FRANZ RUDOLF BIENENFELD:
Ein Pionier der MenschenrechtsgesetzeEvelyn ADUNKA
Es gibt nicht wenige gute Gründe, an den heute völlig vergessenen
Wiener Rechtsanwalt und in vielen seiner Publikationen sehr originellen
jüdischen Autor Franz Rudolf Bienenfeld zu erinnern. Sein Freund
und Schüler, der 1938 ebenfalls nach Großbritannien exilierte
österreichisch-jüdische Rechtsanwalt Fritz Lothar Brassloff
nannte ihn nicht umsonst "eine der bedeutendsten Gestalten des österreichischen
Judentums" und rühmte Bienenfelds "Begabung, Fleiß,
Ehrgeiz, Beharrlichkeit", die diesen zu weit überdurchschnittlichen
Leistungen befähigten.1
Franz Kobler, wie Bienenfeld ein Wiener Rechtsanwalt und bekannter jüdischer
Historiker, der gleichfalls 1938 nach Großbritannien emigrierte,
nannte seinen Freund F. R. Bienenfeld "[e]ndowed with an unsual sagacity,
eloquence, with and personal charm" und schrieb weiters über
ihn: "It is indeed not only Bienenfeld's deep attachment to the Jewish
people but no less a burning desire for justice that inspires him to his
tireless efforts on behalf of the Jews."2
Franz R. Bienenfeld wurde 1886 in Wien als Sohn eines Advokaten geboren.
Mütterlicherseits stammte er von der berühmten rabbinischen
Familie Schmelkes ab.
Seine Schwester Elsa Bienenfeld war eine Schülerin von Arnold Schönberg
und Guido Adler. Sie arbeitete als Musikkritikerin des Neuen Wiener Journals,
wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und in Mali Trostinec ermordet.
Bianca Bienenfeld, seine zweite Schwester, war Ärztin und starb bereits
1929.3
Bienenfeld studierte in Wien Jus und arbeitete ab 1915 als Rechtsanwalt
in Wien. 1933 veröffentlichte er das Buch Die Haftungen ohne Verschulden.
"Typenlehre" und System der aussergeschäftlichen Obligationen
im deutschen, österreichischen und schweizerischen Recht, für
das er mit dem Anton Dirl-Preis der Universität Wien ausgezeichnet
wurde.
Außerdem fungierte er in der Zwischenkriegszeit als Wirtschaftsberater
der Ernährungszentrale der österreichischen Regierung und er
war Vorstandsmitglied der Prüfungskommission der Wiener Rechtsanwaltskammer.4
Als junger Mann bewunderte er Sigmund Freud, dessen Vorlesungen er fünf
Jahre lang besuchte.5
Über Freud schrieb er in den dreißiger Jahren: "...so
ist heute der Mut, die Menschlichkeit, der Geist und das Genie Sigmund
Freuds das Muster menschlicher Würde in einer verwilderten Epoche."6
1947 bekannte er über Freud: "I have been influenced by Sigmund
Freud since my earliest youth - be the results of his work, by his method
of thought, and, I venture to hope, by his spiritual courage."7
Zusammen mit Fritz Eckstein, August Aichhorn und Ludwig Jekels gehörte
er später zur allwöchentlich am Samstag Abend sich treffenden
Tarockrunde Freuds.8
Auch Martin Freud, der älteste Sohn Sigmund Freuds, erinnerte sich
an Bienenfeld: "His prudence and wit enchanted father, and he was
much liked as a card player." Da Martin Freud Jus studiert hatte
war er auch ein Fachkollege Bienenfelds. Er bewunderte ihn und konnte
ihn als sein Mitarbeiter auch sehr gut beobachten, worüber er etwas
ironisch berichtete: "You cannot compare a whale with a sardine?
Bienenfeld made it possible for the two of us to work together in certain
cases - they were probably not his most important ones. It gave me incredible
pleasure to watch him in court. I remember a civil case, rather weak in
my opinion, where his opponent was a typical Teutonic lawyer, twice Bienenfeld's
size, and with a face like the hero of the Nibelungenlied. I noticed with
amusement that he was frightened to death of his Jewish opponent, and
when Bienenfeld hinted that an agreement was not out of the question,
he jumped at the chance, only too glad to avoid a legal battle which,
in my opinion, he could hardly have lost. How comforting that profundity
of knowledge and superior intellect could make a Jew not only admired
but even feared!"9
In der Zeit der sich abzeichnenden Machtübernahme der Nationalsozialisten
gehörte Bienenfeld zu jenen, die Freud vergeblich zur Emigration
in die Schweiz zu überreden versuchten.10
Noch 1957 veröffentlichte Bienenfeld im International Journal of
Psycho Analysis die Studie Justice, Aggression and Eros über den
Ursprung von Recht und Gerechtigkeit in der Kindheit.
