DIE JÜDISCHE GEMEINDE IN NEUNKIRCHEN
Rabbiner, Revolutionäre, Unternehmer, Bürger und arme Leute
Gerhard MILCHRAM
Neunkirchen war eine von 15 kleinen Landgemeinden, die sich im Laufe
des 19. Jahrhunderts in Niederösterreich etablieren konnten. 1857
lebte laut damaliger Volkszählung noch kein einziger Jude in Neunkirchen,
1869 bereits 80 und um die Jahrhundertwende etwa 280, 1939 wiederum kein
einziger. Vertrieben von der Herrschaft der Nationalsozialisten. Soweit
bisher erfaßt werden konnte, wurden über 50 von den Neunkirchner
Juden in Konzentrationslager deportiert und in Vernichtungslagern ermordet.
Hinter diesen nackten Zahlen verbergen sich einzelne Schicksale und eine
Vielfalt an individuellen Lebensentwürfen, die für eine solch
kleine Gemeinde durchaus erstaunlich sind. Im kleinen Rahmen werden hier
die großen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Österreichs
gespiegelt.
Rabbiner
Eigentlich wollte die erst 1896 offiziell gegründete jüdische
Gemeinde überhaupt keinen Rabbiner. Zu teuer, zu wenig Arbeit, geheiratet
wurde meist sowieso in den burgenländischen Gemeinden, wohin der
Großteil der Neunkirchner verwandtschaftliche Beziehungen hatte.
Vom Israelitengesetz war man allerdings verpflichtet, einen Rabbiner
zu bestellen. Schließlich einigte man sich darauf, daß der
orthodoxe Badener Rabbiner Wilhelm Reich Neunkirchen mitbetreuen sollte.
Der Wiener Neustädter Rabbiner war den Neunkirchnern zu aufklärerisch.
Erst nach dem Tod von Reich, und nachdem auch in Wiener Neustadt ein orthodoxer
Rabbiner, Hillel Weiß, die Amtsgeschäfte übernommen hatte,
wurde die geographisch vernünftigere Variante der Betreuung von Wiener
Neustadt aus gewählt. Die tatsächlichen Amtsgeschäfte wurden
in Neunkirchen allerdings von Shimon Zwi Goldstein ausgeübt, trotz
mehrmaliger Rügen des Ministeriums, das nicht erlaubte, daß
sich Rabbiner dauerhaft vertreten ließen. In der Erinnerung der
Neunkirchner blieb Goldstein der Neunkirchner Rabbiner. "Lehrer und
Rabbi im Garten der Gerechten, der den Kampf der Tora
gekämpft hat" steht auf seinem Grabstein.
Revolutionäre
Einen Kampf ganz anderer Art kämpfte der Rechtsanwalt Emil Berstl.
Aus Iglau in Mähren stammend, hatte er sein Jus-Studium in Wien absolviert
und trat danach in eine Neunkirchner Rechtsanwaltskanzlei ein. Schon seit
seiner Jugend hatte er sich für die soziale Frage interessiert. Ab
1895 entfaltete er in Neunkirchen und Wiener Neustadt eine rege politische
Tätigkeit, gründete einen radikalen Flügel der sozialdemokratischen
Partei und schuf sich mit der "Neunkirchner Volkszeitung" ein
publizistisches Organ. "Das natürliche Kind der starken proletarischen
Bewegung in den südöstlichen Bezirken Niederösterreichs,
ein Schwert in der Hand des Proletariats, das scharf sein muß und
schlagen" so Berstl in der ersten Nummer der Zeitung. Durch seine
stürmische Art kam er bald in Konflikt mit der Wiener Parteileitung
um Viktor Adler. Den endgültigen Bruch brachte ein von ihm initiierter
Generalstreik in Neunkirchen, der 1896 über eineinhalb Monate andauerte
und auch wegen der mangelnden Unterstützung der Wiener Führung
zusammenbrach. Aufgrund seiner politischen Tätigkeit und Mitgliedschaft
bei der Sozialdemokratie wurde er nach dem mißglückten Streik
seines Offiziersranges für verlustig erklärt. Worauf er in der
"Neunkirchner Volkszeitung" inserierte: "Gut erhaltene
Offiziersuniform und kaum gebrauchter Offizierssäbel billig abzugeben.
Anfragung an die Leitung des Blattes." Dieses Inserat trug ihm drei
Monate Gefängnis ein. Nach dem gescheiterten Streik mußte sich
Berstl aus der Parteileitung zurückziehen und widmete sich bis zu
seinem Tod nur mehr seiner Rechtsanwalts-kanzlei, die er in Wiener Neustadt
gegründet hatte.
Unternehmer
Einer der bestreikten Betriebe gehörte auch einer jüdischen
Familie. Die Pams waren 1890 aus Landskron in Mähren zugewandert
und verlegten ihre unternehmerische Tätigkeit nach Neunkirchen. Samuel
und Heinrich Pam boten in ihrer Firma "Pams Söhne, Mechanische
Papierhülsen und Spulenfabrik" vor dem Ersten Weltkrieg mehr
als zweihundert Neunkirchnern Arbeit. Beide waren auch als Funktionäre
für die Kultusgemeinde tätig und nahmen regen Anteil an allen
religiösen Belangen. Nach dem Tod der beiden übernahm ein Sohn,
Max Pam die Firmen-leitung, die er bis 1938 innehatte. Der Betrieb, der
jahrzehntelang zur wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt beigetragen
hatte, wurde arisiert, Max Pam in Wien verhaftet und im Dezember 1938
als 41jähriger in Dachau ermordet. Der Rest der Familie wurde ihres
gesamten Vermögens beraubt und konnte sich mit Mühe ins Ausland
retten.
