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Über die virtuelle Rekonstruktion von Wiener Synagogen
Bob MARTENS
Präambel
Als eine der geschichtsträchtigen Metropolen der Welt begegnet Wien
mit jedem Schritt nach vorne seiner stets präsenten Vergangenheit.
Auf Schritt und Tritt folgt die Konfrontation mit den Spuren des Gewesenen.
Sie manifestiert sich inmitten der Stadtlandschaft ebenso wie im Gewirr
der Untergrunderschließung. Diese Vergangenheit zu kultivieren ist
längst Programm geworden. Vergangenheit und deren "Lebendigwerdung"
dient schließlich auch als Anziehungspunkt für die zahlreichen
Wienbesucher. Doch eine Vielzahl an Konfrontationsstellen bleibt unbeachtet,
verbleibt als "blinder Fleck" in der mit Historie angereicherten
Stadtlandschaft. Sechzig Jahre nach der "Reichskristallnacht"
(November 1938) wurden in Wien mehrere Gedenkfeiern veranstaltet. "Verlorene
Nachbarschaft" hieß beispielsweise jene Manifestation in der
Neudeggergasse. Hier entstand 1903 nach Plänen von Max Fleischer
eine Synagoge, welche sich einstmals als erhabener neugotischer Sichtziegelbau
präsentierte. Mit einer Höhe, welche in ungefähr der doppelten
Umgebungsbauhöhe entspricht, ragten die Türme gegen den Himmel
und verliehen der beschaulich wirkenden Gasse eine dominante Vertikale.
Mit finanzieller Unterstützung der Hochschuljubiläumsstiftung
der Stadt Wien konnte im Jahre 1998 eine virtuelle Begegnung realisiert
werden: es erfolgte eine vollständig dreidimensionale computergestützte
Rekonstruktion der Synagoge in der Neudeggergasse. Als Ergebnis wurde
eine CD-Rom produziert, welche unter anderem mittels einer QuicktimeVR-Szenerie
den Betrachter von der gegenwärtigen Situation in die Vergangenheit
versetzt.
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Im Rahmen von Nachfolgeprojekten sollen zehn
weitere Synagogen in ähnlicher Weise rekonstruiert werden, wobei es
sich vor allem um die wissenschaftliche Aufarbeitung bzw. dreidimensionale
Dokumentation des baulichen Bestandes handelt. |
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Abb. 1a-b Rekonstruktion der Neudeggergasse
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Ziele der Rekonstruktion
Die computergestützte Darstellung trachtet unübersehbar
danach, sich nach "vorne" zu orientieren. Ihr Blick richtet
sich vordergründig in Richtung Zukunft. Unter Verwendung der Schlagworte
Effizienz und Produktivität wird fallweise der virtuelle "Himmel
auf Erden" versprochen. Parallel dazu bieten sich diese dem Fortkommen
verschriebenen Techniken jedoch in ebenso großem Maße auch
für den "lernenden Blick" auf die Vergangenheit an. Konstruktion
im Dienste der Rekonstruktion, bzw. Rekonstruktion unter dem Aspekt des
Konstruierens könnte eine entsprechende Parole lauten. In Anbetracht
der computergestützten Rekonstruktion wäre zu erörtern,
inwieweit es sich bei einer derartigen Visualisierung bereits zerstörter
Bausubstanz nicht vielmehr um eine Konstruktionsmethode auf Basis abstrakter
- sprich fragmentierter - Daten handelt. Diese Datensätze enthalten
jedoch zwangsläufig Unschärfen; die notwendig werdenden Ergänzungen,
bzw. die dadurch bedingte "Verfälschung" des geschichtlichen
Bildes muß jedenfalls kritisch betrachtet werden. Rekonstruktion
einer Substanz bedeutet aber auch die Chronologie eines Zerfalls oder
einer Veränderung in gewisser Weise hintanzuhalten, Verlorenes gleichsam
wiederzugewinnen.
Rekonstruktion: Modellierung und Visualisierung
Im Zuge der Rekonstruktion einer räumlichen Objektstruktur
lassen sich grob zwei Vorgänge unterscheiden: Modellierung und anschließende
Visualisierung. Am Markt befindliche Softwarepakete [1] trachten für
gewöhnlich danach, beide Bereiche abzudecken, wenn auch mit unterschiedlichen
Stärken und Schwächen. Im Zuge der Modellierung sind zunächst
Überlegungen hinsichtlich der verfügbaren geometrischen Werkzeuge
und der einzusetzenden Software anzustellen, eine Vorgangsweise, die bis
zu einem gewissen Grad dem Bauen mit (digitalem) "Lego" nahe
kommt. Manche Programme versuchen bewußt, die Arbeitsweise des Architekturschaffenden
nachzuvollziehen und benennen die digitalen Bauelemente sogar als "Decke",
"Wand", "Dach", etc. Bereits generierte Bauteile können
beliebig wiederholt und gegebenenfalls in einer Bauteilbibliothek archiviert
werden. Parametrisieren lautet hier die Devise. Fragen zur Genauigkeit
bei der Eingabe _ oder anders gesagt: zum Detailreichtum _ sind zu klären.
