Diese kleine Familiengeschichte soll beispielhaft das Schicksal
von Juden im ländlichen Raum in der Zeit vom 19. Jahrhundert
bis hin in die Jetztzeit aufzeigen. Die Löwys stehen pars pro
toto für jene Juden, die sich im 19. Jahrhundert aus Westungarn
kommend im südlichen Niederösterreich sesshaft machten
und deren Existenz durch den Nationalsozialismus zerstört wurde.
Am Schicksal dieser Familie lässt sich beispielhaft das Schicksal
der Juden in dieser Region ablesen. Ausgehend von wenigen Fakten,
die ein Familienstammbaum zu bieten hatte, war zu fragen, auf welche
Weise, mit welchem mentalen Instrumentarium die Löwys die Entwicklungen
der Zeit wahrnahmen, die sich in ihrer Umgebung vollzogen und die
sie auch persönlich betreffen mußten, wie sie diese beobachtet
und erfahren haben. Solche Fragen können auf Grund der Quellenlage
vor allem für das 19. und das frühe 20. Jahrhundert nur
in der Rekonstruktion der allgemeinen Lebensumstände der Zeit
und ihren möglichen Auswirkungen beantwortet werden. Vieles
muß daher über die Tatsachen, die wir über die Familie
wissen, hinausgehen und Konstruktion bleiben. Eine Suche nach der
Lebenswirklichkeit der Löwys und den Menschen ihrer Zeit.
Die urkundlich belegte Geschichte der Familie Löwy umfaßt
zwei Jahrhunderte. Der erste der Löwys, der in den Quellen
fassbar wird, ist David Löwy, der in Tét in Ungarn in
der Provinz Györ geboren wurde. Von ihm ist nicht viel bekannt,
außer daß er Julie Schischa heiratete, die aus Mattersdorf
[heute Mattersburg] stammte. Nach ihrer Hochzeit lebte das junge
Ehepaar in Tét und auch ihre beiden Söhne Isak und Mordechai
wurden 1826 und 1830 in dieser kleinen ungarischen Provinzstadt
geboren. David und Julie Löwy sterben jung, sodaß die
beiden Brüder bereits vor 1838 zu Vollwaisen werden. In einem
Alter von ungefähr sieben und elf Jahren kein leichtes Schicksal.
Nach dem Tod der Eltern übersiedelten Isak und Mordechai Löwy
nach Mattersdorf, wo möglicherweise die Großeltern mütterlicherseits
noch am Leben waren. Außerdem hatte wahrscheinlich die Mutter
noch die Heimatberechtigung in Mattersdorf besessen, was bedeutete,
daß auch ihre Kinder in der Gemeinde dieses Recht besaßen.
Allerdings mußten sie selbst für ihren Lebensunterhalt
sorgen. Einen Vorteil bot Mattersdorf den Brüdern aber auf
jeden Fall: In dieser Gemeinde konnten sie gratis am Schulunterricht
teilnehmen. 1835 hatte sich die jüdische Gemeinde in Mattersdorf
verpflichtet, allen Kindern von Armen den Besuch in der Normalschule
zu ermöglichen. Der Unterricht in der Schule vermittelte ein
beschränktes Allgemeinwissen wie Deutsch und Rechnen, naturwissenschaftliche
Fächer fehlten in diesem Lehrplan allerdings. Im Rahmen der
hebräischen Fächer wurde Bibelkunde und hebräische
Grammatik gelehrt.1 Die Schulbildung, die Isak und Mordechai hier
erhielten, war für ihre Zeit und vor allem ihre soziale Schicht,
insbesondere im Vergleich zu ihrer christlichen Umgebung, ganz ausgezeichnet.
Zwar stand in einer orthodoxen Gemeinde wie Mattersdorf die religiöse
Bildung im Vordergrund, dennoch verschaffte ihnen der Deutsch- und
Rechenunterricht einen nicht unwesentlichen Vorteil, um sich im
späteren Leben zu bewähren. Dies wurde auch ausdrücklich
als Ziel der Schule genannt.
"Der Zweck des Unterrichts ist, die Kinder in dem Stande und
Berufe, für welchen sie bestimmt sind, brauchbar und nützlich
zu machen [...] Durch diesen Unterricht will man dem Kinde Kenntnisse
und Fertigkeiten mittheilen und zunächst auf sein Bildungsvermögen
wirken, daher wird auch in dieser Anstalt die Sittenlehre eingeleitet.2
Der Beruf, für den die beiden Brüder bestimmt waren, war
der eines kleinen Händlers oder Hausierers, so wie es auch
ein Großteil der Gemeindemitglieder selbst war. Die meiste
Zeit waren die Männer unterwegs, um durch ihre Tätigkeit
den Familien ein bescheidenes Einkommen zu bieten. Auch das war
ein Grund gewesen, die Schule in Mattersdorf einzurichten, wie aus
dem selben Dokument hervorgeht:
"Die Kinder sind in dieser Welt eine Herde ohne Hirten; ihre
Väter müssen in der Ferne weilen, um den Lebensunterhalt
ihrer Familien sicherstellen zu können, und ihre Berufsausübung
läßt ihnen nicht genug Zeit für die Erziehung ihrer
Kinder. In Anbetracht dieser Tatsache ist diese Lehranstalt errichtet
worden.3
Wie lange Isak und Mordechai die Schule in Mattersdorf besuchten,
entzieht sich unserer Kenntnis. Die Ausbildung in der Grundschule
endete üblicherweise in einem Alter von 13 Jahren, also dem
Zeitpunkt der Bar Mitzwa, ab dem ein Knabe im religiösen Sinne
als Erwachsen gilt.4 Aufgrund der wirtschaftlichen Situation der
beiden Brüder ist eine weitere Ausbildung in einer Jeschiwa
auszuschließen. Das bedeutet, daß Isak mit seiner Geschäftstätigkeit
bereits im Alter von 13 oder 14 Jahren begann, wahrscheinlich erst
in der Obhut eines erwachsenen Verwandten. Daß nach unserem
Verständnis noch Kinder bereits in diesem Alter selbstständig
zu arbeiten begannen, war für diese Zeit keine Besonderheit.