1934 publizierte Bienenfeld unter dem Pseudonym Anton van Miller das Buch
Deutsche und Juden, das 1939 auch ins Englische sowie ins Französische
übersetzt wurde. Die von der IKG herausgegebenen Iskult Presse Nachrichten
(IPN) nannten das Buch "eine der ersten und schärfsten sachlichen
Angriffe gegen die nationalsozialistische Doktrin." Für Franz
Kobler war es "a penetrating historical and sociological analysis
of the greatest crisis which the German Jews had ever encountered."
Josef Fraenkel erinnerte sich, daß die Nazis das Pseudonym bald
lüfteten und Bombenanschläge gegen den Autor verübten.11
Bienenfelds Buch war der originelle Versuch, die antisemitischen Argumente
der Nazis in deren Schriften ernstzunehmen und auf diese einzugehen. So
stimmte er mit dem Befund überein, daß in für die "Wirtsnationen"
lebenswichtigen Gebieten die Juden zu "unleugsamen Machtpositionen"
gelangten, gab allerdings als logischen (und von den Nazis sicher nicht
anerkannten) Grund dafür an: "Zu jedem Amte, das ein Mensch
bekleidet, gehören immer zwei: der eine, der es will und der andere,
der es gibt..."12
Er analysierte auch den charakteristischen Assimilationswunsch der mitteleuropäischen
Juden, der sich besonders in ihren kulturellen Tätigkeiten spiegelte:
"Niemals haben die Juden ihre eigene Kultur, Erziehung und Religion
anderen Nationen zu übermitteln versucht...die mitteleuropäischen
Juden arbeiteten als Geistige ausschließlich nicht nur durch, sondern
auch für die Kultur ihrer Wirtsnationen."13
Das bekannte jüdische Sprichwort "Die Juden sind so wie alle
anderen Menschen, nur mehr so" variierte Bienenfeld u.a. in dem Satz.
"Die mitteleuropäischen und die westlichen Juden zeigen gegenwärtig
die Tugenden und die Laster ihrer Wirtsvölker stets zum Quadrat erhoben."14
Im Februar 1939 erschien in Wien Bienenfelds Broschüre Die Religion
der religionslosen Juden, die auf einen am 10. November 1937, dem Geburtstag
Friedrich Schillers, gehaltenen Vortrag in der Gesellschaft für Soziologie
und Anthropologie der Juden zurückging. Diese Auflage wurde von den
Nazis vernichtet, das Buch jedoch auch ins englische übersetzt und
1955 auf deutsch neu aufgelegt. In den zahlreichen, seither auf deutsch
und englisch publizierten Untersuchungen über das säkulare jüdische
Bewußtsein wurde die Publikation allerdings nicht rezipiert.15
Der Vortrag möge, wie Bienenfeld ausführte, "Zeugenschaft
dafür ablegen, daß die Judenheit, damals ungehört von
den demokratischen Regierungen, ihre Stimme erhob, um die Menschheit und
die Menschlichkeit zu vertei-digen."16
Bienenfeld definierte darin die religionslosen Juden nicht als konfessionslose
oder gottlose Juden, sondern als "jene Menschengruppe, die die Ritualien
der jüdischen Religion nicht mehr einhält, die Speisegesetze,
die Heiligung des Samstags, die genauen Sexualvorschriften der Bibel oder
des Talmud, die Verrichtung der vorgeschriebenen Gebete zu bestimmten
Tageszeiten und in bestimmter Form, und die sich hiedurch schon rein äußerlich
von der weit größeren Menge der orthodoxen Juden unterscheidet."