Teilbereiche eines Projektes können überdies zu einem späteren
Zeitpunkt assembliert werden. Die Visualisierung, also die veranschaulichende
Darstellung, erfolgt auf Grundlage der geometrischen Informationsmodellierung.
Das Drahtgittermodell - alle körperbegrenzenden Kanten werden dargestellt
- wird am schnellsten aufgebaut. Manche Nutzer bevorzugen diese Darstellungsart
und vertrauen darauf, daß der Betrachter sich im Liniendschungel
zurechtfindet. Beim sogenannten "Verdeckten-Linien-Rechnen"
wird die Zahl der dargestellten Linien reduziert, wobei zuweilen Fehler
auftreten. Schattierungsverfahren stellen die nächste Stufe der Wiedergabe
dar, wobei nach Farbe und Material differenziert werden kann. Mittels
"texture mapping" werden gescannte oder in einem Malprogramm
erstellte Texturen auf eine Oberfläche projiziert. Weiters können
ver-schiedene Lichtquellen im Raum positioniert werden. Die zu bestimmenden
Parameter sind dabei für gewöhnlich: Lichtrichtung, Ausstrahlungswinkel
und Intensität. Anhand des (vollständigen) 3D-Modells können
z.B. beliebige Schnitte durch dieses Modell generiert werden, um diese
anschließend als 2D-Zeichnungsdokument weiterzuverarbeiten.
Animationen auf QuickTime® VR-Basis
QuickTime®VR (kurz: QTVR) ist eine räumliche Simulationstechnik,
welche zunächst von der Firma Apple [2] entwickelt und inzwischen
als Animationsstandard von anderen Hardwareplattformen übernommen
wurde. Grundidee dieser Technik ist es, virtuelle Welten durch eine rein
softwaremäßige Erweiterung auf Basis konventioneller bzw. breit
vorhandener PC-Technologie zu verbreiten. Die Erzeugung virtueller Räume
basiert auf dem Prinzip verzweigbarer Bildsequenzen, d.h. es werden verschiedene
Bildsegmente - welche räumlichen Navigationspfaden entsprechen -
an vordefinierten Knotenpunkten zusammengeführt. Der Benutzer kann
innerhalb bestehender Knotenpunkte den vorherbestimmten Verlauf der Szene
auswählen. Dieser Ansatz verwendet fotografische oder computergenerierte
Bilder zur Erzeugung der räumlichen Szenerie. In diesem Zusammenhang
ist die Erstellung von fotorealistischen Szenerien zu erwähnen, welche
mittels eines herkömmlichen 3D-Modellierungs- bzw. Visualisierungsverfahrens
in keinerlei Weise mit einem vergleichbaren Aufwand zu bewerkstelligen
wäre. Auch wenn computergenerierte Szenen im Rahmen der QTVR-Technologie
eingesetzt werden, kann eine weitaus höhere Darstellungsqualität
und Komplexität der virtuellen Szene erzeugt werden, weil die Aufnahme
("Modellierung") von der Wiedergabe ("Visualisierung")
getrennt wird. Die Einsatzmöglichkeiten von QTVR innerhalb der Architektur
sind somit vielfältig. Neue Objekte können ebenfalls über
Bildmontagetechniken in bestehende Realszenen integriert werden. Die interaktive
Abspielmöglichkeit von QTVR-Szenen erlaubt ein subjektives Erleben
von Raumsituationen gemäß eigener Nutzungspräferenzen.
Arbeitsplan: Zehn Wiener Synagogen
Die bereits rekonstruierte Synagoge in der Neudeggergasse
[3] ist keinesfalls als Einzelfall zu betrachten. Neben einer Großzahl
an jüdischen Gebetshäusern lassen sich in Wien mehr als zehn
Tempelstandorte ausfindig machen, wobei jedoch eine besondere Konzentration
im zweiten Gemeindebezirk anzutreffen ist. Ähnlich dem Standort Neudeggergasse,
findet man im Regelfall heutzutage Gemeindebauten an jenen Stellen vor.
Die Verfügbarkeit von Einreichplänen stellt eine wichtige Grundlage
für die Rekonstruktionsarbeit dar, welche sich in weiterer Folge
nach Bestandsfotografien bzw. Baubeschreibungen richtet. Hinzu kommt die
besondere Problematik der Farbgestaltung, zumal vor 1938 nahezu ausschließlich
Schwarzweiß-Fotografien aufgenommen wurden. Die Buchpublikationen
von Dr. Pierre Genée über Synagogen in Österreich bzw.