So wurde zum Beispiel auch der 15jährige Isidor Mauthner, der
später zu einem der bedeutensten Industriellen der Monarchie
aufstieg, 1867 von seinem Vater nach Wien losgeschickt, um dort
neue Absatzmärkte zu erschließen. Dabei waren ein Hausknecht
und ein vor einem Handwagen gespannter Hund seine einzigen Helfer.5
Isak Löwy begann während des Baues der Semmeringbahn,
den dort beschäftigten Arbeitern Altkleider und Stoffe zu verkaufen.
Beim Bau der Bahn waren zu manchen Zeiten bis zu 10.000 Arbeiter
beschäftigt, der Absatzmarkt daher enorm groß. Eine Konjunktur,
die bis 1854, der Fertigstellung der Überquerung des Semmerings,
anhielt. Das Zentrum seiner Verkäufe lag dabei in Gloggnitz,
dem Hauptort der Region auf niederösterreichischer Seite.
Isak war also bereits im Alter von ungefähr 13 bis 15 Jahren
fähig, sich selbst zu ernähren. Wahrscheinlich nahm er
auf seinen Verkaufsreisen später auch seinen jüngeren
Bruder Mordechai mit. Keine leichte Aufgabe für zwei junge
Burschen, Bündel von Altkleidern und Stoffen durch die Hügeln
und Berge der Buckligen Welt von Mattersdorf nach Gloggnitz zu schaffen.
Die Luftlinie zwischen den beiden Orten beträgt 35 Kilometer.
Eine zweite Route verlief über Wiener Neustadt, von wo die
beiden die Reise nach Gloggnitz mit der Eisenbahn hätten machen
können. Diese Route scheint mir allerdings schon deshalb unwahrscheinlich,
weil die Kosten für die Fahrt ihre Gewinne erheblich geschmälert
hätten. Auf jeden Fall bedeutete diese Art des Handels ein
ständiges Hin und Her zwischen Mattersdorf und Gloggnitz. Aufenthaltsgenehmigungen
für Juden in Niederösterreich wurden ja nur in Ausnahmefällen
und für wohlhabende Juden erteilt, denen es möglich war,
Gewerbebetriebe oder Industrien aufzubauen. Das Mißtrauen
der christlichen Bevölkerung gegen sie konnte, wenn überhaupt,
nur langsam abgebaut werden. Selbst in ihrer Heimatgemeinde Mattersdorf,
wo das Zusammenleben zwischen Juden und Christen als vorbildhaft
galt, kam es zeitweilig zu Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungsteilen.6
Auch war es sicher nicht immer einfach gewesen, sich zu verproviantieren,
wollten sie die religiösen Speisevorschriften einhalten. Dennoch
führten Isak und Mordechai ihre Geschäfte mit Fleiß,
Ausdauer und offensichtlich auch mit dem nötigen Glück
zum Erfolg. Mit 21 Jahren hatte sich Isak eine wirtschaftliche Basis
erarbeitet, die es ihm 1847 ermöglichte, die um vier Jahre
ältere Regine Österreicher aus Mattersdorf zu heiraten.
In die Lebenszeit von Isak und Mordechai fallen ganz wesentliche
Ereignisse, die die gesetzliche Lage der Juden bis hin zur völligen
rechtlichen Gleichstellung bringen sollten. Die erste große
Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer unsicheren und diskriminierenden
Lage brachte die Revolution von 1848. Von den Revolutionären
wurde erstmals die volle Gleichberechtigung für Juden gefordert.
Mit welchen Gefühlen die Brüder Löwy darauf reagierten,
welche Hoffnungen sie in die Revolution setzten, vermögen wir
nicht zu sagen. Spurlos kann dieses Ereignis, welches das ganze
Land in Aufruhr versetzte, an ihnen aber nicht vorübergegangen
sein. Selbst in so kleinen Märkten wie z. B. Neunkirchen wurden
1848 Nationalgarden aufgestellt.7
Die Haltung der Orthodoxie zur Revolution war alles andere als eindeutig.
In Lemberg sahen sich zum Beispiel die Orthodoxen durch die Forderungen
der Revolutionäre ihres Einflusses auf die Leitung und Verwaltung
der Gemeinde beraubt und opponierten heftig gegen deren Errungenschaften.8
Überhaupt kam aus orthodoxen Kreisen zumeist ein zäher
Widerstand gegen emanzipatorische Bestrebungen und die daraus resultierenden
Eingriffe in halachische, d. h. durch religiöse Gesetze geregelte
Lebensbereiche. Andererseits muß man sich auch hier vor Pauschalurteilen
hüten, wie etwa das Beispiel des orthodoxen mährischen
Landesrabbiners Samson Raphael Hirsch (1808 - 1888) zeigt, der ein
entschiedener und aktiver Befürworter der Revolution war.9
Jacob Toury vertritt die These, daß in Deutschland die Orthodoxie
ab 1848, ausgelöst auch durch "die Freiheit des Individiums
für alle Formen", die Emanzipation zu unterstützen
begann.10 Zu klären wäre in diesem Zusammenhang, wie weit
die deutschsprachigen Gemeinden Westungarns die Entwicklungen in
Deutschland rezipierten.
In diesen Jahren wurde prinzipiell die Frage nach der Stellung der
Juden in der Gesellschaft aufgeworfen. Die Nationalitätenfrage,
die sich in der Revolution zuspitzte, forderte auch von den Juden
ein Bekenntnis zu einer Nationalität. Dabei mußte für
die Orthodoxie die Frage beantwortet werden, ob ein Jude auch außerhalb
von Erez Israel ein Vaterland haben konnte. Leider wissen wir nicht,
wie der damalige Mattersdorfer Rabbiner Schimon Sofer (ein Sohn
des berühmten Chatam Sofer 1820 - 1883) auf diese Herausforderungen
reagierte. Seine Stellung zur Revolution und den dadurch bedingten
Veränderungen dürfte aber durchaus positiv gewesen sein,
gehörte er doch ab 1878 als Abgeordneter dem Österreichischen
Reichsrat an.11 Eine Position, die darauf hindeutet, daß er
dem österreichischen Staat und seinen ersten demokratischen
Gehversuchen sowie modernen Entwicklungen nicht negativ gegenüberstand.