Maßgebend für diese Gruppe sei daher die äußere
Form der Lebensführung sowie, "daß sie trotzdem als Juden
erkennbar sind."17
Die These, die im Zentrum von Bienenfelds Schrift steht, lautet: "Ich
behaupte, daß bei den religionslosen Juden bestimmte Grundzüge
der jüdischen Religion unbewußt fortwirken, welche ihre Lebensrichtung
und ihre Geistesart bestimmen, daß bei ihnen trotz aller Abkehr
von den Ritualien der jüdischen Religion deren hauptsächliche
Glaubenssätze fortwirken - gewöhnlich ohne Wissen ihres Trägers
und trotz der bei den religionslosen Juden endemischen Verachtung jüdischer
Traditionen, und daß es eben diese Geisteshaltung, diese unbewußte
Religion ist, die die religionslosen Juden zu einer eigenartigen Gruppe
innerhalb ihrer Umgebung macht."18
Als die Grundgedanken der jüdischen Religion, die auch unter religionslosen
Juden weiterwirken, beschrieb Bienenfeld: "die Idee der brüderlichen
Gleichberechtigung, der Gerechtigkeit, der Vorherrschaft des Wissens und
der Vernunft und endlich noch eine vierte und letzte: der Gedanke der
Diesseitigkeit." Als die drei herausragendsten Vertreter der religionslosen
Juden nannte er Marx, Freud und Einstein, ohne daß er diese Wahl
genauer ausführte. Weiters nannte er noch zahlreiche andere Namen
und erwähnte ausführlicher Josef Popper-Lynkeus und Walter Rathenau.19
Laut Josef Fraenkel war diese Publikation einer der Gründe, warum
Bienenfeld in näheren Kontakt mit Robert Stricker kam und ihm 1937
als Vorsitzender der österreichischen Sektion des 1936 gegründeten
World Jewish Congress (WJC) nachfolgte. Im Widerspruch dazu schrieb jedoch
Bienenfeld selbst im Vorwort zur englischen Ausgabe, daß er den
Vortrag bereits in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der österreichischen
Sektion des WJC gehalten hatte.20
In einem Gedenkbuch für Robert Stricker schrieb Bienenfeld 1950 über
den bedeutendsten Führer der österreichischen Zionisten, der
von den Nazis 1944 in Auschwitz ermordet wurde: "Stricker's murder
by the Nazi gang in a concentration camp signifies the voluntary exclusion
of the German people and their Austrian followers, from the community
of civilised nations."21
Fünf Jahre später führte er den Vorsitz zu einer von der
Jacob Ehrlich Society organisierten Gedächtnisfeier für Robert
Stricker.
Zur Zeit des "Anschlusses" befand sich Bienenfeld in Zürich,
wodurch er gerettet wurde. Er verlor jedoch die gesamte Einrichtung seiner
Wohnung und Kanzlei sowie seine umfangreiche Bibliothek. Im Wiener Stadt-
und Landesarchiv hat sich ein Akt erhalten, laut dem die genau aufgelistete
Wohnungseinrichtung "des reichsflüchtigen Juden Dr. Rudolf Bienenfeld"
um 575 und 3507 Reichsmark an die Brigadeführer Hans Löwe und
Dittler (der Vorname ist nicht gegeben) 1938 und 1939 verkauft wurden.22
1939 emigrierte Bienenfeld weiter nach London. Dort wurde er zum Präsidenten
der Jacob Ehrlich Society gewählt, der zionistischen Vertretungsorganisation
der (im Gegensatz zum Free Austria oder dem spätereren Free Austrian
Movement) bewußten Juden aus Östereich, die nach dem 1938 im
KZ Dachau ermordeten zionistischen Wiener Kultusvorsteher und Gemeinderat
Jakob Ehrlich benannt war. Durch sie schuf er laut dem ebenfalls nach
London emigrierten Franz Kobler "a centre and forum for the Jewish
refugees from Austria."23
Fritz L. Brassloff erinnerte daran, daß Bienenfeld im Rahmen der
Jacob Ehrlich Society "mit Nachdruck und Erfolg gegen Projekte einer
Massenrepatrierung" eintrat, da "die überwältigende
Mehrzahl der aus Mitteleuropa stammenden Juden" nicht zu einer Rückkehr
bereit war.24
1942 veröffentlichte Bienenfeld in London die Broschüre Die
Aufgaben der Jacob Ehrlich Society, eine schonungslose Abrechnung mit
den assimilierten, unjüdischen Juden, aus denen die österreichische
Emigration zu 25 Prozent bestand, in der er schrieb: "Alle die vielen
Gruppen und Grüppchen, die officiellen und die getarnten Communisten,
die sozialistischen Dissidenten, die Demokraten, die Monarchisten, ja
selbst die Christlich-Socialen - sie alle werden ausnahmslos von Juden
geführt, die ihr Judentum verschweigen und die Sicherung der Zukunft
Österreichs als ihre einzige Aufgabe betrachten, die Zukunft desselben
Österreich, das das Grab ihrer Brüder und Schwestern geworden
ist."25
Seine Ablehnung richtete sich nicht gegen die wichtige soziale Arbeit
der Flüchtlingsorganisationen, deren Bedeutung ihm bewußt war,
sondern nur gegen deren politische Ziele: "Solange die österreichischen
Vereine, besonders der stärkste unter ihnen, das Austrian Centre,
sich auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Fuersorge für die
Refugees beschränkten, war gegen ihre Tätigkeit nichts einzuwenden.
