Am Institut für Geschichte der Juden in Österreich sind
die Vorarbeiten für eine Geschichte der Juden in Österreich
im Gange. Im augenblicklichen Stadium werden grundsätzliche Überlegungen
zur Gestaltung des Gesamtwerkes angestellt, deren Ergebnisse in verschiedenen
Zeitschriften präsentiert werden, aber auch im Internet auf der Homepage
des Instituts (http://members.nextra.at/injoest) besucht werden können.
Die Homepage ist interaktiv und es können Diskussionsbeiträge
geleistet werden, wozu ich alle Leser einladen möchte. Über
die spezifischen Fragen, die mit einer Geschichte der Juden in Österreich
verbunden sind, habe ich bereits geschrieben der Artikel ist auf der genannten
Homepage abrufbar. Eine wesentliche Problematik betrifft die Darstellungsform
einer Geschichte der Juden. Die Entscheidung darüber kann nur bei
einer kritischen Analyse bisheriger Methoden fallen. Das wichtigste Kriterium
der Kritik besteht wohl in der Beurteilung der Auswahl möglichst
tiefgehender Fragestellungen; es ist demnach festzustellen, ob ältere
Darstellungen überhaupt Antworten auf Fragen geben, die uns heute
unter den Nägeln brennen bzw. auf Fragen, die neue Einsichten möglich
machen.
Salo W. Baron hat zwei universale Ansätze in monumentalen
Werken verwirklicht: Einmal ließ er sich von der jüdischen
Gemeinde als zentrales Thema einer nach Zeit und Ort universal gestalteten
Geschichte der Juden leiten, das andere Mal von der Sozial- und Religionsgeschichte.
Beide Ansätze stehen einander sehr nahe, indem sie Rechts- und Sozialgeschichte
kompakt aufeinander beziehen. Allerdings hat Baron aus dem Gemeindethema,
wie die neueren Entwicklungen in der Forschung zeigen, nicht alle Konsequenzen
ziehen können. Der tiefe differenzierende Blick in die jüdische
Gemeinde, wie ihn etwa Michael Toch konsequent leistet, blieb ihm trotz
mancher gedanklicher Ansätzte ein wenig fremd.
Ebenso sind die Möglichkeiten der integrativen Sicht
des nichtjüdisch-jüdischen Verhältnisses zu nutzen, wie
sie sich in der Betonung des stadtgeschichtlichen, aber auch des Landjudenaspekts
ausdrücken. Herbert Fischer (Arye Maimon) und ihm bewußt folgend
die Trierer Schule unter dem bestimmenden Einfluß von Alfred Haverkamp
leisteten und leisten auf diesem Gebiet entscheidende Arbeit. Vom Religiösen
und Kulturellen her betrachtet erfährt die Beziehungsgeschichte seit
Jahren Bereicherung durch die Arbeiten von Israel Yuval und Friedrich
Lotter.
In der Betonung der wechselseitigen Beeinflussung und
vielleicht noch wichtiger der Beobachtung abgrezender und Eigenbewußtsein
bildender Phänomene (diese Seite der Medaille kommt bei Haverkamp
etwas zu kurz), wie dies in großer Differenziertheit Jakob Katz
beschrieben hat, liegen weitere Chancen zu neuen Darstellungsformen zu
gelangen.
Was förderte die vitalen Kräfte unter den Juden
in der europäischen Diaspora, im konkreten Fall in Österreich?
Waren es vielleicht gerade die eng gezogenen Grenzen für die Gestaltung
der Lebensgrundlagen? Man muß sich vor originellen Antworten hüten.
Eng gezogene Grenzen können Vitalität und Kreativität fördern,
sind sie aber zu eng, können sie diese notwendigen Lebenstugenden
auch abwürgen. Beides ist im Leben der Juden in Österreich vorgekommen.
Man sollte einmal das Denkexperiment wagen, was für
Folgen es hat, wenn man die Frage nach der Bedeutung des Strebens nach
persönlichem Glück bzw. den Grenzen dieses Strebens stellt.
Die Suche nach diesen gedanklichen Grundlagen wird wohl die meisten Lebensbereiche
berühren und Spannungen sichtbar machen. Nehmen wir nur jene Bereiche,
die Gerhard Drekonja kürzlich unter dem Dachbegriff Kulturökonomie
zusammengefaßt hat. Ein brillanter Denkansatz, der uns jenseits
der Faktenhuberei in Einzelgebieten diese Einzelheiten aufeinander beziehen
läßt und uns damit eine tiefere Sicht jüdischen Lebens
für sich genommen und den notwendigerweise zu betrachtenden Beziehungen
zu Nichtjuden ermöglicht.