Auch ist zu bedenken, daß die burgenländischen Gemeinden
in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu den aufgeklärtesten
unter den orthodoxen Gemeinden im Kaisertum Österreich zählten.
Eine Errungenschaft der Revolution, die Aufhebung der diskriminierenden
und drückenden Toleranzsteuer, hatten die ungarischen Juden
allerdings bereits 1846 erreicht, als die Regierung die Toleranztaxe
nach langwierigen Verhandlungen gegen eine Ablösesumme aufhob.12
Da die beiden Brüder in Mattersdorf steuerpflichtig waren,
stellte das für sie eine wesentliche finanzielle Erleichterung
dar. Dennoch, die Enttäuschung über das Scheitern der
Revolution und die nachfolgenden Jahren der Restauration mußte
erheblich gewesen sein. Die bereits greifbare rechtliche Gleichstellung
mit allen anderen Bürgern der Monarchie schien wieder in weite
Ferne gerückt zu sein.
Ein anderes Problem tat sich für die Brüder auf, als
in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Gesetz für
den Hausierhandel in Kraft trat. Als Hausierhandel war "der
Handel mit Waren, im Umherziehen von Ort zu Ort und von Haus zu
Haus, ohne bestimmte Verkaufsstelle"13 definiert. Mit diesem
neuen Gesetz wurde der Handel nur österreichischen Staatsbürgern
und Personen über 30 Jahren erlaubt. Dazu brauchte man eine
besondere Bewilligung, die in Form eines Hausierpasses für
nur ein Jahr ausgestellt wurde. Zum Übertritt von einem Kronland
in das andere bedurfte es einer eigenen Bestättigung einer
Kreisbehörde.
"Nur zu Gunsten der Bewohner bestimmter erwerbsarmer Gegenden,
welche von alters her sich mit dem Hausieren beschäftigten,
war eine Reihe von besonderen Begünstigungen (Normalalter von
24 Jahren, Berechtigung zum Hausieren im ganzen Reiche mit Einschluß
der Grenzbezirke und geschlossenen Orte und zum Handel mit einzelnen
sonst verbotenen Waren) aufgestellt."14
Diese Ausnahmebestimmung des Gesetzes machte es den beiden Brüdern
zwar möglich, weiterhin ihrem Broterwerb nachzugehen, führte
ihnen aber auch die Notwendigkeit vor Augen, sich im geographischen
Bereich ihrer hauptsächlichen Geschäftstätigkeit
niederzulassen, wenn sie sich wirtschaftlich etablieren wollten.
Dies gelang allerdings erst 1865, fünf Jahre nachdem es Juden
erlaubt wurde, sich in den niederösterreichischen Städten
anzusiedeln. Zu diesem Zeitpunkt waren dem Ehepaar Isak und Regina
Löwy bereits alle ihrer vier Kinder geboren worden. Julia 1852,
Simon 1854, Moritz 1856 und Max 1859. Sie waren die ersten der Familie,
die zumindest einen Teil ihrer Kindheit in Gloggnitz erlebten. Auch
Mordechai, von dem wir leider nicht sehr viel wissen, zog mit seiner
Familie nach Gloggnitz und etablierte dort einen eigenen Warenhandel
in der Hauptstraße 6.
An dieser Stelle scheint es angebracht, sich einige grundsätzliche
Gedanken über jüdisches Familienleben zu machen. Die Löwys
kamen aus einem gut behüteten traditionellen jüdischen
Umfeld und zogen nun an einen Ort, der in keiner Weise eine jüdische
Infrastruktur bot. Um ein jüdisches Leben aufrechterhalten
zu können, wurde der familiäre Zusammenhalt umso wichtiger.
Die traditionelle jüdische Familie war reich an Kindern. (Ein
Kinderreichtum, den wir bei den Löwys erst wieder in der nächsten
Generation beobachten können.) Viele Kinder zu haben bedeutete,
daß die Eltern gesegnet waren. Sie brachten gesellschaftliche
Anerkennung und wurden als eine Art langfristige Investition zum
Ruhm und Nutzen der Familie betrachtet. Ein Nutzen, der allerdings
nur auf Knaben zutraf, denn sie konnten Rabbiner und Gelehrte werden,
womit man in der traditionellen Gesellschaft großes Ansehen
erwarb. Mädchen sah man eher als eine Belastung an, mußte
der Vater doch im Falle einer Verehelichung mit Geld, Geschirr,
Bettwäsche und ähnlichem das Fundament für den neuen
Haushalt legen.15
Größte Bedeutung wurde der Bildung der Kinder beigemessen.
Arme Familien gaben ihr letztes Geld, um ihren Söhnen dies
zu ermöglichen.16 In Gloggnitz war es nicht möglich, den
Kindern eine umfassende "jüdische Ausbildung zukommen
zu lassen. Die Rolle des Lehrers mußte daher vom Vater selbst
übernommen werden. Dies war durchaus üblich und gerade
an Orten ohne entsprechende Infrastruktur auch notwendig. In die
Anfänge des Lesens und Schreibens wurden die vier Löwy-Kinder
sicherlich von Isak selbst eingeführt. Das Leben der Kinder
war auch schon von frühester Kindheit an in die Religion eingebettet.