Anders wurde die Situation, als sie sich vor etwa einem Jahre zu einer
politischen Bewegung zusammenschlossen, zum Free Austrian Movement. Seine
Ziele wurden für das Judentum im Allgemeinen und besonders für
die Refugees eine Gefahr, die von vielen ihrer Mitglieder nicht erkannt
wird, da diese bei ihrem Eintritt in die Vereine nur gesellschaftliche
und wirtschaftliche Vorteile geniessen, aber nicht eine politische Bewegung
unterstützen wollen."26
Er formulierte im wesentlichen drei Einwände gegen das Free Austrian
Movement: Gegen dessen Forderung der sofortigen und vollkommenen politischen
Selbstbestimmung für Österreich nach dem Krieg, "dessen
ganze Jugend und gewiss mehr als 25% seiner Bevölkerung nazistisch
ist..." Gegen dessen zweiter Forderung der Bildung einer österreichischen
Legion, da diese nur dazu geeignet wäre, "den Nazis in Österreich
nach ihrer Niederlage ein Alibi zu sichern."27
Sein Hauptargument richtete sich jedoch gegen die seiner Ansicht nach
in vielerlei Hinsicht fehlende Legitimation des Free Austrian Movement:
"Aber die Haupteinwendung gegen das Free Austrian Movement ist die,
dass alle Vereinigungen, die ihm angehören, keinerlei Legitimation
haben weder für die Refugees noch für den unterdrückten
demokratischen Teil Österreichs zu sprechen. Für die Refugees,
die fast nur Juden sind, kann das Movement nicht sprechen, weil es keine
jüdische Bevölkerung ist und sein will. Für die unterdrückte
demokratische Bevölkerung Österreichs kann es kein Wortführer
sein, weil nicht eine einzige seiner Gruppen in Friedenszeiten auch nur
einen Abgeordneten in das österreichische Parlament entsenden konnte,
weil weder auf eine Liste der Demokraten noch der Communisten noch der
Monarchisten noch der socialistischen Dissidenten auch nur ein Abgeordneter
gewählt wurde. Die einzige Gruppe, die legitimiert ist, die unterdrückte
demokratische Bevölkerung Österreichs zu repräsentieren,
sind die officiellen Sozialdemokraten - und diese haben sich dem Movement
nicht angeschlossen."28
Was die Nachkriegszeit betraf, so hatte auch Bienenfeld, ähnlich,
wenn auch nicht inhaltlich vergleichbar wie die im Free Austrian Movement
organisierten österreichischen Kommunisten und Linke meist jüdischer
Herkunft, Illusionen in bezug auf die Größe der neuen jüdischen
Gemeinde, die er auf 30-40 000 Menschen schätzte.29 Was die zivilisatorische
Zukunft Österreichs betraf war er jedoch überaus pessimistisch:
Wien "wird eine Stätte des materiellen Elends" und von
einem Teil der Arbeiter abgesehen, der geistigen Nullität sein, ein
Ableger der österreichischen Provinz, des Ungeistes, der Hitler erzeugt
hat.30
Danach wurde Bienenfeld sehr persönlich, indem er mit berührenden
und keineswegs sentimentalen Worten seine in der Realität nunmehr
haltlos gewordene Liebe zu Wien in Analogie zur Liebe zu seiner 1938 in
Zürich verstorbenen Frau Margarethe Koritschoner beschrieb: "Man
hat mir vorgeworfen, dass ich mir selbst untreu geworden bin, in dem ich
mein Gefühl für Österreich verloren habe und andre zur
selben Untreue verleiten will, obwohl mir doch alle von Wien und der Wiener
Kultur so viel empfangen haben. Das ist nicht so, und ich muss hier unter
innerem Widerstreben persönlich werden. Ich kann nicht mehr sagen
als dass ich für mich meine tote Frau, eine Halbjüdin, die glücklichste
Mischung von Wienertum und Judentum bedeutet hat, von Wiener Charm und
jüdischer Ambition, dass sie mein ganzes Wesen geprägt hat und
für mich ein Sinnbild Wiens war und ist. Aber mein brennender Wunsch,
