In einem Ulpan, an dem der Schreiber dieser Zeilen vor mehreren
Jahrzehnten teilnahm, stellten sich, wie jeweils zu Beginn üblich,
die einzelnen Teilnehmer vor. Als die Reihe an zwei junge Mädchen
kam, deren Äußeres darauf schließen ließ, daß
sie Gäste aus Indien waren, sagten sie, daß sie jüdische
Einwanderer aus Indien seien und zu den Bene-Israel aus Bombay gehörten.
Was hat das mit Rosch Ha-Schana zu tun? Es gibt einen
Zusammenhang, der eigentlich verblüffend ist und gleichzeitig einen
Blick auf die innere Vielfalt der jüdischen Religion tun läßt.
Es gehört zu den überraschendsten Fakten, daß
die Bene Israel bis ins 19. Jh. weder die Bibel, noch die Mischna noch
den Talmud kannten.
Man mag sich fragen, wieso sie überhaupt im weiteren Sinn als Juden
gelten können. Ein wesentlicher Grund dafür besteht darin, daß
sie die wichtigsten Feste der jüdischen Religion und darunter eben
auch Rosch Ha-Schana feiern. Sie tun das seit ältester Zeit, wobei
man nicht genau sagen kann, wann die hellhäutigen Ahnen der Bene
Israel nach Indien gekommen sind. Haeem Kehimkar, selbst Angehöriger
der Bene Israel, weist in seiner am Ende des 19. Jh. verfaßten,
aber erst 1937 in Palästina veröffentlichten Beschreibung der
Bene Israel darauf hin, daß die seit alters her von ihnen gefeierten
Feste Namen tragen, die der Marathi-Sprache zugehörig sind. Rosch
Ha-Schana etwa heißt "Naviacha San" =Neujahrs Festtag
("San" ist ein Marathi Wort). Seit frühester Zeit begehen
die Bene Israel auch den Yom Kippur (Darfalmicha San "Feiertag des
Schließens der Tore"), Pessach (Anashi Dhakacha San) und Purim
(Holicha San). Was Purim betrifft, so ist bemerkenswert, daß sie
die Esther-Geschichte nicht kennen. Das mag ein Indiz dafür sein,
daß es sich nur um die Adaptierung des zur selben Zeit gefeierten
hinduistischen Festes Holi handeln könnte. Besonders auffällig
ist, daß die Bene Israel weder Schavuot noch Sukkot (der mögliche
Zusammenhang mit der Feier von Khiriacha San vor Rosh Ha-Schana ist unklar)
feiern. Entscheidend freilich ist der Umstand, daß sie den Schabbat
beobachten. Von daher wurden sie auch in ihren indischen Nachbarn "Shanwar
Telis" (= "den Samstag beobachtende Ölpresser") genannt.
Im Unterschied dazu werden Muslime, die den gleichen Beruf, jedoch den
Freitag als gottesdienstlichen Wochentag haben, als "Shukrewar Telis"=
("den Freitag beobachtende Ölpresser") bezeichnet.
Irgendwann im Laufe der Zeit (man weiß nicht genau
ob um 1000 oder 1400 oder gar erst 1600) hatten sie Kontakt mit dem rabbinischen
Judentum. In ihren Legenden erzählen sie davon, daß ein gewißer
Rabbi namens David Rahabi zu ihnen gekommen sei. Er habe sie eben wegen
der Beobachtung des Schabbat, der Feier der genannten Feste und der bei
ihnen geübten Beschneidung als Juden anerkannt. Auf diesen Kontakt
geht nach Kehimkar die Einführung von anderen religiösen Tagen,
wie etwa des Tisch'a be Av (=Birdiacha Roja) zurück. "Roja"
ist ein Wort aus dem Hindi und damit, nach Kehimkar, ein Indiz für
die spätere Übernahme dieses Fasttages in den liturgischen Kalender
der Bene Israel. Auffällig ist, daß Hanukka unter den Festtagen
fehlt.