Die täglichen Gebete und Segenssprüche, wie auch der Schabbat
waren Teil der Existenz. Auch bei den Festen wurden die Kinder spielerisch
miteinbezogen. So muß zum Beispiel vor Pessach in der ganzen
Wohnung der Sauerteig entfernt werden. Nachdem dies durch die Mutter
geschehen ist, macht sich der Vater als Oberhaupt der Familie gemeinsam
mit den Kindern auf, um nach Chamez (Sauerteig) zu suchen. Dabei
läßt er unauffällig einige Brösel fallen, damit
die Suche der Kinder erfolgreich ist. Für gefundenes Chamez
erhalten die Kinder dann eine kleine Belohnung. Es ist als sicher
anzusehen, daß dies bei den Löwys ebenfalls geschah und
bei den Kindern einen tiefen Eindruck hinterließ. Es ist aber
durchaus vorstellbar, daß die Löwys die großen
Feiertage wie Rosch HaSchana und Pessach in Mattersdorf feierten,
wo es ein gut entwickeltes jüdisches Umfeld gab. Aus den Interviews
in diesem Band ist auch zu ersehen, wie bestimmend auch noch für
spätere Generationen die religiösen Feste im Verband der
Familien waren und eine wie starke Erinnerung von Geborgenheit sie
bis heute hervorrufen. Die Wichtigkeit der Religion für die
ersten jüdischen Gloggnitzer geht auch daraus hervor, daß
bereits 1873 von der Familie Weiner, einer anderen jüdischen
Familie, ein Grundstück erworben wurde, um darauf eine Synagoge
zu errichten.17 Ein Gebäude, das auch heute noch in der Erinnerung
ehemaliger Gloggnitzer einen hervorragenden Platz einnimmt und deren
Inneneinrichtung der Josef Caro Synagoge in Sefad in Israel ähnlich
gewesen sein soll.18
Einen besonderen Höhepunkt im Leben des Isak Löwy und
seiner Familie stellte das Jahr 1867 dar. Endlich war durch das
Staatsgrundgesetz die völlige rechtliche Gleichstellung der
Juden in Österreich und in Ungarn proklamiert worden. Die Löwys
konnten nun frei von allen Sondergesetzen daran gehen, ihre Geschäfte
aufzubauen. Die folgenden Jahre müssen in der Zeit des wirtschaftlichen
Aufschwungs der Monarchie überaus erfolgreich verlaufen sein.
Auch Gloggnitz profitierte vom wirtschaftlichen Aufschwung und der
zunehmenden Industriealisierung des Bezirks. 1845 siedelte sich
dort die "Spinnfabrik Erdl" an, 1852 die "Strichgarnspinnerei
und Kappenfabrik Volpini", 1870 die "Papierfabrik Stuppach",
1875 die "Zellulosefabrik Stuppach" und 1879 kam die "Motoren
und Maschinenfabrik Renauer" hinzu.19 Aus einem kleinen Dorf,
das 1838 nur 579 Einwohner hatte, wurde bis 1870 ein kleiner Marktflecken
mit 1961 Einwohnern.20 Innerhalb von 32 Jahren verdreifachte sich
also die Einwohnerzahl dieses Ortes.
Julia, die älteste Tochter von Isak und Regina Löwy, heiratete
1873 Heinrich Rosenberger aus Mattersdorf, wohin sie auch wieder
übersiedelte. Der Schwiegersohn übernahm dort das ursprüngliche
Geschäft von Isak Löwy in Mattersdorf und führte
es weiter. Der älteste Sohn Simon ehelichte 1878 Maria Lipschitz
aus Leobersdorf und zog nach Neunkirchen, wo er eine Altkleiderhandlung
in der Hauptstraße 15 betrieb. Dieser Ehe entsprangen elf
Kinder. In Neunkirchen engagierte sich Simon für die Belange
der Kultusgemeinde und war auch Gründungsmitglied der Chewra
Kadischa.21 In Gloggnitz selbst blieben nur die beiden jüngsten
Söhne Moritz und Max, die auch im Geschäft der Eltern
mithalfen. Bis 1880 hatte sich das Gloggnitzer Geschäft so
gut entwickelt, daß Isak nun daran gehen konnte, ein eigenes
Haus für die Familie und sein Geschäft zu erwerben. Obwohl
alle gesetzlichen Restriktionen gegen Juden bereits 1867 aufgehoben
worden waren und Juden selbstverständlich auch der Erwerb von
Immobilien gestattet war, wollte man in Gloggnitz einen Juden nicht
ohne weiteres erlauben, ein Haus zu besitzen. Um den Kauf abzuschließen,
benötigte Isak Löwy einen christlichen Strohmann, der
diesen für ihn durchführte. Die beiden Partner hatten
vor der Versteigerung des Hauses vereinbart, daß der Strohmann
kein weiteres Gebot abgeben sollte, wenn Isak Löwy seinen Bleistift
senken würde. Auf diese Art und Weise erwarb Isak Löwy
das Haus in der Hauptstraße 36, das von nun an der Firmensitz
sein sollte.22 Laut Grundbucheintragung des Bezirksgerichtes in
Gloggnitz ging die Liegenschaft 1880 in den Besitz von Marie Rapp,
verehelichte Strohmeier über. War sie oder ihr Ehemann der
Strohmann? 1886 jedenfalls scheinen erstmals die Löwys, und
zwar Moritz und Max, als Eigentümer des Grundstückes auf.23
Isak konnte jetzt im Alter von 54 Jahren auf ein erfolgreiches Leben
zurückblicken. Aus kleinsten Anfängen hatte er es geschafft,
ein florierendes Geschäft aufzubauen und sich und seiner Familie
ein gesichertes Einkommen zu sichern. Isak zog sich nun langsam
aus dem Geschäft zurück und übergab es an seine beiden
jüngsten Söhne Moritz und Max. Die Eltern übersiedelten
zurück nach Mattersdorf, wo es mehr an jüdischem Leben
gab und sie sich in vertrauter Umgebung wohler und geborgener fühlten.
Regina starb 1900 in Mattersdorf, fünf Jahre später folgte
ihr Isak nach. Er hinterließ seinen vier Kindern ein Vermögen
von 100.000 Gulden sowie Häuser in Gloggnitz und Mattersdorf.
Auch die nächste Generation agierte wirtschaftlich durchaus erfolgreich
und hielt weiter den Kontakt nach Mattersdorf. Moritz heiratete am
1. November 1882 die Mattersdorferin Pauline Meyer (geb. 1864). Zusammen
mit seinem jüngeren Bruder Max führte er das Geschäft
in Gloggnitz weiter, das die Brüder jetzt in "Isak Löwys
Söhne umbenannten. Einige Jahre später, 1886, heiratete
Max die aus Baden stammende Franziska (Fanny) Kohn, die nach Gloggnitz
übersiedelte. Aus beiden Ehen entsprangen jeweils sechs Kinder.