sie lebendig zu wissen, kann mich, ausser im Traume, nicht darüber
wegtäuschen, dass sie tot ist und dass ich sie nicht zum Leben erwecken
kann. Auch darin gleicht sie Wien. Wien, das Wien, das wir gekannt und
geliebt haben, das zusammen mit dem Judentum unser Wesen geprägt
hat, dieses Wien ist unwiederbringlich tot und unsre heissesten Wünsche
und unsre besten Bemühungen können es nicht wiederbeleben."31
Mit seiner anschließenden Stellungnahme zum Zionismus nahm er die
künftige Entwicklung des Judentums in der Welt vorweg, indem er bekannte,
dass er völlig unfähig sei, zu verstehen, "wieso gegenwärtig
ein continentaler Jude aus Deutschland oder Österreich Nicht-Zionist
sein kann" und dass er "den Gegensatz zwischen Zionismus und
Nicht-Zionismus für antiquiert" halte.32
Die Jacob Ehrlich Society, über deren Tätigkeit es keinerlei
Untersuchung gibt und über die wohl auch viele Quellen für immer
verloren sind, soll laut Bienenfeld zu einem Jewish Centre eingerichtet
werden, "wo jede jüdische Partei der jüdischen Öffentlichkeit
ihre Ziele und ihre Taktik begreiflich machen kann." Sie solle ein
kleiner Beitrag sein "zur Erhaltung der jüdischen Gemeinschaft,
der jüdischen Kultur und des jüdischen Volkes." Vor allem
aber wolle sie beitragen "zur Erhaltung des jüdischen Geistes",
weil dieser für die Welt notwendig sei.33
Bemerkenswert war, daß Bienenfeld innerhalb der Jacob Ehrlich Society
für die größtmögliche Toleranz aller Strömungen
und Richtungen innerhalb des Judentums plädierte, was ihren Stand
innerhalb der jüdischen Gemeinde sicher nicht erleichtert hat:
"Innerhalb unserer Vereinigung versuchen wir Frieden zwischen den
Orthodoxen und den Freidenkern zu halten und beide Teile Toleranz zu lehren.
Wir sind ein zionistischer, kein orthodoxer und kein religiöser Verein
und haben daher kein Recht, einen Zwang auf unsere Mitglieder zu üben,
damit sie Ritualien einhalten, die den Orthodoxen am Herzen liegen. Ich
selbst, obwohl kein religiöser Jude, halte die Orthodoxie nach wie
vor für einen der Pfeiler der jüdischen Gemeinschaft und glaubte,
dass kein liberaler und kein zionistischer bewusster Jude vergessen sollte,
dass sie das Judentum und den jüdischen Geist zu einer Zeit vor der
Auflösung bewahrt hat als es noch keine liberalen und noch keine
zionistischen Juden gab. Ich bemühe mich daher ohne Zwang Respect
vor den Gebräuchen der Orthodoxen anzuempfehlen, so fremdartig sie
manchem erscheinen mögen. Auf der andern Seite müssen sich auch
die Orthodoxen endlich damit abfinden, dass ein bedeutender Teil der Juden,
die sich frei zu ihrem Judentum bekennen, nicht orthodox sind und Toleranz
von ihren Genossen in Anspruch nehmen dürfen ebenso wie die ganze
jüdische Gemeinschaft Toleranz von den nichtjüdischen Gemeinschaften
als ein Gebot der Gerechtigkeit fordert."34
1943 veröffentlichte Bienenfeld in einer Zeitung in London einen
von den Hakoah News nachgedruckten und ins englische übersetzten
Artikel über "Double Loyalty", in dem er einerseits die
Doppelloyalität als natürliche menschliche und gesellschaftliche
Eigenschaft verteidigte, sie aber andererseits für die deutschen
und österreichischen Juden für zumindest die kommenden 20 Jahre
dezidiert ausschloß: "At present, and for the next twenty years,
(as long as the poison of National-Socialism has not completely been eliminated
from the body of the German people), nobody can be a German and a Jew
at one and the same time. He can be a Jew and simultaneously a loyal Briton,