Zur Kulturökonomie gehören z.B. Ausbildung
und Erziehung im Spannungsfeld praktischer und grundlegender Bildungsinhalte.
Betrachtet man diese Frage in diesem Zusammenhang fällt auf die Geschichte
der Gelehrsamkeit und ihrer Krise im späten 18. Jahrhundert neues
Licht. Es geht dabei nicht mehr um einen moralisierenden Bildungskatalog,
sondern um eine dramatische Entwicklung der Akkulturation. Der Aufbruch
der Juden in die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist
Ergebnis der Akzeptanz säkularer Bildungswerte; zugleich aber ist
zu betrachten, daß die Familie in ihren vielfältigen Zusammenhängen
mit allen Lebensbereichen in der bürgerlichen Gesellschaft eine ganz
wesentliche strukturbildende Aufgabe hatte. Genau das brachten aber die
Juden auf ihrem Weg in die bürgerliche Gesellschaft aus ihren eigenen
Traditionen mit und beeinflußten damit die gesellschaftlichen Abläufe
und Entwicklungen.
Drekonja hält ein Minimum von Gleichheit für
eine bezeichnende Voraussetzung europäischen Erfolges im Konzert
der Weltgeschichte. Juden waren zweifellos an diesem Erfiolg beteiligt.
Der Aufbau der jüdischen Gesellschaft war trotz des adeligen, oligarchischen
Strukturprinzips der führenden Familien von hoher Rücksichtnahme
auf Gleichheit und die damit verbundenen Grenzziehungen für die Mächtigen
geprägt. Voraussetzung dafür war der Spielraum für Kritik
- ebenfalls eines des kulturökonomischen Elemente, die Drekonja anspricht.
Die religiös-rechtliche Diskussionsbereitschaft zwischen dem Terror
des bloßen Wortes und den Interpretationsspielräumen verwirklichte
sich in den jüdischen Gemeinden und unterscheidet sie von den dogmatischen,
diskussionsabwürgenden Methoden der katholischen Kirche, die nur
einigen handverlesenen Personen das Diskussionsrecht zugesteht. Konkret
führt das zu der wirtschaftsgeschichtlich hochinteressanten Frage,
auf welche Weise kann und darf ich Gewinne erwirtschaften und was habe
ich mit diesen Gewinnen zu tun? Die Frage nach dem Erwirtschaften der
Gewinne hat viel mit den liberalen Freizonen, die im Berührungsbereich
von Christen und Juden bestehen, zu tun. Vielleicht ist der gesamte europäische
Liberalismus als Lebensform ein Ergebnis jüdisch-christlicher Koexistenz.
Eine solche Wirtschaftsgeschichte wird ihre Darstellungsform weit ab von
Zahlenketten und Produktionsstatistiken finden, sondern sie in alle anderen
Lebensbereiche in erhellender Form integrieren können.
Drekonja erwähnt dann noch die Bekämpfung von
Korruption. Allein die Diskussion über die Zuständigkeit des
einen oder anderen jüdischen Gerichts zeigt, daß die Rechtsverhältnisse
in den jüdischen Gemeinden geeignet waren, den Einfluß persönlicher
Verbindungen und den damit zusammenhängenden Vorteilen zu minimieren.
War der Bruder des Klägers oder Beklagten Vorsitzender oder Beisitzer
des Gerichts, konnte die andere Prozeßpartei ein anderes Gericht
verlangen.
Im Lichte der genannten Beispiele mag es gar nicht abstrakt
erscheinen, wenn ich diesen Zugang für geeignet halte, vieles zu
erklären, was routinierte, systematische Darstellungen nicht einmal
als Problem erkennen können. Die kulturökonomische Analyse mit
ihrer Frage nach den persönlichen und kollektiven Triebkräften
ist an sich integrativ und dem "Fachidiotismus" entgegengerichtet.
Im kulturökonomischen Vergleich christlicher und jüdischer Betreffe
erscheint auch die vielzitierte Beziehungsgeschichte in einem neuen Licht,
weil wir mit dieser Methode endlich über ein tragfähiges tertium
comparationis verfügen.
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