(David, Siegmund, Gisela, Esther, Luise und Lea sowie Adolf Heinrich,
Elsa, Dr. Moritz, Hilda, Isidor und Frieda) Die Frauen und später
die Kindern halfen alle im Geschäft mit, das jetzt zu einer Warenhandlung
ausgebaut wurde, in der man Güter des täglichen Bedarfs
erwerben konnte. Anders als ihre Eltern und Großeltern waren
Moritz und Max sowie ihre Kinder bereits besser in die Gloggnitzer
Gesellschaft eingebunden. Moritz genoß große Wertschätzung.
Er wurde nach dem Ersten Weltkrieg in ein Komitee gewählt, das
die Mietpreise in der Stadt kontrollierte und festsetzte, wieviel
ein Vermieter bei Reparaturen auf die Mieter umlegen durfte. Er hatte
zwar keine höheren Schulen besucht, wurde aber als Mann mit Hausverstand
und Lebenserfahrung geschätzt. Die Arbeit für das Komitee
war selbstverständlich unbezahlt und wurde von Moritz als Dienst
an der Gemeinschaft betrachtet. Gloggnitz litt, wie das gesamte Land
nach dem Ersten Weltkrieg, sehr unter den Kriegsfolgen. Investitionen
waren nicht mehr möglich und so sah sich die Gemeindeverwaltung
nach dem Krieg trotz der verheerenden wirtschaftlichen Folgen gezwungen,
wichtige Investitionen zu tätigen. Zu den vordringlichsten Aufgaben
zählte dabei die Schaffung von Wohnraum. Eine Aufgabe, die trotz
aller Bemühungen nur langsam voranschritt. In der Zeit von 1919
bis 1924 wurden 15 Wohnungen errichtet und ein Haus für Wohnzwecke
erworben.24 Bei der möglichst gerechten Verteilung dieser Wohnungen
und zur Vermeidung überhöhter Mietzinse im privaten Bereich
erfüllte das Komitee, in dem Moritz Löwy Mitglied war, eine
wichtige sozialpolitische Funktion.
Trotz der fortgeschrittenen Integration in die Gesellschaft hielt
man aber weiterhin am Glauben der Väter fest. Von Moritz wird
berichtet, daß er Pfeife rauchte, am Schabbat aber auf Kautabak
umstieg, da das Zünden am Schabbat verboten ist. Die Brüder
dürften eine gewisse Leidenschaft für das Kartenspiel gehabt
haben und veranstalteten gemeinsam mit ihrem Cousin David Tarot-Runden.
Purim war einer der bevorzugten Tage, um dieses Spiel auszuüben.
Aber auch Weihnachten wurden ganz bewußt solche Kartenrunden
angesagt, was als eine Art Bekenntnis zum Judentum betrachtet wurde.
Ein Bekenntnis welches aber auch als Bollwerk gegen die fortschreitende
Akkulturation von Juden an die christliche Gesellschaft zu verstehen
ist. Wurde es doch Ende des Jahrhunderts immer selbstverständlicher,
auch Weihnachten zu feiern, das als ein deutsches Volksfest galt,
an dem man als Deutscher mit mosaischen Glaubensbekenntnis selbstverständlich
teilhatte. Auf Dauer konnte man sich den Auswirkungen des engen Zusammenlebens
mit den Christen nicht verschließen. Daher sind diese Kartenrunden
zu Weihnachten als ein bewußtes Zeichen gegen diese assimilatorischen
Tendenzen zu betrachten. Dieses Beispiel zeigt uns auch, daß
die Löwys um die Jahrhundertwende noch stark an traditionellen
jüdischen Lebensformen festhielten.
Obwohl Moritz (1933) und Max (1929) in Gloggnitz starben, wurden sie
nicht auf dem Friedhof der Kultusgemeinde in Neunkirchen begraben,
sondern in Mattersdorf. Dort, wo auch ihre Eltern ihre letzte Ruhestätte
gefunden hatten. Die beiden Witwen führten gemeinsam mit den
Kindern das Geschäft weiter.
Im folgenden sollen die Lebenswege jener zwölf Kinder von Max
und Moritz Löwy nachvollzogen werden, wo Informationen vorhanden
sind. Siegmund Löwy, Sohn von Moritz und Pauline, wurde 1885
in Gloggnitz geboren. Dort besuchte er die Bürgerschule, später
dann das Gymnasium in Baden. Auch er wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann,
der sich hauptsächlich mit der Produktion und dem Verkauf von
Schuhen beschäftigte. Im Ersten Weltkrieg diente er als Offizier
in der ungarischen Armee. Ein Hinweis dafür, daß die Löwys
bis dahin noch keine Heimatberechtigung für Gloggnitz erworben
hatten und weiterhin ungarische Staatsbürger waren. Die Qualifikationsbeschreibung
der Armee gibt uns leider wenig Auskunft über Siegmund Löwy.
Er diente in der königlich-ungarischen Honved (Landwehr) Nr.
49 in der Intendanz des k. u. k. Militärkommandos Wien und wurde
als "ruhiger Charakter, sehr fleißig und als verwendbarer
Beamter"25 beschrieben. Im allgemeinen war der Anteil der jüdischen
Offiziere in der königlich ungarischen Honved sehr hoch: Einer
Untersuchung zufolge betrug er ungefähr ein Drittel. Grund dafür
war einerseits die liberalere Einstellung der Ungarn gegenüber
Juden, andererseits aber auch die soziale Zusammensetzung der Honved.