American, Canadian, South African, Australian or Russian, because the
foundations of cultural life of these nations, notwithstanding the great
differences in detail, are identical with those of the Jewish community;
because all of them have made an acceptance of human-ness of all human
beings, - humanity, - the basis of their civilisation... Double Loyalty:
is natural in every family and in every community in spite of petty every-day
differences; it is impossible when the soul of one partner has been poisoned
for a long period by the wish to murder the other.35
Bienenfeld gehörte in London auch zu den Vortragenden des 1940 von
Abraham Joshua Heschel und Franz Kobler gegründeten Institute for
Jewish Learning, in dem er 1942/43 über "Race, Nation, Jewry"
und 1944 über "Topical Legal Problems of World Jewry" las.36
Vor allem aber arbeitete er in London ehrenamtlich als Senior Legal Advicer
bzw. Vorsitzender der Rechtsabteilung des WJC, British Section, sowie
als Vorstandsmitglied der United Restitution Office (URO). Er war ein
Mitglied der Board of Deputies of British Jews; 1948 wurde er auch Mitglied
der Exekutive des WJC.37
Die wichtigste Aufgabe der Legal Section war der damals beginnende Kampf
um Restitution und Entschädigung, wofür Bienenfeld und andere
Mitglieder der Legal Section bereits im Sommer 1944 ein erstes Memorandum
erstellten.38
Ein zweiter Problemkomplex, mit dem Bienenfeld sich auseinandersetzte,
betraf das erblose jüdische Vermögen, worüber er 1943 während
einer USA Reise mit Vertretern des Institute of Jewish Affairs und der
Jewish Agency in New York konferierte.39
Ebenfalls während des Krieges arbeitete Bienenfeld in London zusammen
mit Franz Kobler und Aaron Steinberg, dem Vorsitzender der (inzwischen
längst aufgelösten) Cultural Section des WJC, British Section
an den juridischen Grundlagen des späteren Nürnberger Prozesses
und der, wie er selbst beschrieb, Prozesse gegen jene Naziführer,
die die Gesetze der Menschlichkeit verletzt haben. Zusammen mit Franz
Kobler und Aron Steinberg arbeitete er auch ein Memorandum über die
Aspekte des Völkerrechts in Beziehung zu den NS-Verbrechen und zu
Fragen der Entschädigung aus.40 1947 erarbeitete Bienenfeld zusammen
mit Gerhart Riegner, dem langjährigen Büroleiter des WJC in
Genf, als Mitglied der Human Rights Commission der Vereinten Nationen
mehrere Memoranden und wurde damit einer der Mitbegründer der universalen
Deklaration der Menschenrechte.41
Maurice Perlzweig schrieb über Bienenfelds Engagement für den
WJC: "He became a devoted voluntary servant of the Congress, but
it was not a mere organisation that he served. The Congress was the embodiment
of an ideal to which, long before it came into existence, he had dedicated
his knowledge, his intelligence and his energy. He saw in it not only
a protector of the rights of Jews. He conceived of it as a Jewish instrumentality
through which the rights of all men could be furthered and served. He
understood, and has ceaselessly taught that Jewish emancipation is part
of the deliverance of all men from bondage, and without it it is illusory."42
1947 veröffentlichte Bienenfeld in London das Buch Rediscovery of
Justice. Im Klappentext hieß es über den Verfasser: "The
author is an international jurist of high repute and is well known for
his scientific research on the Law of Compensation and his work on this
subject has remained the authoritative publication on this department
of law in Switzerland."