Wien enthalten diesbezüglich umfangreiche Informationen [4,5]. Aufgrund
der hier skizzierten Sachlage wurde die Bearbeitung nachfolgender Tempelbauten
anvisiert:
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2., Leopoldsgasse 29
2., Pazmanitengasse 6
2., Tempelgasse 3
2., Zirkusgasse 22
5., Siebenbrunnengasse 1a
9., Müllnergasse 21
10., Humboldtgasse 27
13., Eitelberggasse 22
15., Turnergasse 22
20., Kluckygasse 11
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Projektfortschritte
Am 25. Juni 2001 fand im Jüdischen Museum (Wien)
eine öffentliche Präsentation statt. Dr. Pierre Genée
referierte hiebei über die Thematik "Synagogen in Wien"
und verschaffte dem Publikum einen Rundumblick. Im weiteren bezog sich
die Veranstaltung auf nachfolgende Synagogen:
15., Turnergasse 22 (Architekt Carl König)
Eigentlicher Anlaß für die Rekonstruktion
war das Projekt "5x2x8", in welchem fünf Studierende in
zwei Tagen mit je acht Arbeitsstunden die Synagoge Turnergasse dreidimensional
modellierten [7]. Ein weitgehend vollständiger Satz von Einreichplänen
lag vor, doch fehlte ein Längsschnitt (bzw. ein Schnitt durch die
Kuppel). Außenraumaufnahmen, wie auch eine detaillierte Innenraumfotografie,
waren vorhanden. Im Wege eines künstlich geschaffenen Zeitdrucks
stellte sich die Frage, welche Modellierungsqualität mit diesem Zeitbudget
(80 Arbeitsstunden) erzielt werden kann. Dr. Markus Kristan beleuchtete
in seinem begleitenden Impulsreferat den Architekten Carl König.
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Abb. 2a-d Turnergasse: Zwischenergebnisse
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Abb. 3a-b Turnergasse: Erreichter
Rekonstruktionsstand [Willy Hochenbichler et.al] |
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2., Tempelgasse 3 (Architekt: Ludwig von Förster)
Die Rekonstruktion der Synagoge in der Tempelgasse wurde
vom vielfältigen Archivmaterial begünstigt. In der detaillierten
Modellsituation wurde u.a. mit verschiedenen Materialbeschaffenheiten
experimentiert und ebenso eine aufwendige Darstellung durchexerziert.
Im Frühjahr 2001 wurde die ggst. Diplomarbeit an der TU-Wien approbiert
[8].
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Abb. 4a-b Tempelgasse: Erreichter Rekonstruktionsstand
[Daniela Wallmüller] |
20., Kluckygasse 11 (Architekt Jacob
Gartner)
In den Einreichplänen mußten kleinere Unstimmigkeiten
festgestellt werden. Die Verifizierung war nur bedingt möglich, weil
nur wenige Fotografien recherchiert werden konnten. Trotz nicht vorhandener
Innenraumaufnahmen konnte diese Synagoge von Herbert Peter im Rahmen einer
Seminararbeit im Sommersemester 2001 rekonstruiert werden.
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Abb. 5a-b Kluckygasse: Erreichter Rekonstruktionsstand
[Herbert Peter] |
Es konnten inzwischen ausreichende Arbeitserfahrungen
hinsichtlich der computergesützten Rekonstruktion von Wiener Synagogen
gesammelt werden. Dennoch wäre es sinnvoll und wünschenswert,
mit "Zeitzeugen" in Kontakt zu treten, um die (Zwischen-) Ergebnisse
mit realen Wahrnehmungen verbinden zu können.
Referenzen
[1] Die in diesem Beitrag erörterten Synagogen wurden
mittels ArchiCAD (http://www.graphisoft.com) rekonstruiert.
[2] http://www.apple.com/qtvr
[3] Martens, Bob; Uhl, Matthias; Tschuppik, Wolf-Michael, Voigt, Andreas:
"Synagogue Neudeggergasse: A Virtual Reconstruction in Vienna",
in: Constructing the Digital Space [Proceedings IVth Sigradi-Conference
Rio de Janeiro], 2000, S. 165-170.
[4] Genée, Pierre: Synagogen in Österreich. Wien: Löcker
Verlag, 1992
[5] Genée, Pierre: Wiener Synagogen 1825-1938. Wien: Löcker
Verlag, 1987
[6] Krinsky, Carol H.: Europas Synagogen. Sttuttgart: DVA, 1988.
[7] Dieses Projekt fand in Kooperation mit der Firma A-Null (Herbert Peter
und Kurt Wilhelm) statt. Teilnehmende Studierende: Sabrina Frazetto, Willy
Hochenbichler, Klaus Lengauer, Markus Piribauer, Florian Rode.
[8] Wallmüller, Daniela: "Computergestützte Rekonstruktion
des Leopoldstädter Tempels" Diplomarbeit
TU-Wien, 2001.
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Wer hat noch Bildmaterial?
Trotz intensiver Recherchen konnten
von nachfolgenden Synagogen keine
Innenraumaufnahmen
(Fotografie, Aquarell, etc.) ausfindig
gemacht werden:
5., Siebenbrunnengasse 1a
10., Humboldtgasse 27
20., Kluckygasse 11
Wir bedanken uns im voraus für Hinweise und bitten
ggf. um eine e-mail an ao. Univ.-Prof. Dr. Bob Martens: b.martens@tuwien.ac.at
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