Das Offizierskorps der Landwehr rekrutierte sich vor allem aus Angehörigen
der mittleren und unteren Schichten, für die die Honved auch
das geeignete Mittel war, ihre nationale Gesinnung unter Beweis zu
stellen. Adelige und Bürgerliche der Oberschicht dienten hingegen
lieber im gemeinsamen österreichisch-ungarischen Heer, wo dann
auch der Anteil der jüdischen Offiziere entsprechend geringer
war.26
Siegmund war nicht der einzige seiner Familie, der im Ersten Weltkrieg
in der Armee diente. Sein Cousin Dr. Moritz Löwy (Sohn von Max
und Franziska Löwy), der 1890 in Gloggnitz geboren wurde, war
ebenfalls Offizier. Leider konnte von ihm keine Qualifikationsbeschreibung
gefunden werden. Laut Aussagen der Familie war er als Militärarzt
tätig, vermutlich wie sein Cousin in der königlich-ungarischen
Honved. Als talentierter Mediziner verlegte Moritz seinen Lebensschwerpunkt
allerdings schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Wien, wo er als Kinderarzt
tätig war. Nach Gloggnitz kam er nur mehr in den Ferien. 1922
heiratete er in Wien die aus Lodz stammende Dr. Franja Berlin.
Seinen Cousin Siegmund hielt es ebenfalls nicht in Gloggnitz. Noch
während des Krieges, 1917, heiratete er die aus Judenburg stammende
Olga Rosenberger. Seine Geschäftstätigkeit verlegte er nach
Wien und Klagenfurt.
Eine Tochter von Moritz Löwy, Gisela, heiratete 1909 Bela Fürst
und zog nach Subotica. Die Ehe wurde geschieden und Gisela kehrte
1916 mit ihren beiden Kindern Annie (geb. 1910) und Theo (geb. 1912)
in ihr Elternhaus nach Gloggnitz zurück.
Die Geschäfte der Eltern führten Adolf Heinrich (geb. 1887,
Sohn von Max und Franziska Löwy) und sein Cousin David (geb.
1883, Sohn von Moritz und Pauline Löwy), weiter. Adolf Heinrich
hatte wie David eine Schneiderlehre absolviert, dennoch widmeten sich
beide hauptsächlich ihren Warenhandlungen aller Art. Über
ihre Leben ist wenig bekannt, sie müssen die Geschäfte in
Ruhe und ohne großes Aufsehen weitergeführt haben, obwohl
sie sicher auch unter der wirtschaftlichen Rezension in der Zwischenkriegszeit
litten. Den Gloggnitzern galten sie als verläßliche Kaufleute,
bei denen man auch immer wieder ohne Probleme anschreiben lassen konnte.
Auffallend für die christlichen Gloggnitzer war die betonte religiöse
Haltung von Adolf.27 Ein Teil der Familie befand sich nunmehr in Wien
und kam nur mehr zu den Feiertagen und in den Ferien nach Gloggnitz.
Gerda Rosenberger-Segall (geb. 1918 in Wien), berichtet über
die Heimat ihrer Großeltern mütterlicherseits, Moritz und
Pauline Löwy:
"Ich war gerne dort. In meiner Kindheit war es mein Lieblingsplatz,
aber ich war dort nur zu Pessach. Ich verstand mich sehr gut mit
Hans Löwy, der für mich wie ein kleiner Bruder war. Theo
Fürst war mein Schwarm, er nahm mich ins Burgtheater mit, wenn
er nach Wien kam. Anna Fürst nannte mich immer wieder ihre
Lieblingscousine. Ich erinnere mich auch an meine Onkeln und Tanten.
Schwed, Sussmann, Gisela Fürst und David Löwy. Es gab
dort einen riesigen Eßtisch, wir Kinder hatten einen eigenen
Tisch. Hans und Greta [Löwy], Paul [Schwed], Gina [Sußmann,
Enkelin von Moritz Löwy] und ich. Während wir darauf warteten,
bis das Essen serviert wird, spielten wir meistens Autoren, ein
Kind nannte einen, das nächste Kind wiederholte ihn und fügte
einen hinzu, und so weiter, bis einer einen Fehler machte. Das war
lustig. Wir spielten auch Roulette und Völkerball. Bis wir
eines Tages eine Scheibe zerbrachen. Von da an wurden wir zum Spielen
zu den Reichners geschickt, wo mehr Platz war. [Enkelkinder von
David Löwy] Wir waren immer eine laute Rasselbande. Wir gingen
viel Wandern unter der Begleitung eines Erwachsenen."28
Diese Generation traf der Terror der Nationalsozialisten mit voller
Wucht. Mit dem "Anschluß Österreichs ans Deutsche
Reich wurde auch den Löwys jedwede Lebensgrundlage entzogen.
Bereits kurz nach den Märztagen verließen die Familien
Gloggnitz. Ihr Grundbesitz wurde auf Weisung der Geheimen Staatspolizei
(Gestapo) Außenstelle Wiener Neustadt unter Verwaltung der
Stadtgemeinde Gloggnitz gestellt.
Franziska und Pauline, die Mütter von Adolf und David, übersiedelten
in die Wiener Wohnung von Frieda Sipser, der Tochter von Franziska.
In der Wohnung wurde es rasch eng, da auch noch andere Familienmitglieder
dazukamen.
In den Wochen und Monaten nach dem "Anschluß" bemühte
sich die Famile verzweifelt, aus Österreich auszureisen. Die
Söhne von Franziska, Adolf, Moritz und Isidor, sowie eine der
Töchter schafften die Flucht aus Österreich. Moritz gelang
es im Jänner 1939, die USA zu erreichen. Adolf und Isidor sowie
deren Cousin David gelangten sicher nach Palästina. Adolf wurde
dort 1941 von den Engländern verhaftet und für sechs Monate
eingesperrt, weil er Flüchtlingen illegal zur Einwanderung
verholfen hatte. Alle drei blieben in Israel, wo sie auch verstarben.
Eine der Töchter von Franziska erreichte ebenfalls die USA,
das Schicksal der beiden anderen, Hilda und Frieda, ist nicht bekannt.