Wer war dieser David Rahabi? Dazu läßt sich
nichts historisch Gesichertes sagen. Schon seit langem ist aber ein zufällig
erhaltener Brief bekannt, den David, der Bruder des Moses Maimonides,
im Jahre 1170 schrieb, als er auf dem Weg nach Indien war. Moses Maimonides
kommt in seinem aus dem Jahr 1199 stammenden Brief an die Rabbiner von
Lunel in Südfrankreich auch auf die Juden Indiens zu sprechen und
schreibt: "Die Juden Indiens kennen nichts von der Tora und auch
keines der Gesetze außer dem Schabbat und der Beschneidung."
Obwohl das sehr gut zu dem paßt, was wir über die Bene Israel
wissen, steht keineswegs fest, daß Maimonides tatsächlich von
ihnen sprach, oder gar durch seinen Bruder von ihnen erfahren hat.
Der Umstand, daß die Bene Israel zwar Rosch Ha-Schana
feiern, Hanukka aber nicht kennen, könnte ein Hinweis darauf sein,
wann ihre Vorfahren an die Westküste Indiens gekommen sind. Die Ursprungs-Legenden
der Bene Israel lassen das völlig offen. Erst im 19. Jh. haben christliche
Missionare, die sie erstmals mit einer Übersetzung von Teilen der
Bibel in Marathi bekannt machten, diese Legenden aufgezeichnet. Was John
Wilson berichtet, hat auch Kehimkar in sein Buch aufgenommen:
"Sie sagen, daß ihre Vorfahren vor 1600
Jahren von einem nördlichen Land an die Küste Indiens gekommen
seien. Sie überliefern, daß ihr Schiff an der Küste Konkans
gestrandet sei, wobei nur 14 Männer und 14 Frauen überlebt hätten.
Sie gelangten an den Strand von Nawgaon, einem Dorf in der Nähe der
beiden felsigen Inseln Henery und Kenery. Nawgaon liegt in der Nähe
des Dorfes Kehim und sehr nahe von Alibag, einer Stadt 30 Meilen südlich
von Bombay. Viele Leichen der Ertrunkenen wurden an den Strand geschwemmt
und von den Überlebenden unter zwei länglichen Hügeln,
die man noch heute in Nawgaon sieht, bestattet. Man sagt, daß unter
dem nördlichen Hügel die Männer, unter dem südlichen
die Frauen begraben sind. Die gesamte Habe der Überlebenden, religiöse
Gegenstände eingeschlossen, gingen mit dem Wrack verloren. Es gelang
den Geretteten, sich in der Gegend irgendwie anzusiedeln und als Bauern
und Ölpresser ohne jeden Kontakt zu Juden anderswo zu leben."
Dieser Bericht bietet keine wirklichen Anhaltspunkte für
die Rekonstruktion der Herkunft der Bene Israel. Natürlich
wurde vermutet, sie seien Nachfahren der verschollenen 10 Stämme
Israels. Die Feste, die sie feiern, könnten ein Hinweis darauf
sein, daß sie etwas vor der Zeit der Makkabäer an die
Westküste Indiens gelangt sind. Dafür würde sprechen,
daß sie zwar Rosh Ha-Shana, aber nicht Hanukka feiern. Während
Kehimkar daran dachte, sie kämen aus Galiläa, nannten
andere die babylonische Diaspora, Arabien oder den Jemen. Man könnte
freilich auch an Ägypten, das Zentrum des hellenistischen Judentums,
denken. Rein technisch war es so, daß die Schiffahrt aus diesen
Gebieten jeweils entlang der Küsten und nicht quer durch die
Meere verlief.
In jedem Fall standen die Bene Israel im Laufe
der Jahrhunderte unter dem nachhaltigen Einfluß ihrer indischen
Nachbarn. So berichten die Missionare des 19. Jh. von religiösen
Praktiken, die offenkundig dem hinduistischen Polytheismus entstammten.
Besonders auffällig ist auch der Umstand, daß die Bene
Israel Elemente des indischen Kasten-Systems übernommen haben.