Bürger
Der Großteil der jüdischen Neunkirchner war allerdings der
kleinbürgerlichen Schicht zuzuordnen. Händler und Geschäftsleute,
die sich im
19. Jahrhundert aus kleinen Anfängen mühsam eine Existenz aufgebaut
hatten und versuchten in der Neunkirchner Gesellschaft Fuß zu fassen.
Die bürgerlichen Tugenden: Fleiß, Sparsamkeit, soziales Engagement
und Vaterlandsliebe wurden großgeschrieben. In der Zwischenkriegszeit
warfen die Geschäfte kaum noch Gewinn ab. In einem Erhebungsbericht
der Bezirkshauptmannschaft wird der Geschäftsgang jüdischer
Geschäfte als mittelmäßig bezeichnet. Man konnte seine
Familie ernähren, großen finanziellen Spielraum besaß
man aber meist nicht. Für diese Schichten stehen die Gerstls, Jauls,
Reinigers und Maiers, die meist einen Gemischtwarenhandel oder eine Schneiderei
mit einen angeschlossenen Kleiderhandel betrieben. Am religiösen
Leben nahmen sie meistens regen Anteil, stammten sie doch zumeist aus
den burgenländischen Gemeinden, die für ihre Glaubenstreue bekannt
waren. Ein Stück dieser Tradition wurde auch nach Neunkirchen verpflanzt.
Meist litt man auch noch am Antisemitismus, der sich auch in Neunkirchen
mit der "Neunkirchner Zeitung" in der letzten Hälfte des
19. Jahrhunderts ein publizistisches Organ geschaffen hatte. Unter der
Schriftleitung von
Dr. Anton Löbel wurden die üblichen antisemitischen Stereotype
der Zeit verbreitet, und er schreckte auch vor persönlichen Angriffen
auf jüdische Neunkirchner nicht zurück. Trotz solcher Anfeindungen
wurde Neunkirchen als Heimat empfunden, ein Neunkirchner Lehrer Heinrich
Moses gab diesen Gefühlen in seinen Aufsätzen und Büchern
über die Geschichte Neunkirchens Ausdruck.
Arme Leute
Neben dieser breiten Mittelschicht existierten aber auch einige am Rande
des Existenzminimums und konnten nur mit großer Mühe den Alltag
überleben. Einer dieser Armen war David Schaja Fisch, er wurde 1876
in Trystak in Galizien geboren und kam wahrscheinlich im Verlaufe des
Ersten Weltkrieges nach Neunkirchen. Seine Bemühungen um wirtschaftlichen
Erfolg waren nicht von Erfolg gekrönt. Er mußte jährlich
bei der Handelskammer um die Verlängerung seiner Hausierbewilligung
ansuchen. Sein monatliches Einkommen betrug knapp 100 Schilling, davon
mußte er 20 Schilling für Wohnungsmiete aufwenden, und er hatte
noch zwei von seinen sechs Kindern zu ernähren.
Die Aufarbeitung der Geschichte der Neunkirchner Juden wurde nun erstmals
in Angriff genommen. Zahlreiche Dokumente und andere Quellen ausgewertet,
Interviews mit ehemaligen Neunkirchnern geführt, Fotos gesammelt
und in mühevoller Kleinarbeit ein Bild von der Jüdischen Gemeinde
Neunkirchens zusammengebaut. Wenige Spuren zeugen heute von der Existenz
einer jüdischen Gemeinde in Neunkirchen. Die Grundmauern der Synagoge,
daran eine bescheidene Gedenktafel der Kultusgemeinde Wien, dann noch
der Friedhof, der unauffällig, fast versteckt, in der Nähe des
Bahnhofes liegt. Kaum noch ein Neunkirchner weiß über die Existenz
einer jüdischen Gemeinde. Mit dieser Arbeit soll ein verdrängter
Teil der Lokalgeschichte wieder ans Licht gebracht werden. Das Buch, beschreibt
ein Stück Heimatgeschichte. Heimatgeschichte in zweifacher Form,
nämlich die Geschichte einer verlorengegangenen, zerstörten
und betrauerten Heimat für die Juden Neunkirchens, und Heimatgeschichte
für jene, denen Neunkirchen heute noch Heimat ist, Geschichte der
sie sich stellen müssen, um zu einer ungebrochenen
eigenen Identität finden zu können.
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Toramantel gespendet
von der "Chewrat
Naschim"
(Frauenverein) von
Neunkirchen für die
Synagoge. |
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Gerhard Milchram
Heilige Gemeinde Neunkirchen.
Eine jüdische Heimatgeschichte.
Mandelbaum Verlag.
Wien 2000
198 Seiten, ATS 218.-
"In der Geschichte der kleinen jüdischen Gemeinde Neunkirchen
in Niederösterreich spiegelt sich die allgemeine Behandlung
der Juden durch die kaiserliche Politik ebenso wider wie der Antisemitismus
des 19. und 20. Jahrhunderts. Die politischen Entwicklungen Österreichs
zeigten unmittelbare Auswirkungen auf das Leben der Neunkirchner
Juden. Der Holocaust ist Endpunkt einer Entwicklung, die von Anfang
an im Spannungsfeld zwischen Akzeptanz und Ablehnung stand."
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Dr. Hillel Weiß
Foto: Stadtarchiv Wr. Neustadt |
Der Wr. Neustädter und Neunkirchner
Rabbiner Dr. Hillel Weiß als k. u. k. Feldrabbiner
Foto: Stadtarchiv Wr. Neustadt |
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