Theo Fürst konnte 1939 nach Topolcany, dem Geburtsort seines
Vaters in der CSR, ausreisen. Im selben Jahr gelang ihm dann die
Flucht nach Dänemark. Am 9. April 1940 wurde Dänemark
von den deutschen Truppen besetzt. Obwohl die Dänen in der
sogenannten "Verhandlungspolitik" mit Deutschland kooperierten,
gaben sie den in Dänemark befindlichen Juden und ihrem Eigentum
vollen politischen, juristischen und persönlichen Schutz. Im
September 1943 wurde über Dänemark das Kriegsrecht verhängt
und die Juden waren damit der Gefahr einer Deportation ausgesetzt.
Daraufhin rettete die dänische Bevölkerung in einer beispiellosen
Aktion innerhalb von nur drei Wochen 7200 Juden das Leben. Fischerboote
brachten die Flüchtlinge, unter ihnen Theo Fürst, in das
neutrale Schweden.
Theo Fürsts Mutter Gisela war ebenfalls nach Topolcany
geflüchtet, wurde von dort aber am 17. April 1942 in ein Konzentrationslager
in Polen deportiert und ermordet.
Für Franziska und Pauline Löwy wurde die Situation in
Wien zusehends unerträglicher. 1941 schrieb Franziska einen
verzweifelten Brief an ihren Sohn Moritz in die USA. Aus Furcht
und auf Grund der Zensur verwendete sie in ihrem Brief das Wort
"Josef" als Codewort für den nationalsozialistischen
Staat:
"Liebe Kinder! Heute werdet Ihr überrascht sein, daß
ich Euch schon wieder belästige. Ihr glaubt nicht, wie schwer
mir das fällt. Ich habe lange überlegt, ob ich das von
Euch verlangen kann. Josef kümmert sich überhaupt nicht
um mich, und da ich nun einmal leben muß, bleibt mir nichts
anderes übrig. Wie Ihr dem beigeschlossenen Dokument [wahrscheinlich
ein Formular zur Ermächtigung der Ausbezahlung einer Versicherungspolizze]
entnehmen könnt, habe ich einen Fachmann beigezogen, und wenn
Ihr Euch dazu entschließen könnt, müßt Ihr
beide für Elsa [ihre Tochter] unterschreiben. Sie hat die Versicherung
auf mich übertragen. Natürlich muß das im Beisein
eines Notars geschehen. Ich glaube, Ihr werdet mich davon profitieren
lassen. Es tut mir sehr leid, daß Ihr keinen Vorteil davon
habt. Seid mir bitte nicht böse. Aber ich kenne Euch, Ihr werdet
das gerne für mich tun. Ich bin mir sicher, daß Ihr weiter
fleißig arbeiten werdet, damit Ihr Euer Leben neu aufbauen
könnt. Bleibt vor allem gesund, dann werdet Ihr wieder frohen
Mutes sein. Ihr habt meine Briefe erhalten. Ich hätte Euch
gerne früher benachrichtigt, daß ich die Fahrkarte für
das Schiff hier durch [unleserlich] bekommen kann, das hat man mir
gesagt, gleich nachdem Ihr [unleserlich], daher haben sie mich auf
später verschoben. Ich hätte Euch gerne nicht so vielen
Sorgen und Unsicherheit ausgesetzt. Ihr wart so vorsichtig, das
Geld [für die Schiffreise] bei der Joint [Jewish Joint Distribution
Committee] zu hinterlegen. Glaubt mir, ich bin zutiefst beunruhigt.
Ich werde nun alles genau so [unleserlich] bekommen wie Elsa, auch
hoffe ich, die [erforderliche medizinische] Untersuchung [für
die Einwanderung] zu erhalten, bis dahin werde ich die Schiffsreservierung
haben. Vielleicht kann ich mit Tante Lotte gehen [bezieht sich auf
Charlotte Löwy, die Witwe von Max Löwys Cousin David.
Lotte konnte Wien sechs Monate später, im November 1941, mit
einem Visum für Kuba, verlassen]. Sie wartet noch immer auf
die Fahrkarte. Ich nehme nur Kleidung und Bettwäsche mit, denn
Ihr würdet enorme Ausgaben haben, wenn ich mehr Dinge mit aufs
Schiff nähme. Ich werde sehen, wie ich zurecht komme. Was macht
Ihr sonst? Seid Ihr sehr beschäftigt? Wie geht es den Kindern?
Bald werden Ferien sein. Ich bin so glücklich, daß meine
Sehnsucht nach Euch bald gestillt sein wird. Unsere Lieben [wahrscheinlich
bezieht sie sich auf ihre Schwägerin Pauline und auf weitere
Familienmitglieder, die noch immer in Wien festsaßen] wären
so glücklich, wenn sie die Reise eines Tages machen könnten
[einwandern]. Man kann sich vorstellen, daß es schwierig ist,
auf Eure vier Karten zu antworten [wegen der Postzensur durch die
Nazis]. Ich glaube, was die Spitzers betrifft [Fannis Schwester
Paula und deren Ehegatte Moritz], wird sich Arthur [deren Sohn]
um sie kümmern, daß sie die Fahrkarten erhalten. Sie
möchten sehr gern die Eltern [von Moritz] mitnehmen, aber das
ist nicht möglich. [Die Spitzers kamen am 27. Juli 1942 in
Auschwitz um.] Dr. Sami [Samuel Deutsch, Fannis Cousin] wird auch
nach Amerika kommen. [Er emigrierte nach Palästina.] Ist die
Familie Malvina [Name unbekannt G. M.] schon angekommen?
Ich habe gehört, daß bei Frieda alles in Ordnung ist
[Ihre Tochter, die nach Italien flüchtete]. Rosi [Name unbekannt
G. M.] hat gestern vom Konsulat erfahren, daß ihre
Papiere nicht in Ordnung sind. Sie ist verzweifelt. Sie wollte mit
uns kommen. Sie hat sogar schon die Fahrkarte bezahlt. Es tut mir
sehr leid für sie. Aber sonst sind wir alle gesund. Tante Maria
[Löwy] wird am 28. ihrem Sohn [Adolf in Schweden] nachreisen.