Das Buch beschreibt die Entstehungsgeschichte des Völkerrechts und
der verschiedenen Staatsformen und plädierte im vierten Kapitel für
"a minimum bill of human rights". Das Ende des letzten Kapitels
über "the prospects of justice" beschließt Bienenfeld
mit einem eindrucksvollen Kommentar über die prophetischen Visionen
des universalen Friedens und der Gerechtigkeit im Buch Jesaia, Kapitel
65: "The indestructible impetus of Justice springs from ist function
as a weapon of security, peace and order, and therefore of survival. Great
poets and prophets have the power vividly to reveal sub-conscious desires.
There is a vision of Isaiah in the Old Testament in which he foretells
the emergence of the righteous, true and immaculate ruler, endowed with
the quality of authority and with the ability to teach tolerance and understanding.
This prophecy expresses humanity's eternal desire for Justice and peace.
It proclaims Justice as the regulating force not for society alone, but
for the whole of Nature, and it promises peace and order not only for
humanity, but for the whole living world. If allowance is made for this
fancifiull Absolutism, if society is substituted for Nature, human beings
for animals, and if the description of a lasting peace is taken as a symbol
of the yearning for security, this prophecy gives a true picture of the
task, and also of the limitations of Justice. For in this simile, peace
and order, not happiness, are revealed as the fruits of Justice and rulership."43
Im Gegensatz zu seiner in der Zeitung 1943 formulierten, oben zitierten
Skepsis über die Zukunft der österreichischen Juden nach der
Shoah erwies sich Bienenfeld in der Praxis, wie die Iskult-Presse-Nachrichten
1956 schrieben, stets als ein zuverlässiger Freund der kleinen und
ausländischer Hilfe außerordentlich bedürftigen jüdischen
Gemeinde.44
Als Mitglied des Exekutivausschusses für jüdische Forderungen
an Österreich des Claims Committee nahm er zusammen mit Fritz L.
Brassloff, Charles Kapralik, Nehemiah Robinson und Wilhelm Krell, dem
Amtsdirektor der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, aktiv an den zähen
Verhandlungen mit der österreichischen Regierung um eine Entschädigung
der österreichischen Juden teil.45
Im März 1950 besuchte er Wien; in der Wiener juristischen Gesellschaft
hielt er einen Vortrag über das Problem der Gerechtigjkeit, der auch
veröffentlicht wurde.46
1952 besuchte Bienenfeld auf Einladung der Israelitischen Kultusgemeinde
erneut Wien, wo er auf einer Kundgebung zur Erinnerung an das Novemberpogrom
im Wiener Messepalast neben Zachariah Shuster einer der beiden Hauptredner
war. Er betonte, daß die Juden Österreichs und des Auslands
"keine Sonder-rechte, sondern einfach Menschenrechte verlangen. Leider
habe man in Österreich den Eindruck, daß die Österreicher
von sich selbst glauben, daß sie die Opfer des Nazismus seien. Dadurch
haben sie jedes Gefühl für die wirklichen Opfer, nämlich
die Juden, verloren... Die moralische Haltung Österreichs darf nicht
mit dem Weltgewissen in Widerspruch stehen."47
Im Zusammenhang mit seinem Engagement für die Interessen des österreichischen
Judentums ließ Bienenfeld 1956 auf eigene Kosten die Broschüre
Der Österreichische Staatsvertrag und die Ansprüche der Verfolgten
drucken. In ihr wies er Österreichs Verpflichtung "zur Rückgabe
von Vermögen und zur Wiederherstellung von Rechten und Interessen"
seiner Bürger, die durch NS-Deutschland enteignet und entrechtet
wurden, genau nach.48
Bienenfeld starb 1961 in London nach langer Krankheit. Bei einer Gedenkfeier
in London, über die in der Wiener Gemeinde ein Bericht veröffentlicht
wurde, sprachen Aaron Steinberg, Sir Barnett Janner von der Board of Deputies
of British Jews, Dr. Hans Reichmann von der Association of Jewish Refugees,
Josef Fraenkel von der Jacob Ehrlich Society und A. L. Eastermann vom
WJC. Von den beiden ebenfalls aus Wien stammenden Juristen Charles Kapralik
und Fritz L. Brassloff wurden Botschaften verlesen.49
Anmerkungen
1 Die Gemeinde, 30.6.1961.
2 AJR Information, September 1956.
3 Herbert A. Strauss, Werner Röder, Handbuch der deutschsprachigen
Emigration, New York, München 1980-1983, Band 1, S.63. Josef Fraenkel
in Neue Welt, Juni 1961.