Es werden zwei Gruppen unterschieden, nämlich die an Zahl stärkere
Oberschicht, die "Gora Israel" ("Weiße Israel")
und die niedrigere Kaste, die "Kala Israel" ("Schwarze
Israel"). Wie Kehimkar (bedauernd) feststellt, gehen sie keine
Ehen mit Angehörigen der jeweils anderen Gruppe ein und essen
auch nicht mitsammen. Man kann daher davon ausgehen, daß es
im Laufe der Geschichte nicht nur durch außereheliche Beziehungen
zu Hindus, sondern auch durch Übertritte von hinduistischen
Nachbarn zum Judentum zur bestehenden Gesellschaftsstruktur bei
den Bene Israel kam. Zahlenmäßig bildeten sie mit etwa
14000 Seelen die größte Gruppe, der in Indien (Kalkutta,
Cochin) lebenden Juden. Seit der Auswanderung der überwiegenden
Mehrheit nach Israel, wo sie etwa in Beersheba leben, ist ihre Zahl
in Indien nur mehr marginal.
Wiewohl die christliche Mission durchaus daran
interessiert war, die Bene Israel zum Christentum (Church of Scotland)
zu bekehren, ging Rev. John Wilson dabei einen indirekten Weg, der
zunächst das Ziel hatte, die Bene Israel in ihrem Judentum
zu fördern.
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Die Magen Aboth-Synagoge der Bene Israel in
Alibag (Indien) erbaut 1910.(Foto Encyclopaedia Judaica)
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Um ihnen den Zugang zur hebräischen Bibel zu eröffnen, verfaßte
er, der ein angesehener Orientalist war, in Marathi, der Muttersprache
der Bene Israel, eine hebräische Grammatik und machte Ihnen so Teile
der Bibel durch die Übersetzung ins Marathi erstmals zugänglich.
Über irgendwelche Missionserfolge wird freilich nicht berichtet.
In diesem Zusammenhang ist ein Argument der Bene Israel sehr erhellend:
Sie meinten, daß sie selbst zwar den christlichen Anspruch, der
Messias sei mit Jesus bereits gekommen, nicht widerlegen könnten,
aber Juden, die gebildeter wären als sie, wären dazu sicher
in der Lage.
Das entspricht den Gedanken, die in einem religiösen Gedicht (Lavni)
des Elloji Shahir aus dem 18. Jh. zum Ausdruck kommen:
"Warum hast du den wahren Glauben vergessen, wo du doch ein Sohn
Israels bist? Wenig Wissen und viel Schein und Trug, das ist es, was die
Ungläubigen verbreitet haben."
Nicht zuletzt durch die christlichen Missionsschulen hob sich aber der
Bildungsstand der Bene Israel, von denen viele zur Zeit der Britischen
Herrschaft in Indien nach Bombay kamen und durchaus angesehene Positionen
einnahmen.
Zurück zu Rosch Ha-Schana. Ursprünglich feierten die Bene Israel
nur einen Tag dieses Festes, dessen Charakter, wie in Nm 29,1 gefordert,
durch gottesdienstliche Versammlung, Freisein von Arbeit und die Teruma
gekennzeichnet ist. Wie alte Abbildungen zeigen, kennen sie auch das Schofar,
wobei sich kaum bestimmen läßt, seit wann das der Fall ist.
Allerdings ist in dem Bericht von Rabbi David deBeth Hillel aus dem Jahr
1833 bereits davon die Rede. Der Gedanke des Neubeginns, der offenbar
mit Rosh Ha-Schana verbunden wird, drückt sich einerseits darin aus,
daß vor dem Fest die Innen- und Außenwände der Häuser
weiß getüncht werden und das Tragen neuer Kleider eine Selbstverständlichkeit
ist.
Aber vielleicht bringen Worte aus einem anderen religiösen Gedicht
(Lavni) des Shahir besser als äußere Handlungen zum Ausdruck,
was die Bene Israel an diesem Tag empfanden:
"Singen wir den Lobpreis des Herrn
aus der Zufriedenheit des Herzens:
Er steht über allem.
Er ist der Schöpfer von Gut und Böse.
Sein Auge ist auf jeden gerichtet.
Er nährt jeden, außer den, den er prüfen will."
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