Hat Euch Adolf geschrieben? Nun, meine Lieben, macht Euch um diese
Sache keine Sorgen, Ihr habt schon so vieles mehr überstanden
[wahrscheinlich eine Anspielung auf ihre eigenen Schwierigkeiten
bei der Einwanderung]. Vielen, vielen Dank für alles, was Ihr
für mich getan habt. Ich umarme und küsse Euch alle. Viele
Grüße an Eure Lieben [andere Verwandte, die nach Amerika
emigrierten]. Eure Mutter."
Franziska und Pauline Löwy konnten sich nicht mehr rechtzeitig
aus der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie retten.
Im Alter von 75 (Franziska) und 78 (Pauline) Jahren wurden sie am
14. Juli 1942 von Wien nach Theresienstadt deportiert. Sie starben
an den Entbehrungen und den unmenschlichen Lebensbedingungen, die
im Lager herrschten.
Franziska und Pauline Löwy, sowie Gisela Fürst waren nicht
die einzigen Todesopfer, die die Familie zu beklagen hatte. Drei
weitere Familienmitglieder wurden ebenfalls Opfer des Nationalsozialismus.
Siegmund Löwy der Sohn von Pauline wurde in Sabac ermordet,
seine Ehefrau Olga (geborene Rosenberger) in Lodz. Katharina Kohn,
die Tochter von Simon und Maria Löwy aus Neunkirchen, mußte
ihr Leben in Auschwitz lassen. Ihr Vater starb bereits 1938 im Alter
von 84 Jahren, nachdem er von Neunkirchen nach Wien vertrieben worden
war.
Die Überlebenden waren über die ganze Welt zerstreut.
Sie waren ins neutrale Schweden, ins britischen Mandatsgebiet Palästina
oder nach Kuba geflohen, ein Teil der Familie konnte sich in die
USA retten. Aus Österreich wurden sie in die Welt vertrieben
und mußten sich als unfreiwillige Emigranten ein neues Leben
aufbauen. Mühevoll ihnen unbekannte Sprachen aneignen, um wiederum
neue Wurzeln fassen zu können.
Diese Familiengeschichte ist eine gekürzte Fassung des Kapitels
"Die Löwys. Eine Familiengeschichte", aus G. Milchram,
Heilige Gemeinde Neunkirchen. Eine jüdische Heimatgeschichte.
Wien: Mandelbaum 2000.
1 Milka Zalmon, Kulturelle Wechselbeziehungen
in den Siebengemeinden. In: Beiträge zur Geschichte
der Juden im Burgenland. Hrsg. von Shlomo Spitzer, Wien 1995. S
87.
2 Kopie Buch, fol. 30a Burgenländisches Landesarchiv Eisenstadt,
J.Z.A., Fasz. J/VII/17. Zit. nach Fritz P. Hodik, Beiträge
zur Geschichte der Mattersdorfer Judengemeinde im 18. und in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. (= Burgenländische
Forschungen. Hrsg. vom Burgenländischen Landesarchiv. Heft
65) Eisenstadt 1975. S 225.
3 Ebenda S 222.
4 Sándor Holbok, Jüdische Kindheit zwischen Tradition
und Assimilation. In: Sabine Hödl, Martha Keil (Hrsg.), Die
jüdische Familie in Geschichte und Gegenwart. Berlin, Bodenheim
bei Mainz 1999. S 127.
5 Lutz Maurer, Conrad Mautner Großes Talent. In: Juden
in Österreich. Ausgabe 2000. S 86.
6 Hodik, S 258 ff.
7 Topographie von Niederösterreich. Gloggnitz. S 205.
8 Siegfried Mattl, Die fatale Revolution. 1848. Hrsg. vom Jüdischen
Museum der Stadt Wien. Wien 1998. S 37 f.
9 Geir, "Keine Juden in der Nationalgarde!".
Zur Emanzipationsproblematik in der Wiener Revolution von 1848.
In: 1848 " Das tolle Jahr". Chronologie einer Revolution.
Hrsg. von Historischen Museum der Stadt Wien. Wien 1998. S 71.
10 Jacob Toury, Die Revolution von 1848 als innerjüdischer
Wendepunkt. In: Hans Liebeskind, Arnold Paucker (Hrsg.), Das Judentum
in der deutschen Umwelt 1800 1850. Tübingen 1977. S
375.
11 Hodik, Mattersdorf. S 249.
12 Ebenda. S 109 f.
13 Österreichisches Staatswörterbuch. 2. umgearbeitete
Auflage. Bd. 2, Wien 1905. S 18.
14 Ebenda.
15 Siehe dazu Sándor Holbok, Jüdische Kindheit zwischen
Tradition und Assimilation. In: Sabine Hödl / Martha Keil (Hrsg.),
Die jüdische Familie in Geschichte und Gegenwart. Berlin, Bodenheim
bei Mainz 1999. S 123 140.
16 Ebenda.
17 Bezirksgericht Gloggnitz, EZ 55 (Vertrag vom 25. 3. 1873).
18 Schreiben von Melitta Garbuny vom 7. Jänner 2000.
19 Festschrift 900 Jahre Gloggnitz. Gloggnitz 1994. S 20.
20 Topografie von Niederösterreich. Bd. 2, S 463.
21 Protokollbuch der Chewra Kadischa Neunkirchen, CAHJP AU/65.
22 Schreiben von Carole G. Vogel. 17. November 1999.
23 Bezirksgericht Gloggnitz, Grundbuch EZ 223.
24 Das Bundesland Niederösterreich. Seine verfassungsrechtliche,
wirtschaftliche, kulturelle und soziale Entwicklung im ersten Jahrzehnt
seines Bestandes. 1920 1930. Hrsg. von der niederösterreichischen
Landesregierung. Wien 1930. S 580.
25 Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv (KA), Quall
Kb: 1823 Siegmund Löwy.
26 Erwin A. Schmidl, Juden in der k. u. k. Armee 1788 1918.
(= Studia Judaica Austriaca XI) Eisenstadt 1989. S 62 und S 72.
27 Gespräch mit Dr. Hubert Pöschl, Gloggnitz, Dezember
1999.
28 Schreiben von Carole G. Vogel vom 17. November 1999.
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