4 Die Stimme, Nr. 100, November/Dezember 1956; Neue Welt, Juni 1961; Herbert
A. Strauss, wie Anm. 3
5 Neue Welt, Juni 1961.
6 Anton van Miller 1936, S.177.
7 F. R. Bienenfeld 1947, S.9.
8 Vgl. Johannes Reichmayr, Spurensuche in der Geschichte der Psychoanalyse,
Frankfurt am Main 1994, S. 26; Information von Ernst Federn, Wien 1999.
9 Martin Freud in Josef Fraenkel (Hg), The Jews of Austria, London 1967,
S.205.
10 Ernst Federn: Die Emigration von Anna und Sigmund Freud. Eine Fallstudie.
In: Friedrich Stadler (Hg). Vertriebene Vernunft II. Wien 1988, S.247.
11 AJR Information, September 1956, Neue Welt, Juni 1961. IPN abgedruckt
in: Das Jüdische Echo, Vol.V, Nr.1, 1956.
12 Anton van Miller 1936, S.8.
13 Ebd., S.137, 140, 142/43.
14 Ebd., S.177/78.
15 Die Gemeinde, 30.6.1961.
16 F. R. Bienenfeld 1929, S.7.
17 Ebd., S.9.
18 Ebd., S.13.
19 Ebd., S.10, 22, 30/31.
20 Neue Welt, Juni 1961.
21 F. R. Bienenfeld in Josef Fraenkel (Hg), Robert Stricker, London 1950,
S.24.
22 F. L. Brassloff in: Die Gemeinde, 30.6.1961. Wiener Stadt- und Landesarchiv,
MA 119,
A/11, Schachtel 1/4 und 3/161.
23 Franz Kobler in AJR Information, September 1956.
24 F. L. Brassloff in: Die Gemeinde, 30.6.1961.
25 F. R. Bienenfeld 1942, S.2.
26 Ebd., S.3.
27 Ebd., S.4/5.
28 Ebd., S.5.
29 Ebd., S.4.
30 Ebd., S.9.
31 Ebd., S.8/9.
32 Ebd., S.9.
33 Ebd., S.19/20.
34 Ebd., S.10/11.
35 Hakoah News, Nr.85, April 1943.
36 Edward K. Kaplan, Samuel H. Dresner, Abraham Joshua Heschel, New Haven.
London 1998, S.297-300. Evelyn Adunka, Franz Kobler (1882-1965): Rechtsanwalt
und Historiker. Menora, Band 5, München 1994, S.107.
Programme des Institute for Jewish Learning
aus dem Nachlaß von Franz Kobler, Leo Baeck Institut, New York und
von Dr. A. Shisha
an d. Verf., London 1999.
37 Neue Welt, Juni 1961; Nachruf der URO über
F. R. Bienenfeld, 12.7.1961, Ordner 36, XXX, D/a, Archiv der IKG.
38 Unity in Dispersion. A History of the Jewish Congress. New York 1948,
S.151
39 Ebd., S.152.
40 AJR Information, Juli 1965; F. R. Bienenfeld 1947, S.10.
41 Nachruf der URO, wie Anm. 38.
42 Maurice Perlzweig an Dr.Stephen Roth, 26.9.1956, 2 S., C2/559, Central
Zionist Archives, Jerusalem.
43 F. R. Bienenfeld 1947, S.239/40.
44 IPN, 26.9.1956.
45 Gustav Jellinek in Josef Fraenkel (Hg),
The Jews of Austria, London 1967, S.397.
46 Juristische Blätter, Heft 10, 13.5.1950.
47 Neue Welt, November 1952.
48 F. R. Bienenfeld an Nehemiah Robinson,
24. 6. 1957, Ordner 2, XXX, A/a,
Archiv der IKG.
49 Die Gemeinde, 21.7.1961.
Literatur
F. R. Bienenfeld: Die Religion der religionslosen Juden. Wien 1939.
Anton van Miller (=F. R. Bienenfeld): Deutsche und Juden. Mährisch
Ostrau 1936.
F. R. Bienenfeld: Die Aufgabe der Jakob Ehrlich Society. London 1942.
F. R. Bienenfeld: Rediscovery of Justice. London 1947.
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