatsdienstleistung jemals einen
Grund erblickt meinen Namen zu verleugnen. Es war vielmehr stets mein
Stolz, daß ich unter diesem Namen und trotz dieses Namens eine schöne
Laufbahn im Staatsdienste zurückgelegt habe, und daß derselbe
bisher nie ein Hindernis dagegen gebildet hat, daß mich im In- und
Auslande Herrscher, Staatsmänner und Kirchenfürsten geehrt und
ausgezeichnet haben, ohne daß jemals die leiseste verletzende Anspielung
auf meinen Namen gefallen wäre! Erst im jüngsten Stadium meiner
Laufbahn ist es mir vorbehalten gewesen diese bittere Kränkung zu
erdulden!"
Nach seiner Frühpensionierung lebte Rappaport noch ein Vierteljahrhundert.
Er wohnte weiterhin in Wien, in der Hörlgasse im 9. Bezirk, und scheint
seine Zeit hauptsächlich mit der Verfassung seiner Memoiren und zahlreicher
Aufsätze über Aussenpolitik und den Balkan verbracht zu haben.
Wegen seiner jüdischen Herkunft hätte ihm der Anschluss Österreichs
an das Deutsche Reich 1938 zum Verhängnis werden können. Die
Inkonsequenz des Rassenwahns der Nazis dürfte ihn allerdings gerettet
haben. 1909 hatte Rappaport in Thessaloniki eine Italienerin katholischen
Glaubens, Therese Anelli, deren Familie aus Palermo stammte, geheiratet.
Dieser Ehe entsprossen ein Sohn und zwei Töchter, die katholisch
getauft und erzogen wurden. Durch seine katholische Familie war er nach
1938 im Prinzip vor einer Deportation gesetzlich geschützt. Es könnte
aber auch sein, dass die Nazis Bedenken hatten, einen so hervorragenden
Balkan-Fachmann zu verfolgen, dessen Kenntnisse unersetzlich waren. Im
Oktober 1938 konnte Rappaport immer noch einen Artikel zum Thema "Die
machtpolitischen Verschiebungen in Südosteuropa seit den Pariser
Friedensverträgen 1919" in den Berliner Monatsheften veröffentlichen.
Möglicherweise war dem Regime die Verfolgung dieses ausgezeichneten
Albanienkenners angesichts der Verwicklungen Deutschlands auf dem Balkan
im Zweiten Weltkrieg unklug erschienen. Am 11. Oktober 1946 starb Alfred
Rappaport, der sich ein halbes Jahrhundert früher seine Sporen als
Leiter eines habsburgischen Konsulates in Kosovo verdient hatte, in Wien.
Quellen: Personalakt Alfred Rappaport im Haus, Hof- und Staatsarchiv
(Wien), Administrative Registratur, Fach 4; Personalakt Alfred Rappaport
im Archiv der Republik (Wien), Neue Administrative Registratur, Fach 4;
Adelsakt Alfred Rappaport in Allgemeinen Verwaltungsarchiv (Wien); Geburts-
und Sterbematriken der Jüdischen Kultusgemeinde (Wien); Die Presse
vom 25.1.1947; Alfred Rappaport, Au pays des martyrs. Notes et souvenirs
d'un ancien consul général d'Autriche-Hongrie en Macédonie
(1904-1909), Paris 1927; Franz Plener (Hrsg.), Das Jahrbuch der Wiener
Gesellschaft. Biographische Beiträge zur Wiener Zeitgeschichte, Wien
1929; Hugo Hantsch, Leopold Graf Berchtold. Grandseigneur und Staatsmann,
Graz/Wien/Köln, 1963.
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